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Machtkampf in Nahost

Analyse. Über die imperialen Ambitionen Ankaras und die Hintergründe des israelisch­türkischen Konflikts

Von Murat Çakr *

Die Türkei strotzt vor Selbstbewußtsein. Wer daran noch zweifelte, wurde während des Staatsbesuches des türkischen Präsidenten Abdullah Gül in Deutschland eines besseren belehrt. Gül sah sein Land »so einflußreich wie die gesamte EU« und unterstrich das strategische Ziel der Türkei, »globale Verantwortung zu übernehmen«. Bundespräsident Wulff pflichtete ihm bei, hob die »gewachsene internationale Verantwortung der Türkei« hervor und erklärte die Türkei zu einem »modernen und säkularen Vorbild für die arabischen Länder«.

Eigentlich hätte man mahnende Worte aus dem Mund des Bundespräsidenten erwartet. Gerade die »besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel«, welche immer vollmundig erklärt wird, hätte doch einen Kommentar zu der aktuellen israelisch-türkischen Krise und der israelfeindlichen Stimmung in der Türkei erfordert. Immerhin hatte die Regierung in Ankara noch am 2. September 2011, vor der Veröffentlichung des Palmer-Berichts der UN-Untersuchungskommission über die Vorfälle während der israelischen Erstürmung des Gazaflottillenschiffs »Mavi Marmara«, die diplomatischen Beziehungen eingefroren und ihre Anti-Israel-Rhetorik verschärft.

Wechselvolle Beziehung

Auch in den gängigen Medien wurde die Türkei hochgelobt. Man war sichtlich bemüht, dem NATO-Partner viel Honig um den Mund zu schmieren. ARD-Korrespondent Reinhardt Baumgarten schalt gar in einem Interview in der Tagesschau am 20. September 2011 die israelische Presse, weil diese geschrieben habe, »die Türkei hat eine islamistische Regierung«, was seiner Auffassung nach »reiner Unsinn« wäre. Noch vor Tagen war der Tenor in den deutschen Medien ein anderer: Man konnte besorgte Kommentare lesen und Äußerungen von Politikern verfolgen, die mit erhobenem Finger die Frage stellten: »Die Türkei wird sich doch nicht vom Westen entfernen?«

Dabei waren Israel und die Türkei einander so nah wie »Zwillingsgeschwister«. Zwischen sie paßte kein Blatt Papier. Nun erhoben die Regierungen gegenseitig schwere Vorwürfe und erklärten einander den diplomatischen Krieg. Warum? Was sind die eigentlichen Hintergründe? Welche Rolle spielen die USA und deren Interessen in der Region? Und sind die Neo-Osmanen aus Ankara dabei, die Führung der islamischen Welt zu übernehmen?

Lange Zeit galten Israel und die Türkei als strategische Partner. Diese Partnerschaft wurde noch 1998 mit einem gemeinsamen Manöver der israelischen, türkischen und US-Streitkräfte um die Vereinigten Staaten erweitert. Doch die von der AKP (»Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung«) geführte Regierung, die 2002 an die Macht kam, änderte die türkische Strategie in dieser Allianz.

Mit den islamistischen Haltungen innerhalb der AKP hatte das allerdings nichts zu tun, sondern damit, daß das verkrustete militärisch-bürokratische Vormundschaftsregime der Türkei nicht mehr den Anforderungen der Neuordnung des Nahen Ostens genügte.

Sicherlich war das Regime der uniformierten Kapitalisten, der türkischen Generalität, lange für die Verteidigung der US-Interessen in der Region nützlich. Immerhin hatten sie den Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung dazu nutzen können, um die zweitstärkste Armee der NATO zu modernisieren. Und dafür war die militärische Kooperation mit Israel ein wichtiges Instrument.

Schon in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten die USA israelische und türkische Eliten zur Zusammenarbeit motiviert. Dadurch konnte 1958 ein israelisch-türkisches Abkommen zur strategischen Zusammenarbeit unterschrieben werden, das jedoch nicht lange Bestand hatte. In den 1960er Jahren beeinflußten die Zypern-Frage und die Abhängigkeit vom arabischen Öl die türkische Außenpolitik. Deshalb hatte die Türkei ihre Beziehungen zu Israel ab 1966 zurückgefahren und stellte sich als Verteidigerin von palästinensischen Interessen dar. Das änderte sich erst am 12. September 1980, als die Militärs mit einem Putsch die Macht an sich rissen. Der »Kalte Krieg«, die iranische Revolution und die strategischen Interessen des Westens machten eine intensivere israelisch-türkische Kooperation notwendig. Die von Höhen und Tiefen gekennzeichnete Geschichte der israelisch-türkischen Beziehungen [1] sollte erst 2011 eine neue Wendung bekommen.

Stück vom Kuchen

Mit der AKP-Regierung begann die neuerliche Erfolgsgeschichte der Türkei. Nach der Finanzkrise 2001 hatte die damalige Ecevit-Regierung mit Unterstützung des IWF und der Weltbank rigide Maßnahmen ergriffen, deren »Früchte« von der AKP geerntet wurden. Der Prozeß der Annäherung an die EU, hohes Wirtschaftswachstum, G-20-Mitgliedschaft und die wachsende strategische Rolle des Landes als Energieumschlagplatz stärkten der AKP den Rücken. Sie war auf dem besten Weg, die neue Staatspartei zu werden.

Zudem war es ihr gelungen, die neoliberale Wirtschaftspolitik mit islamischen Referenzen zu legitimieren und die Unterstützung der NATO-Kriege in der islamischen Welt als »Notwendigkeit einer muslimischen Außenpolitik« von ihrer Wählerschaft akzeptieren zu lassen. Mit ihrer »passiven Revolution« war die Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan dabei, systematisch ihre gesellschaftliche Hegemonie aufzubauen.[2] Die Legende vom »gemäßigten Islam, der Religion und Demokratie miteinander verbinden kann«, war geboren.

Durch die wachsende Wählerunterstützung konnte die AKP beginnen, die Armeeführung neu zu formieren und ihren Einfluß zurückzudrängen. Dabei wurde sie von den jeweiligen US-Regierungen tatkräftig unterstützt. Sie setzte mit ihrer Parlamentsmehrheit die Abkehr von der bisherigen Militärdoktrin durch. Und nach 2007, mit dem zweiten Wahlsieg der AKP, wurde der Machtkampf im Staat verschärft.

Die Türkei war dabei, eine Regionalmacht zu werden, und bemühte sich als »Vermittlerin« in den regionalen Konflikten. Zugleich richtete sie ihre Außenpolitik imperial aus und machte sich daran, ihr »Stück vom Kuchen« einzufordern.

Im Inland machte diese Ausrichtung der Außenpolitik den Aufbau eines militarisierten Polizeiapparats, die Gleichschaltung der Justiz und die Unterordnung der Armeeführung notwendig. Nach außen galt fortan die Devise: »Keine Probleme mit den Nachbarn.« Überall bemühte sich die Türkei bei regionalen Konflikten als Vermittlerin aufzutreten und so ihre Vormachtansprüche zu rechtfertigen.

Auch im israelisch-syrischen Konflikt wollte sich Premier Recep Tayyip Erdogan als Mediator profilieren. Immerhin hatte die Türkei sogar zum Iran sowie den »Erzfeinden« Armenien und Griechenland gute Beziehungen aufgebaut. Es war jedoch vorauszusehen, daß die Ambitionen der Türkei von Israel nicht gutgeheißen werden konnten. So lehnte Ende 2008 der damalige israelische Ministerpräsident Ehud Olmert bei seinem Staatsbesuch in der Türkei den Vorschlag Erdogans ab, die Hindernisse für Friedensverhandlungen »persönlich zu beseitigen«. Am nächsten Tag griff die israelische Armee Gaza an.

Diplomatische Eiszeit Die Operation »Gegossenes Blei« wurde in Ankara als israelische Antwort auf die Ansprüche der Türkei interpretiert. In den israelisch-türkischen Beziehungen begann eine »Eiszeit«. Dabei konnte man in den vergangenen Jahren beobachten, wie der Ton aus Ankara immer schärfer wurde.

Am 30. Januar 2009 gipfelte die Krise in einem Eklat während des Weltwirtschaftsgipfels in Davos. Erdogan hatte während der Diskussion mit dem israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres erzürnt das Podium verlassen. Noch in der Nacht wurde er in der Türkei von Tausenden Anhängern begeistert empfangen, was manche Kommentatoren dazu verleitete, Erdogans Wutausbruch als »innenpolitische Propagandaak­tion« zu bewerten.

Doch all das hatte keine Folgen für die Beziehungen der beiden Länder. Besonders der militärischen Zusammenarbeit tat sie keinen Abbruch. Im Gegenteil, Israel erhielt mehr Aufträge als früher, und die geheimdienstliche Kooperation wurde sogar vertieft.

Selbst angesichts der öffentlichen Erniedrigung des türkischen Botschafters am 11. Januar 2010 in Israel und später der Erstürmung der »Mavi Marmara«, bei der neun Menschen ums Leben kamen, wurde der logische nächste Schritt nach der verschärften Anti-Israel-Rhetorik, nämlich der Abbruch der Beziehungen, nicht vollzogen. Die AKP-Regierung kündigte vorerst die »Überprüfung« der bestehenden Abkommen an und sagte die anstehenden gemeinsamen Militärmanöver ab. Noch war die Zeit nicht reif – eine Erklärung des Generalstabes der türkischen Streitkräfte erklärt, warum [3]: »Die modernisierten F4- und F5-Jets sowie unsere M60-Panzer benötigen weiterhin Gerätelieferungen aus Israel. Daher ist die militärische Zusammenarbeit unbedingt aufrechtzuerhalten.«

Noch war die alte Garde des Regimes, die kemalistische Generalität, aus strategischen Gründen gegen den Abbruch der Beziehungen. Doch mit dem Rücktritt der obersten Generäle im August 2011 sind auch die letzten Hindernisse weggefallen. Den imperialen Gelüsten der Neo-Osmanen konnte jetzt freier Lauf gegeben werden. Mit der Veröffentlichung des Palmer-Berichts am 1. September 2011 in der New York Times wurde dann der Start für die Eskalation gegeben.

Vom Westen abhängig

Doch nicht alles ist so, wie es scheint. Die aktuelle israelisch-türkische Krise ist das Ergebnis einer Entwicklung, die voller Widersprüche zu sein scheint. Es ist notwendig, die Medaille von allen Seiten zu betrachten.

Die eine Seite dieser Medaille ist, daß beide Staaten durch ihre spezifische Situation verbunden sind. Zum einen sind sie atypische Nahoststaaten. Sie sind »anders«. Während Israel als ein »europäischer« Staat angesehen wird, ist die Türkei – mehr oder weniger – eine moderne Republik, die nie Teil der arabischen Welt war.

Zudem sind die Grundinteressen beider Staaten, was ihre territoriale Einheit und nationalstaatliche Existenz betrifft, deckungsgleich. Während die Kurdenfrage die Achillesferse der Türkei ausmacht, ist Israel dabei, sich wegen seines Umgangs mit den Palästinensern völlig zu isolieren.

Zum anderen sind beide Staaten vom Westen abhängig. Ohne die ausländische Kapitalzufuhr wären ihre Ökonomien am Ende. Die enge Verbundenheit mit der NATO, den USA und Kerneuropa ist für Israel und die Türkei Staatsräson, die Unterstützung und die Einbindung in die globalen Strategien des Westens eine Konstante ihrer Außenpolitik. Ein Ausscheren aus dem politischen Koordinatensystem des Westens kommt für beide Staaten nicht in Frage.

Deshalb werden die Protagonisten der AKP-Regierung nicht müde zu betonen, daß sie »gegen diese israelische Regierung, aber nicht gegen den israelischen Staat agieren«.[4] Insofern kann konstatiert werden, daß die aktuelle Krise eine zwischen den Regierungen beider Länder ist und keine zwischen den Staaten an sich. Israel und die Türkei sitzen im selben Boot auf gefährlichen Gewässern – keiner von ihnen kann es sich leisten, einseitig das Boot zu verlassen.

Für diese Krise gibt es mehrere Gründe. Einer davon ist die israelische Regierung selbst. Die Vereinigten Staaten sind mit den Hardlinern in Jerusalem unzufrieden. Die Signale aus Washington belegen, daß die US-Regierung mit der Netanjahu-Lieberman-Koalition die Stabilität der Region, somit die eigenen strategischen Interessen gefährdet sieht. Doch ihr sind die Hände gebunden, da die innenpolitische Entwicklung Präsident Barack Obama handlungsunfähig macht.

Hier kommt die AKP ins Spiel: Sie setzt auf die schwache Position der israelischen Regierung und will beweisen, daß die Türkei der bessere Stabilisierungsfaktor somit der potentere strategische Partner des Westens in der Region ist. Dabei ist sie sich der Unterstützung der US-Regierung sicher, zumal Erdogan bewiesen hat, daß er der einzige Regierungschef ist, der öffentlichkeitswirksam Israel die Stirn bieten kann und trotz der Sympathien in der arabischen Ländern zur Verteidigung der US-Interessen bereitsteht.

Inzwischen ist längst entschieden, Ankara den Vorzug zu geben. So soll beispielsweise der NATO-Raketenschirm in der Türkei stationiert werden. Die Türkei ist willig und fähig, an allen Auslandseinsätzen teilzunehmen und verfügt über hervorragende Kontakte in der islamischen Welt, die durch die Konfrontation mit Israel immer mehr intensiviert werden. So gesehen ist die Türkei der perfekte Partner für die Durchsetzung der Interessen der USA.

Hier decken sich die strategischen Ziele beider Staaten. Für die Begehrlichkeiten der Türkei und für die an regionaler Stabilität interessierte US-Regierung ist die Netanjahu-Lieberman-Koalition ein Störfaktor geworden. Die USA sind nicht in der Lage, den Druck auf Netanjahu zu erhöhen, als nimmt Erdogan diese Aufgabe wahr.

Feigenblatt Israel-Kritik

Doch der wichtigste Grund für diese Krise ist das Bestreben der Türkei, die Führung in der Region übernehmen zu wollen. Das Land will das Machtvakuum, welches durch die jüngsten Entwicklungen in den arabischen Ländern entstanden ist, füllen und nutzt dabei die antiisraelische Karte. Ohne Frage, die derzeitige israelische Regierung macht es Erdogan mit ihrer sturen Haltung und ihren unverzeihlichen politischen Fehlern einfach, diese Karte auszuspielen.

Ob mit einer anderen Regierung alles anders verlaufen würde, mag Spekulation sein. Womöglich wäre die jetzige Eskalationsstufe nicht erreicht worden. Nun, dem ist nicht so, und die Türkei profitiert in mehrfacher Hinsicht aus dieser Krise.

Die antiisraelische Positionierung verdeckt erstens die Brisanz der Stationierung des NATO-Raketenschirms in der Türkei. Zwar wird zurzeit nur das Radarsystem installiert, aber türkische Zeitungen berichten schon von geplanter Stationierung von weiteren strategischen Waffensystemen, die gegen den Iran gerichtet werden sollen. Mit der antiisraelischen Haltung kann die zu erwartende Kritik, die Türkei diene nur den NATO- und West­interessen, am einfachsten abgewehrt werden.

Zudem läßt die aggressive Anti-Israel-Rhetorik die Türkei in den arabischen Gesellschaften, in denen Erdogan besonders viele Sympathien gewinnen konnte, in einem glanzvolleren Licht erscheinen. Die AKP ist sich bewußt: Ohne die Sympathie der arabischen Gesellschaften kann sich die Wirkung ihrer imperialen Politik nicht entfalten. Ohne Israel-Gegnerschaft keine Sympathien und ohne diese keine Meinungsführerschaft – so simpel kann Machtpolitik funktionieren.

Zu dieser gehört auch die Auseinandersetzung um die vermuteten Erdgasreserven im östlichen Mittelmeer. Berichten zufolge sollen sich in dem sogenannten Levente-Becken rund 3,5 Billionen Kubikmeter Erdgas befinden. Die unklar definierten Wirtschaftszonen im UN-Seerechtsabkommen von 1982 komplizieren den Streit im östlichen Mittelmeer. Dabei führt die aktuelle israelisch-zypriotische Kooperation bei der Ausbeutung der Erdgasreserven zusätzlich zum Säbelrasseln in Ankara.

Am 22. September 2011 machte Erdogan in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung deutlich, daß er weder von seiner Anti-Israel-Politik noch von den Ansprüchen im Mittelmeer abrücken wird. Mehr noch: Am gleichen Tag erklärte er in einem Fernsehinterview dem Journalisten Charlie Rose: »Wenn es notwendig sein sollte, werden wir israelische Angriffe als einen Kriegsgrund ansehen.« In Ankara wiederum trat sein Minister für Energie und Rohstoffe vor die Presse und erklärte, daß »morgen unser Forschungsschiff »Pirî Reis« ins östliche Mittelmeer stechen« werde. Derzeit patrouilliert dort die türkische Marine mit mehreren Kriegsschiffen und U-Booten.

Die Türkei meint es ernst und scheint zu glauben, daß sie für den »Ernstfall« gut gerüstet ist. Gleichzeitig versucht sie sich mit dieser Zurschaustellung ihrer militärischen Fähigkeiten als der stärkste Bewerber für die Verteidigung der Interessen der USA zu profilieren.

Der aktuelle israelisch-türkische Konflikt muß im Zusammenhang mit den Veränderungen im Mittelmeerraum und im Nahen Osten, den strategischen US-Interessen, dem regionalen Kampf um die Ausbeutung der Erdgasvorkommen und den Vormachtansprüchen der Türkei betrachtet werden. Nicht vergessen werden sollte, daß trotz dieses Konflikts beide Staaten immer noch aufeinander angewiesen sind und auf der gleichen Seite stehen. Die Anti-Israel-Rhetorik Erdogans kann nicht darüber hinwegtäuschen.

Aus türkischen Regierungskreisen hört man immer wieder die Betonung, daß man zwischen der israelischen Regierung und Israel als Staat unterscheiden müsse. Für die türkische, aber auch für die US-Regierung stellt die Netanjahu-Lieberman-Koalition ein Problem dar, welches jedoch nur in Israel und von israelischen Wählern gelöst werden kann. Möglich ist, daß die sozialen Proteste der letzten Wochen in Israel vielleicht den Beginn eines Prozesses hin zum Regierungswechsel markieren. Ob damit aber auch ein Politikwechsel verbunden sein wird, was den Israelis zu wünschen wäre, ist offen.

Neo-osmanische Ziele

Offen ist ebenso, ob es der Türkei gelingen wird, die Meinungsführerschaft in der islamischen Welt zu übernehmen. Die hohen Sympathiewerte Erdogans sind konjunkturbedingt und sollten daher nicht als Maßstab genommen werden. Die osmanische Herrschaft ist keineswegs vergessen, selbst wenn »der westliche Kolonialismus und seine neokolonialistische Fortsetzung das osmanische Joch im arabischen Geschichtsbewußtsein in einem milderen Licht erscheinen lassen«.[5] Es mag auch für westeuropäischen Ohren sympathisch klingen, wenn Erdogan den türkischen Weg und den Laizismus türkischer Prägung den arabischen Gesellschaften zur Nachahmung empfiehlt. Applaus ist ihm sicher, mehr aber nicht.

Denn auch in den arabischen Ländern wird Erdogans Handeln mißtrauisch verfolgt. Zu offensichtlich ist das neo-osmanischen Streben nach Hegemonie, und vergessen ist auch nicht, daß der scharfen Rhetorik nach dem Angriff auf die »Mavi Marmara« keine entsprechenden Schritte erfolgten. So wirft auch die Behandlung Syriens durch die Türkei kein gutes Licht auf deren Premier. Nicht zu übersehen ist zudem die Tatsache, daß Ägypten keineswegs gewillt sein wird, die zweite Geige zu spielen. Außerdem hat Erdogan mit seiner Laizismusäußerung bei der Muslimbruderschaft, einer einflußreichen Kraft in Ägypten, viele Punkte verloren.

Selbst wenn die arabische Welt sich den Neoosmanen unterordnen sollte, so kann die Achillesferse der Türkei mit einem Schlag imperiale Pläne zunichte machen. Der offen ausgesprochene Wahnsinnsplan, das Kurdenproblem nach dem Vorbild des Massenmords an den Tamilen in Sri Lanka mit massiver militärischer Gewalt lösen zu wollen und die Trunkenheit der Machtphantasien machen die AKP blind. Denn weder ist Kurdistan mit Sri Lanka noch die kurdische mit der tamilischen Bewegung vergleichbar. Ein neuer Krieg in Kurdistan hätte das Potential, die gesamte Re­gion mit einem Flächenbrand zu überziehen.

Wie dem auch sei, eines steht fest: Die impe­riale Ausrichtung der türkischen Politik dient keineswegs dem Frieden in der Region. Vielleicht wird der israelisch-türkische Konflikt mit einem Regierungswechsel in Israel enden. Aber solange Israel und die Türkei an ihrer bisherigen Politik festhalten, werden sie ihren eigenen Gesellschaften und dem gesamten Nahen Osten keinen Dienst erweisen.

Anmerkungen
  1. Zur Geschichte der israelisch-türkischen Beziehungen, siehe: murat-cakir.blogspot.com/2011/09/der-scheidungskrieg.html
  2. Siehe auch: murat-cakir.blogspot.com/2011/07/von-der-akp-hegemonie-zur-akp-diktatur.html
  3. Siehe: Berichterstattung der Tageszeitung Taraf vom 17. Juni 2010
  4. Am 13. September 2011 haben Erdogan und sein für EU-Beziehungen zuständiger Minister Egemen Bagis dies noch mal unterstrichen. Bagis im Fernsehsender CNN-Türk: »Wir stellen unsere Forderungen an die Adresse der israelischen Regierung, nicht den Israelis oder dem israelischen Staat.« Ähnliches sagte auch Erdogan ein paar Stunden später auf einer Pressekonferenz in Kairo
  5. Werner Pirker, »Neo-Osmanen«, in: junge Welt vom 15. September 2011
* Murat Çakr (andere Schreibweise: Cakir) ist Kolumnist der türkisch- und kurdischsprachigen Tageszeitung Özgür Gündem sowie Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Frankfurt am Main.

Aus: junge Welt, 4. Oktober 2011



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