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Der Scheidungskrieg

Über die Hintergründe der aktuellen israelisch-türkischen Krise

Von Murat Çakır

Die Reaktion der türkischen Regierung auf den Palmer-Bericht der UN vom 3. September 2011 ist ungewöhnlich, aber wie erwartet heftig ausgefallen. Einen Tag vor der Veröffentlichung des Berichts erklärten zeitgleich der Staatspräsident Abdullah Gül (O-Ton: »Dieser Bericht ist für uns nicht existent«), der Premier Recep Tayyip Erdogan und der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu ihre Ablehnung. Der israelische Botschafter wurde des Landes verwiesen und der türkische Botschafter in Israel zurückberufen.

Den Zeitungsberichten zufolge war der Bericht der Untersuchungskommission unter der Leitung des ehem. Ministerpräsidenten Neuseelands Geoffrey Palmer über die Ereignisse während der Erstürmung der Gazaflottillen-Schiffs Mavi Marmara eigentlich schon vor Wochen fertig. Doch mit der Veröffentlichung wartete man ab, weil damit die Hoffnung verbunden wurde, Israel und die Türkei könnten sich am Ende noch einigen.

Es stellte sich heraus, dass diese Hoffnung ein Trugschluss war. Die Türkei bestand darauf, dass Israel sich entschuldigen, Entschädigungsgeld an die Opfer zahlen und die Blockade des Gaza-Streifens aufheben müsse. Außenminister Davutoglu erklärte sodann am 2. September 2011 die Maßnahmen, welche bis zur Erfüllung dieser Forderungen aufrecht erhalten würden. Diese sind:
  • Die diplomatischen Beziehungen werden eingefroren. Der Botschafter und Botschaftsangehörige, bis auf einen stellv. Geschäftsträger, werden binnen zwei Tagen zurückgeholt;
  • Sämtliche militärische Abkommen zwischen der Türkei und Israel werden eingefroren;
  • Als das Land, das im östlichen Mittelmeer die längste Küste besitzt, wird die Türkei alle Maßnahmen für eine freie Schifffahrt ergreifen;
  • Die Türkei erkennt die israelische Blockade des Gaza-Streifens nicht an. Bezüglich des seit dem 31. Mai 2010 von Israel durchgeführten Embargos wird der Internationale Gerichtshof angerufen. In diesem Zusammenhang werden Initiativen ergriffen, um die UN-Generalversammlung zu weiteren Schritten zu bewegen;
  • Alle türkischen und ausländischen Opfer des israelischen Angriffs werden bei ihrer Rechtssuche vor Gericht unterstützt. [1]
Die internationale Presse horchte auf, das Handeln der türkischen Regierung wurde nun aufmerksam verfolgt. Die Sprecherin des US-Außenministeriums Victoria Nuland äußerte das »große Besorgnis der USA« [2] über die Verschärfung in den israelisch-türkischen Beziehungen. Am 6. September 2011 wies Financial Times auf die möglichen Folgen der israelisch-türkischen Krise hin und kommentierte, dass »die Neuausrichtung der türkischen Politik alsbald Ägypten und Jordanien beeinflussen« könne und »Israel ihren wichtigsten Partner in der Region verloren« habe. [3] Die Zeitung unterstrich zudem: »Was den Einfluss in der Region angeht, ist Iran der größte Konkurrent beider Länder. Wenn im Endergebnis der einzige Sieger in diesem Konflikt Iran heißen sollte, werden weder die Türkei, noch Israel einen Nutzen haben«. Der ehem. Israelische Botschafter in Ankara Alon Liel kommentierte, dass »wenn Erdogan den Gaza-Streifen besucht, dann wird in der Diplomatie der Region ein dramatischer Richtungswechsel erfolgen«. [4] Der türkische Premier machte noch am 9. September 2011 deutlich, dass »die Türkei mit Entschiedenheit an ihren Forderungen festhalten« werde.

Israelische und türkische Kommentatoren sprechen von einer »Eiszeit« zwischen den beiden Staaten und positionieren sich sehr unrühmlich in diesem Scheidungskrieg. Dabei waren Israel und die Türkei sich so nah wie »Zwillingsgeschwister« (Haluk Gerger). Was als rhetorischer Schlagabtausch auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos 2009 zwischen Erdogan und Simon Peres begann, hat sich zu einer handfesten Krise entwickelt, der den gesamten Nahen Osten beeinflussen könnte. Warum? Was wird jetzt folgen? Was sind die eigentlichen Gründe und welche Dynamik könnte diese Krise noch bekommen? Welche Rolle spielen die USA und die US-Interessen in der Region? Sind die Neoosmanen dabei, die Führung der islamischen Welt zu übernehmen? Auf diese und weitere Fragen sollen mit diesem Artikel Antworten gesucht werden. Aber vorher ist es sinnvoll, einen Rückblick auf die Entwicklung der israelisch-türkischen Beziehungen zu werfen.

Geschwister im Geiste – von Anfang an

Die Türkei war eines der ersten Länder – das erste muslimische Land überhaupt –, die Israel anerkannt haben. Die Anerkennung Israels durch die Türkei erfolgte am 28. März 1949. Im Jahr 1950 begannen mit der gegenseitigen Ernennung von Botschaftern die diplomatischen Beziehungen. Der damalige türkische Außenminister Necmettin Sadak musste diesen Schritt gegen kritische Stimmen im Lande verteidigen: »Die türkisch-israelischen Beziehungen entsprechen den nationalen Interessen der Türkei und bilden gegen Gefahren, welche die territoriale Einheit unseres Landes bedrohen, eine gute Grundlage«. [5] Für die Entscheidungsträger in beiden Staaten waren zudem ähnliche spezifische Lagen allzu deutlich, so dass ein gegenseitiges Verständnis möglich war: Schon 1948 war es nicht möglich, die Türkei als nur einen Nah-Ost-Staat zu bezeichnen. Die Türkei hatte und hat eine Scharnierfunktion zwischen der westlichen und islamischen Welt. Um es mit Charles de Gaulle zu sagen: »sie ist die Herrin der beiden Meeresengen und der Pforte in den Nahen Osten«. Einer Pforte, die die Wege nach Europa, dem Balkan, zum Schwarzes Meer, Kaukasus sowie Nahen Osten und zurück eröffnet und irgendwie ein Teil von allen ist. Sie ist »anders«.

Das »anders sein« gilt auch für Israel, aber in einem anderen Format. Israel ist zwar ein Staat im Nahen Osten, wird aber von den übrigen Ländern des Nahen Ostens nicht als solcher anerkannt. Obwohl Israel gleichzeitig politisch wie kulturell immer mehr nahöstlicher wird, wurde und wird es als ein »europäischer« Staat angesehen und positioniert sich im politischen Koordinatensystem des Westens.

Diese spezifische Lagen und die vielfältigen Identitäten gehörten und gehören zu den eigentlichen Gründen der Annäherung beider Staaten. Dennoch waren, und werden heute mehr denn je, die israelisch-türkischen Beziehungen von der Palästina-Politik Israels bestimmt.

So war es kein Zufall, dass die Türkei während des ägyptisch-israelischen Kriegs von 1956 ihren Botschafter Sevket Istinyeli zurückzog und erklärte, dass bis zur Lösung der Palästina-Frage keine Botschafter mehr entsandt würden.

Ein wesentlicher Grund dafür war die innenpolitische Stimmung in der Türkei. Die israelisch-türkischen Beziehungen waren von den militärisch-bürokratischen Eliten aufgebaut worden und eine zivilgesellschaftliche Annäherung nie angedacht gewesen. Obwohl die jüdische Gemeinde in der Türkei immer ein höheres Ansehen genoss als die übrigen nichtmuslimischen Minderheiten, waren antisemitische Grundhaltungen in der muslimischen Mehrheitsbevölkerung weit verbreitet (und sind es bis heute noch). Die stärker werdenden konservativ-muslimischen Kräfte drängten die am 14. Mai 1950 gewählte Menderes-Regierung zur verstärkten Zusammenarbeit mit den arabischen Ländern. Der ägyptisch-israelische Krieg war dann der Anlass, diesen Druck zu erhöhen. Israel, das sich immer von Feinden umzingelt sah, war bemüht, ihre Beziehungen zu nichtarabischen Ländern aufzubauen. Aus diesem Grund sollten die Beziehungen mit Iran und Äthiopien sowie der Türkei verbessert werden. Zudem wurden mit den maronitischen Christen im Libanon sowie den KurdInnen und AramäerInnen im Irak neue Verbündete gefunden.

Die Menderes-Regierung hatte wie Israel, enge Beziehungen zu den USA aufgebaut und die US-Administration drängte beide Staaten zur Kooperation. So unterschrieben am 29. August 1958 in Ankara der israelische Ministerpräsident David Ben Gurion und der türkische Premier Adnan Menderes [6] ein Kooperationsabkommen. Demzufolge sollte Israel die türkische Landwirtschaft unterstützen und die Türkei Israels Luftwaffe erlauben, in der Türkei Übungsflüge zu absolvieren.

Das Auf und Ab der Beziehungen

In den folgenden acht Jahren wurden die Beziehungen intensiviert und mehrere wirtschaftliche, aber vor allem militärische Kooperationen begonnen. Doch die Zypern-Frage wurde in den 1960er Jahren für die Türkei und somit für die Beziehungen zu Israel, zu einem immer größeren Problem.

Laut dem Garantieabkommen von 1960 war die Türkei für die Sicherheit der türkischen Zyprioten zuständig. Die blutigen Ereignisse von 1963 auf der Insel waren von den türkischen Entscheidungsträgern als ein Affront aufgefasst worden. Das türkische Militär bereitete sich auf eine Invasion der Insel vor, die am 7. Juni 1964 beginnen sollte. Ein bitterböser Brief des US-Präsidenten Johnson an den türkischen Premier Ismet Inönü am 5. Juni 1964 jedoch beendete die Vorbereitungen. Der »Johnson-Brief« führte die auf der Truman Doktrin vom 12. März 1947 beruhenden Beziehungen kurzfristig in eine tiefe Krise, die mit dem Besuch Inönüs am 21. Juni 1964 in Washington beendet werden konnte. Aufgrund der Entwicklungen in Zypern suchten die türkischen Entscheidungsträger Unterstützung in der arabischen Welt. Daher wurden 1966 die Beziehungen zu Israel auf ein Minimum zurückgefahren. Nun begann die Türkei sowohl in der Region als auch auf der internationalen Bühne sich zugunsten der Palästinenser einzusetzen.

Nach dem Sechstage-Krieg in 1967 forderte der türkische Außenminister Ihsan Sabri Caglayangil Israel demonstrativ auf, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen. Während des Sechstage-Krieges lehnte die türkische Regierung die Benutzung des US-Stützpunktes Incirlik, von dem aus US-Jets Israel zu Hilfe eilen sollten, ab. Auch sechs Jahre später, 1973 wurde das Ersuchen der USA, von Incirlik aus Jets fliegen zu lassen, abgelehnt. Gleichzeitig aber erlaubte die Türkei der Sowjetunion die Nutzung ihres Luftraums für Militärtransporte in die arabischen Länder. Und 1975 wurde die Resolution 3379, die von der UN-Generalversammlung angenommen und mit der besagt wurde, dass »der Zionismus eine Form des Rassismus und der Rassendiskriminierung« sei, von der Türkei unterstützt.

Die erneute Annäherung

Die Tatsache, dass die Türkei – auch wegen der eigenen osmanischen Geschichte – von den arabischen Ländern mit ihrem Führungsanspruch nicht anerkannt wurde und die erhoffte Unterstützung in der Zypern-Frage nicht über Absichtserklärungen hinausging, führte zu einer Entzauberung dieser Strategie. Die untereinander zerstrittenen und von Despoten regierten arabischen Länder konnten die türkischen Erwartungen nicht erfüllen.

Mit Unterstützung der USA ergriffen am 12. September 1980 die türkischen Generäle gewaltsam die Macht. 1979 waren nach der iranischen Revolution die Mollas an die Macht gekommen und verfolgten eine, den türkischen Interessen widersprechende Außenpolitik. Der Türkei und auch Israel war ein potenter Partner abhanden gekommen.

Die Militärjunta verfestigte eine neoliberale Wirtschaftspolitik, eine repressive Innen- und eine den NATO-Interessen entsprechende Außenpolitik. Aktuell war zu dieser Zeit auch die »Armenische Frage«. Die Junta heuerte rechtsradikale Killer an, um in Europa tätige Funktionäre der armenischen Untergrundorganisation ASALA zu exekutieren. Die türkische Generalität setzte das »Gladio-Konzept« der NATO umfassend um. Als Israel 1982 in den Libanon einmarschierte und Informationen aus den ASALA-Camps in Libanon der türkischen Junta weitergab, begann das gegenseitige Vertrauen wieder zu wachsen. 1982 wurde dann der als Israelfreundlich bekannte Diplomat Ekrem Güvendiren als Geschäftsträger nach Israel entsandt. [7]

Die 1980er und 1990er Jahre können durchaus als das »goldene Zeitalter« der israelisch-türkischen Beziehungen, deren Motor die westlichen Strategien waren, bezeichnet werden. Besonders die jüdischen Organisationen in den USA förderten die Kooperation zwischen Israel und der Türkei. 1989 wurde deren Einfluss in der US-amerikanischen Politik deutlich: die American Israel Public Affairs Committee AIPAC und Jewish Institute for National Security Affairs waren wesentlich daran beteiligt, als 1989 im US-Senat eine Resolution zur Anerkennung des Völkermords an ArmenierInnen abgelehnt wurde. [8] Schon 1999, als es immer mehr deutlich wurde, dass die Türkei eines der wichtigsten Energieumschlagsplätze der Welt sein würde, erklärte Israel bei der Unterschriftszeremonie über das Abkommen des Pipelines Baku-Tiflis-Ceyhan, welches unter der Schirmherrschaft des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton von Aserbaidschan, Georgien und der Türkei unterschrieben wurde, seine Unterstützung für dieses Projekt.

Die türkischen Entscheidungsträger sahen das Nutzen der engen Zusammenarbeit mit Israel. Nach zahlreichen gegenseitigen Besuchen von verschiedenen Ministern, wurden ab 1991 die Beziehungen wieder auf der Botschafterebene fortgeführt. Zeitgleich wurde aber auch für die Vertretung in Palästina ein türkischer Botschafter bestellt. Denn gerade für die arabischen Länder war die militärische Zusammenarbeit ein Anlass zur Sorge. 1994 hatten die Luftwaffen beider Länder ein Abkommen über die Zusammenarbeit der Pilotenausbildung unterschrieben und zwei Jahre später, 1996, ein umfangreiches Abkommen über militärische Zusammenarbeit. Eigens dafür war der Oberbefehlshaber der türkischen Armee, Ismail Hakki Karadayi nach Israel gereist. Auch der damalige Staatspräsident Süleyman Demirel reiste nach Israel und unterzeichnete mehrere Wirtschaftsabkommen.

Israel übernahm die Modernisierung der türkischen F-4 Jets. Die Übungsflüge israelischer Piloten im türkischen Luftraum, speziell über Konya, wurden intensiviert. Eine gemeinsame strategische Arbeitsgruppe wurde eingerichtet und die geheimdienstliche Kooperation verstärkt. Gemeinsame Militärübungen wurden abgehalten.

Die militärische Zusammenarbeit war für beide Seiten sehr fruchtbar. Israel erhielt weitere Aufträge, so u. a. für die Modernisierung der F-5 Jets sowie für die Lieferung von Phyton-4-Raketen, Popey-Luft-Boden-Raketen, Marschflugkörper, Arrow-Antiraketen-Raketen und Nachtsichtgeräte für türkische Kampfhubschrauber. Die türkische Generalität konnte dadurch den Rückgang der US-Rüstungslieferungen kompensieren und die Armee schlagkräftig modernisieren. Unterstützt und gefördert wurde die israelisch-türkische Partnerschaft von der US-Administration. Diese Partnerschaft wurde 1998 durch ein gemeinsames Militärmanöver dann als strategische Partnerschaft zwischen Israel, Türkei und den USA deklariert.

Im Mai 1997 nahmen Israel und die Türkei die syrische Führung ins Visier. Die Verteidigungsminister der Türkei Turan Tayan und Israels Itzhak Mordechai warfen gemeinsam Syrien die »Unterstützung des Terrorismus« vor. Der erhöhte Druck führte auch dazu, dass die Führung in Damaskus schließlich den Kurdenführer Abdullah Öcalan zwang, das Land zu verlassen. Öcalan wurde nach einer Odyssee über verschiedene Länder 1999 in Kenia nach einer gemeinsamen Operation der US-amerikanischen und israelischen Geheimdienste entführt und der Türkei ausgeliefert.

Die Dimension der Wirtschaftsbeziehungen

In Bezug auf das gesamte Handelsvolumen der Türkei, liegt der israelische Anteil bei rund 1 Prozent. 1996 betrug das Handelsvolumen 446 Millionen Dollar und erhöhte sich 2009 auf rund 3,3 Milliarden Dollar. [9] Den TUIK (Statistikbehörde der Türkei) – Angaben zufolge machten alleine Rüstungsgüter über 2 Milliarden Dollar aus. Zusätzliche Importe, die rein militärische Einkäufe wie Verteidigungssysteme und Zulieferprodukte sind und von der Stiftung zur Stärkung der türkischen Streitkräfte [10] bezahlt werden, werden in den offiziellen Handelsstatistiken nicht aufgeführt.

Der Journalist der regierungsnahen Tageszeitung Yeni Safak Fevzi Öztürk wies in einem Artikel über israelisch-türkische Wirtschaftsbeziehungen [11] darauf hin, dass »bei diesem Konflikt in erster Linie die israelische Rüstungsindustrie der Leidtragende sein« würde. Auf den ersten Blick ist das nicht von der Hand zu weisen. Immerhin ist die Rüstungsindustrie die wichtigste Stütze der israelischen Wirtschaft. Einen Großteil der israelischen Exportgüter machen sog. Verteidigungssysteme und militärische High-Tech-Ausrüstungen aus. Und die Türkei ist der drittgrößte Exportmarkt Israels. Sicherlich werden daher die auf Eis gelegten militärischen Projekte die israelische Rüstungsindustrie hart treffen, aber nicht so hart, wie Öztürk meint. Denn Israel hat andere Möglichkeiten weiterhin ihre Rüstungswaren an die Türkei zu verkaufen. In der Türkei sind lt. einer Studie derzeit rund 250 Firmen tätig, deren Ursprung – auf Umwegen – in Israel liegt. Nicht dazu gezählt werden internationale Rüstungskonzerne, an denen israelische Firmen beteiligt sind und die der Türkei weiterhin Waffen verkaufen.

Was die israelischen Auslandsinvestitionen betrifft, kommt die Türkei nach den USA und Großbritannien an dritter Stelle. Die Investitionen des israelischen Kapitals konzentrieren sich in den Bereichen Energie, Finanzdienstleistungen und Landwirtschaft.

Den Angaben des türkischen Außenministeriums nach, wird der rechtliche Rahmen der Wirtschaftsbeziehungen durch das Türkisch-Israelische Freihandelsabkommen, Abkommen Über Handels-, Wirtschafts-, Industrie-, Technik- und Wissenschaftszusammenarbeit, Gegenseitige Investitionsförderungs- und Schutzabkommen und das Abkommen über die Vermeidung der Doppelbesteuerung gestellt. So weisen auch die Berichte des Staatssekretärs für auswärtige Angelegenheiten bei dem Ministerpräsidenten, dass zahlreiche israelische Waren Steuerbefreiungen und Befreiung von Einfuhrbeschränkungen genießen. Die vom Außenminister Davutoglu angekündigten Maßnahmen zur Durchsetzung der türkischen Forderungen an Israel sehen bislang ein Aussetzen dieser Wirtschaftsabkommen bzw. die Aufhebung der Befreiungen nicht vor.

Das »Admiralsschiff« der israelischen Investitionen in der Türkei ist ohne Zweifel der Energiesektor. Diese Investitionen wurden nach 2002 von der AKP-Regierung besonders gefördert. So erklärten beispielsweise israelische Firmenvertreter auf einer Konferenz des Vereins der ausländischen Investoren (YASED), die unter dem Titel »Der Favorit ausländischer Investitionen: Das Land der Chancen, die Türkei« stattfand, dass »Premier Erdogan 2002 sie persönlich für Investitionen in der Türkei überzeugt« habe und sie ihre Investitionsentscheidungen erst danach getroffen hätten. Die AKP-Regierung kam ausländischen Investoren sehr entgegen. Bei der Privatisierung der staatseigenen Aktiengesellschaft der Türkischen Ölraffinerien TÜPRAS erhielt die Carlyle MG Limited, die der israelischen Ofer Brothers Group (ein Mischkonzern, dessen Aktivitäten sich u.a. auf Containerschifffahrt, Luftfahrt, Automobile, Logistik, Chemie, Energie, Medien, Immobilien und andere Investments erstrecken) gehört, für 446 Millionen Dollar ein Aktienpaket von 14,76 Prozent. Erbost erklärte daraufhin Rahmi Koc, Eigentümer des größten Familienkonzerns der Türkei (Koc Holding hatte gemeinsam mit Shell Company of Turkey am 12. September 2005 für 4,1 Milliarden Dollar 51 Prozent der TÜPRAS-Aktien gekauft), dass die Regierung »gesetzeswidrig handele«. Die türkische Presse, insbesondere die Dogan Media Holding (Herausgeberin der Tageszeitung Hürriyet), die wiederum über ihre eigenen Energiefirmen großes Interesse an TÜPRAS hatte, berichtete, dass die 446 Millionen Dollar nur ein Drittel des eigentlichen Wertes des Aktienpakets ausmachen.

Im Energiesektor der Türkei können israelische Investitionen ihren Einfluss über Partnerschaften mit türkischen Konzernen geltend machen. Darunter sind besonders die Konzerngruppen Calik und Zorlu zu nennen, die Partner der israelischen Energiekonzerne Dorad, Ashdod, Ramat Negev und Solad Energy (die alle der Edeltech Gruppe gehören) sind. So bekam beispielsweise die Calik Gruppe im Rahmen des Projekts Medstream den Auftrag für die Bauarbeiten, um den Hafen von Haifa mit der Baku-Tiflis-Ceyhan Pipeline zu verbinden. Kosten soll das ganze 4,5 Milliarden Dollar. Über diese Pipeline soll nicht nur Rohöl und Erdgas sondern auch Strom und Wasser nach Israel transportiert werden. Über die Verlegung einer fiberoptischen Kommunikationsleitung wird noch verhandelt. Die Gruppe Zorlu wiederum erhielt 2004 den Auftrag, in den von Israel besetzten Gebieten 3 Erdgasumwandlungsstationen zu bauen. Im Finanzsektor fand die wichtigste Investition im Jahre 2005 statt: Die israelische Hapoalim Bank kaufte die türkische C Bank zu 100 Prozent auf. Heute heißt die Bank »Bank Pozitif« und vergibt Kredite in den Bereichen Energie, Tourismus, Bau, Infrastrukturmaßnahmen, Wasser- und Landwirtschaft sowie für Nahrungsmittelfirmen.

Ibrahim Cecen, Eigentümer der Firma IC ICTAS und einer von den großen Financiers der AKP (Erdogan verbringt jedes Jahr sein Urlaub im Cecens Hotel in Antalya), der mit dem israelischen Agrokonzern Tahal Group eine Partnerfirma gegründet hat, eröffnete den israelischen Agrochemiefirmen und der israelischen Agrogentechnik den türkischen Markt. Cecen war auch bei der Lobbyarbeit für eine Änderung des Gesetzes über Saatgut (Gesetz-Nr. 5553) maßgeblich beteiligt. Durch die Gesetzesänderung wurde u. a. auch der großflächige Anbau und Vertrieb von genetisch veränderten Pflanzen möglich.

Zwei israelische Firmen, Hazera Genetics LTD und Zeraim Gedera LTD beherrschen den Saatmarkt der Türkei, wobei sie den Vertrieb ausschließlich über den türkischen Toros Tarim (unter dem Dach der Tekfen Holding) organisieren. Inzwischen verkaufen auch kleinere Firmen wie Anadolu Tarim, Setar A.S. oder AYS Tarim, bis auf wenige Ausnahmen, nur noch Saatgut aus Israel.

Die Land- und Wasserwirtschaft sind Bereiche, in der die israelischen Investitionen langfristigen Charakter haben. Dies geschieht auch in Übereinstimmung mit der AKP-Regierung. So berichtete die Tageszeitung Star am 8. Juni 2008, dass »das türkische Ministerium für Landwirtschaft und Dorfangelegenheiten der Geological Survey of Israel die Genehmigung erteilt hat, in der Nähe von Izmir eine Milchfarm mit 500 Kühen zu gründen und die Gründung von weiteren Milchfarmen in verschiedenen Regionen überprüft werde«. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die GSI auf ihrer Website (http://www.gsi.gov.il/eng/) mitteilt, dass sie als beratendes Organ für alle staatlichen Branchen und wichtigsten öffentlichen wie privaten Unternehmen tätig ist sowie eine nationale und regionale geowissenschaftliche Datenbank verwaltet. Forschungsschwerpunkte der GSI sind »qualitative und quantitative Hydrogeologie, Geochemie, Umweltgeologie, geologische Kartierung« u.v.a.m.

Gemäß einem Vertrag mit dem israelischen Zentrum für internationale Kooperation MASHAV, welches 2003 unterschrieben wurde, erhält die Türkei im Rahmen ihres Großen Anatolienprojekts GAP, die zahlreiche Staudämme auf Tigris und Euphrat vorsieht, insbesondere in den Regionen des »Programms für Regionalentwicklung« Bildungs- und Beratungsdienstleistungen aus Israel. Dieser Vertrag sieht auch vor, dass bei Umsetzungsschwierigkeiten des Projekts, zur Aufhebung dieser, nur israelische Technologien eingesetzt werden dürfen. Dabei sind von MASHAV vorgeschlagenen Firmen zu beauftragen. Linke Parteien und Wasserbewegungen in der Türkei üben scharfe Kritik an der militärischen Schwerpunktsetzung des GAP und der Wasserprivatisierungspolitik der AKP, die inzwischen sogar kleinere Bäche an internationale Nahrungsmittelkonzerne verkauft hat.

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass Israel und die Türkei strategische und langfristige Wirtschaftsbeziehungen eingegangen sind, die kaum von der aktuellen Krise beeinflusst werden können. Hierbei sollte auch unterstrichen werden, dass die Wirtschaftsbeziehungen bei der aktuellen Krise so gut wie keine Rolle spielen.

Vom strategischen Partner zum Konkurrenten

Die nach der Finanzkrise in 2001 ergriffene Maßnahmen sowie deren Früchte, der begonnene Heranführungsprozess in die EU und der wirtschaftliche Aufschwung stärkte die Position der AKP. Mit dem Rückenwind des hohen Wirtschaftswachstums, der G 20-Mitgliedschaft und der wichtiger gewordenen strategischen Rolle des Landes, insbesondere für die Energielieferungen in die EU, konnte die AKP sich schrittweise als neue Staatspartei etablieren.

Nun war die Türkei dabei, eine regionale Macht zu werden. Ihre größte Konkurrentin war (und ist) Iran, wobei es immer mehr deutlich wurde, dass die Grenzen dieser Konkurrenz von den Beziehungen zu Israel bestimmt werden. Die imperiale Ausrichtung der türkischen – oder besser gesagt – der AKP-Außenpolitik machte zum einen die Neuformierung und Zurückdrängung der Armeeführung, zum anderen eine Abkehr von den bisherigen Sicherheits- und Verteidigungspolitiken notwendig. Die Doktrin des militärisch-bürokratischen Vormundschaftsregimes, wonach die Türkei »allseits von feindlichen Staaten umzingelt« sei, wurde ad acta gelegt und an dessen Stelle die »Null-Probleme-Politik mit den Nachbarländern« gesetzt. Nach dem zweiten Wahlsieg der AKP erhielt diese Politik weitere Konturen und der Machtkampf im Staate wurde verschärft.

Erstmals in der Geschichte der Republik Türkei wurden zu den »Urfeinden« Armenien und Griechenland gute Beziehungen aufgebaut. In allen Konflikten der Region – sei es im Kaukasus oder im Nahen Osten – bemühte sich die Türkei als Vermittlerin. Auch Israel erhoffte sich Hilfe durch die Türkei. So sollte die türkische Regierung 2007/2008 zwischen Israel und Syrien vermitteln und Möglichkeiten für direkte Friedensverhandlungen ausloten. Erdogan erklärte diese Aufgabe zur Chefsache. 2008 hatte Erdogan dem israelischen Ministerpräsidenten Olmert, der auf einem Staatsbesuch in Ankara war, vollmundig angeboten, die letzten Hindernisse für Verhandlungen mit Syrien durch einen persönlichen Anruf bei Bascher al-Assad zu beseitigen. Olmert lehnte aber ab und am nächsten Tag griff die israelische Armee Gaza an. Die Haltung der israelischen Regierung hat Erdogan, der ausgesprochen als Selbstherrlich beschrieben wird, sicherlich persönlich sehr gekränkt, aber Ankara verstand den Gaza-Krieg als eine Antwort Israels auf die türkischen Vormachtansprüche. Insofern war die Erzürnung Erdogans in Davos 2009 nicht nur ein »beleidigt sein« des Premiers, sondern ein Ergebnis der Infragestellung türkischer Ansprüche durch Israel.

Erdogans Reaktion wurde in den westlichen Medien als »unnötiger Wutausbruch« und »öffentliche Brüskierung des israelischen Präsidenten« [12] kritisiert. Viele Kommentatoren konnten Erdogans Reaktion nicht nachvollziehen. Immerhin hatte Erdogan selbst am 10. Oktober 2002 in Washington vor jüdischen Organisationen versprochen, dass »er persönlich dafür sorgen« werde, »die israelisch-türkischen Beziehungen zu vertiefen«. In den folgenden Jahren machte er diese Versprechung auch wahr und erhielt für seine »Verdienste« am 29. Januar 2004 den Preis »Profiles of Courage« der American Jewish Committee.

Aber auch den westlichen Medien dürfte es nicht entgangen sein, wie die Palästina-Politik der israelischen Regierungen für immer mehr Unmut in Ankara sorgte. Zeichen dafür gab es genug. Nach jeder israelischen Operation wurde der Ton aus Ankara schärfer. Gleichzeitig aber blühte die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit. Während das türkische Außenministerium Israel im März 2004 wegen der Ermordung von Scheich Ahmed Yassin in Gaza und im Mai 2004 wegen der Erschießung von 15 Zivilisten im Flüchtlingscamp Rafah scharf attackierte, bereitete die türkische Armee mehrere Rüstungsaufträge an Israel. Gleichzeitig liefen die Verhandlungen über ein Trinkwassergeschäft weiter, mit der 15 bis 20 Prozent der jährlichen Wasserknappheit Israels behoben werden sollte. Es hatte den Anschein, dass die scharfen Attacken des türkischen Außenministeriums und die verschärfte Antiisrael-Rhetorik keinen entscheidenden Einfluss auf die Beziehungen hatten. Und als am 13. November 2007 der israelische Staatspräsident Simon Peres im türkischen Parlament sprach, was ein Novum war, redeten manche türkische Kommentatoren eine neue »goldene Ära« in den israelisch-türkischen Beziehungen herbei.

Widersprüche vernebeln die Sicht

Dieses auf und ab in den Beziehungen, die vielfältigen Widersprüche und die verschärfte Antiisraelrhetorik trotz enger Wirtschaftsverflechtungen machen es Außenstehende schwer, das Bild in seiner Gesamtheit zu sehen. So war es sogar für manche Kolumnisten in der Türkei nicht ganz klar, welche Strategie Erdogan verfolgte. Kemalistisch orientierte Medien beispielsweise bewerteten das Eklat Erdogans am 30. Januar 2009 in Davos als eine reine innenpolitische Propagandaaktion, die für die Imagepflege der Regierung innerhalb der konservativ-muslimischen Wählerschaft sorgen sollte und fragten, warum die AKP-Regierung immer noch an einer Zusammenarbeit mit Israel festhalte.

In der Tat; noch in den nächtlichen Stunden angekommen, wurde Erdogan vor dem Flughafen von tausenden Anhängern als »Davos-Eroberer« [13] begeistert empfangen. Den Zeitungsberichten zufolge wurde Erdogan auch in den arabischen Medien wie ein Held gefeiert.

Was die militärische Zusammenarbeit betraf, hatten Erdogan-Kritiker auch recht. Kurz nach der »Davos-Krise« kaufte die türkische Armee 10 Heron-Drohnen, die sie bei ihren militärischen Operationen an der türkisch-irakischen Grenze und in den Kandil-Bergen gegen die kurdische Befreiungsorganisation PKK einsetzte. Die Auswertung der Heron-Fotos erfolgte in Israel und die geheimdienstliche Unterstützung gegen die PKK wurde Israel mit 167 Millionen Dollar vergütet. Ein Auftrag für Radarausstattung türkischer Kampfjets sowie das Projekt Datalink 16, mit dessen Hilfe die Radarbilder der F4- und F16-Jets ausgewertet werden, wurden an israelische Firmen vergeben. Am 4. Juni 2009 wurde dann in einer nächtlichen Sitzung des Parlaments ein Gesetz zur Vergabe der Minenräumungsarbeiten an der türkisch-syrischen Grenze durchgeboxt. Einige Tage später wurde bekannt, dass die Räumungsarbeiten in einem Areal von 510 km Länge von einer israelischen Firma durchgeführt werden sollten und diese Firma zudem das Recht erworben hatte, 44 Jahre lang dieses Areal für biologischen Anbau zu nutzen. Erst Ende Juli 2009 kassierte das türkische Verfassungsgericht [14] einige Teile dieses Auftrages wegen Verfassungswidrigkeit ein.

Selbst angesichts der öffentlichen Erniedrigung des türkischen Botschafters in Israel, Ahmet Oguz Celikkol durch den stellvertretenden israelischen Außenminister Danny Avalon am 11. Januar 2010 [15] und später der Erstürmung des Gazaflottillenschiffs »Mavi Marmara«, bei der 9 Menschen ums Leben kamen, wurde der logische Schritt der verschärften Antiisrael-Rhetorik, nämlich der Abbruch der Beziehungen, nicht vollzogen. Die AKP-Regierung kündigte vorerst die »Überprüfung« der bestehenden Abkommen an und sagte die anstehenden gemeinsamen Militärmanöver ab. Noch war die Zeit nicht reif – eine Erklärung des Generalstabes der türkischen Streitkräfte erklärt warum [16]: »Die modernisierten F4- und F5-Jets sowie unsere M60 Panzer benötigen weiterhin Gerätelieferungen aus Israel. Daher ist die militärische Zusammenarbeit unbedingt aufrecht zu erhalten«.

Noch war die alte Garde des Regimes, die kemalistische Generalität, aus strategischen Gründen gegen den Abbruch der Beziehungen. Doch mit dem Rücktritt der obersten Generäle im August 2011 waren auch die letzten Hindernisse weggefallen. Den imperialen Gelüsten der Neoosmanen von US-Gnaden konnte jetzt freien Lauf gegeben werden. Mit der Veröffentlichung des Palmer-Berichts am 1. September 2011 in der New York Times wurde dann der Start für die Eskalation gegeben.

Ein Versuch, etwas Licht ins Nebel zu bringen

Eine Betrachtung der unterschiedlichen Ebenen der Beziehungen zwischen den beiden Staaten und die Betrachtung der wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen könnten hilfreich sein, das verworrene Bild zu entwirren. Denn die alleinige Fokussierung auf den aktuellen Konflikt zwischen den beiden Regierungen sollte den Blick auf die historische Schicksalsgemeinschaft beider Staaten nicht trüben. Zwei wesentliche Gründe für diese Schicksalsgemeinschaft sind hervorzuheben: Die Grundinteressen Israels und der Türkei sind Deckungsgleich. Trotz der Konkurrenzsituation um die Vormachtstellung in der Region haben Israel und die Türkei, was ihre territoriale Einheit und nationalstaatliche Existenz betrifft, gleiche Interessen. Während die Kurdenfrage die Achillesferse der Türkei ausmacht, ist Israel dabei sich wegen der Palästina-Frage (trotz westlicher Unterstützung) völlig zu isolieren. Die Türkei ist mit der bisherigen Kurdenpolitik gescheitert und läuft der Gefahr, ihren Kampf gegen die KurdInnen wirtschaftlich, militärisch und politisch zu verlieren. Die kurdische Bevölkerung in der Türkei ist nicht mehr bereit, sich mit dem Status quo abzufinden. Israel dagegen gerät in der Palästina-Frage international immer mehr in eine Sackgasse. Die Aufrechterhaltung dieser Situationen ist für beide Staaten nicht mehr länger möglich. Durch das Beharren an ihrer bisherigen Politik gegen KurdInnen bzw. PalästinenserInnen gefährden beide Staaten ihre derzeitigen Grenzen. Beide Staaten sind vom Westen abhängig. Ohne die ausländische Kapitalzufuhr wären die Ökonomien beider Staaten am Ende. Die enge Verbundenheit mit der NATO, den USA und Kerneuropa sind für Israel und die Türkei Staatsraison; die Unterstützung und die Einbindung in die globalen Strategien des Westens eine Konstante ihrer Außenpolitik. Ein Ausscheren aus dem politischen Koordinatensystem des Westens kommt für beide Staaten nicht in Frage.

Deshalb wird die AKP-Regierung nicht müde zu betonen, dass sie »gegen diese israelische Regierung, aber nicht gegen den israelischen Staat agieren«. [17] Insofern kann konstatiert werden, dass der Scheidungskrieg zwischen den Regierungen stattfindet, nicht jedoch zwischen den Staaten an sich. Israel und die Türkei sitzen im selben Boot auf gefährlichen Gewässern – keiner von ihnen kann es sich leisten, einseitig das Boot zu verlassen. Das ist die eine Seite der Medaille.

Israel und die Türkei sind der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung der USA angewiesen. Die US-Unterstützung jedoch hat inzwischen seine Grenzen erreicht. Zum einen sind die USA selbst in einer wirtschaftlich verzwickten Lage und werden von der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise bedrängt. Zum anderen sind auch die USA in Afghanistan wie im Nahen Osten militärisch, politisch und strategisch in einer Sackgasse. Sie verlieren weltweit an Ansehen, weshalb die Obama-Administration sichtlich um »Lastenverteilung« und um »Stabilisierung« der Konfliktregionen bemüht ist.

Demgegenüber wachsen die israelischen und türkischen Erwartungen. Und hier beginnt die Konkurrenzebene. Beide Länder buhlen um die Gunst der USA.

Israelische Regierung setzt auf ihre Lobbyorganisationen, weltweiten Kapitalverbindungen sowie auf die kulturelle, historische und ideologische Bindung mit dem Westen. Trotz der Tatsache, dass Israel von den USA und Europa als fester Bestandteil des Westens gesehen wird, wird die gegenwärtige israelische Regierung zu einer immer schwerer werdenden Last für sie. Die aktuellen Entwicklungen in Nordafrika und im arabischen Raum belegen, dass die Netanyahu-Liebermann-Regierung langsam aber sicher zu einem Risikofaktor für die Stabilität und für die westlichen Interessen in der Region wird.

Informierten Kreisen ist seit langem bekannt, dass die Obama-Administration mit den Hardlinern in Jerusalem unzufrieden ist. Erst kürzlich konnte man auf der Internetseite der Tagesschau lesen, dass »am 6. September« bekannt wurde, wie »der ehem. US-Verteidigungsminister Robert Gates bei einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates Netanyahu als ›undankbar‹ bezeichnet hatte«. Offenbar ist die US-Regierung der Auffassung, dass die Politik der Netanyahu-Liebermann-Koalition die Zukunft Israels, somit auch strategische Interessen der USA in der Region gefährdet. Die Tatsache, dass Gates-Aussagen von der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates an die Öffentlichkeit gelangten und Seitens der US-Regierung nicht dementiert wurden (»Indiskredition als regierungsamtliche Bestätigung«, Bewertung der Tagesschau), kann als ein klares Signal an Israel bewertet werden.

Auch verschiedene westliche Medien sehen inzwischen die israelische Regierung immer mehr als ein Problemfall. Exemplarisch hierfür sind die verschiedenen Artikel in The Guardian. [18] Die britischen Kommentatoren weisen daraufhin, dass die israelische Regierung mit ihrer Türkei-Politik »einen großen Fehler« mache, »dessen Preis von Tag zu Tag höher« werde. Netanyahu müsse »einsehen, dass eine mögliche ägyptisch-türkische Antiisraelkoalition, einen jahrelang andauernden strategischen Nachteil schaffen würde«, der sicherlich mit dem taktischen Sieg im Palmer-Bericht, dessen Halbwertszeit kaum mehr als ein paar Tage ausmachen, nicht ausgeglichen werden kann. So wird auch eine Korrektur der US-Politik gegenüber Israel gefordert, der »die bisherige bedingungslose Unterstützung neubewertet« und »die Aufweichung der US-Position zu einer möglichen Palästinaanerkennung in der UN-Vollversammlung« beinhalten sollte. Schließlich dürfe die USA »die strategische Bedeutung der Türkei und ihre herausragende Leistung in der Region« nicht unterschätzen.

Es ist möglich, dass die Obama-Administration eine ähnliche Schlussfolgerung zieht, dennoch sind ihnen die Hände gebunden. In Sachen Israel führen innenpolitische Entwicklungen zu einer Handlungsunfähigkeit. Auch deshalb werden Appelle der US-Regierung von Netanyahu nicht ernst genommen. Genau hier kommt die AKP-Regierung ins Spiel: Sie setzt auf die schwache Position der israelischen Regierung und will beweisen, dass die Türkei der bessere Stabilisierungsfaktor somit der potentere strategische Partner in der Region ist. Dabei ist sie sich der Unterstützung der US-Regierung sicher, zumal Erdogan bewiesen hat, dass er der einzige Regierungschef ist, der öffentlichkeitswirksam Israel die Stirn bieten kann und trotz der Sympathien in der arabischen Ländern für die Verteidigung der US-Interessen bereit steht.

Inzwischen ist längst entschieden, der Türkei den Vorzug zu geben. So soll beispielsweise der NATO-Raketenschirm in der Türkei stationiert werden. [20] Immerhin ist die militärische Gewaltmaschinerie der Türkei, der nun endlich unter das explizite Kommando der AKP-Regierung gestellt werden konnte, die zweitstärkste Armee der NATO. Die Türkei ist willig und fähig, an allen Auslandseinsätzen teilzunehmen und verfügt über hervorragende Kontakte in der islamischen Welt, die durch die Konfrontation mit Israel immer mehr intensiviert werden. So gesehen ist die Türkei der perfekte Partner für die Durchsetzung der US-Interessen.

Hier decken sich die strategischen Interessen der USA und der Türkei. Für die Begehrlichkeiten der Türkei und für die an regionaler Stabilität interessierte US-Regierung ist die Netanyahu-Liebermann-Koalition ein Störfaktor geworden. Die USA sind nicht in der Lage, den Druck auf Netanyahu zu erhöhen. So nimmt Erdogan diese Aufgabe wahr. Das ist einer der wesentlichen Gründe für den aktuellen israelisch-türkischen Konflikt.

Auch in Israel gibt es kritische Stimmen gegen den Regierungskurs. Den Tagesschauberichten zufolge sollen seit Wochen israelische Politiker und Analysten der israelischen Regierung angeraten haben, ihren Kurs zu überdenken. Insbesondere die Geheimdienste würden wiederholt dazu aufrufen, Maßnahmen zu ergreifen, um Spannungen abzubauen. Ob jedoch die israelische Regierung diese, ohne Zweifel klugen Mahnungen erhört, scheint zweifelhaft zu sein. Selbst wenn Ministerpräsident Netanyahu der Türkei oder den PalästinenserInnen gegenüber Annäherungsversuche unternehmen würde, müsste er mit dem Bruch seiner Koalition rechnen. Denn die rechtsradikalen Teile der Regierung machten unmissverständlich klar, dass sie an dem Konfrontationskurs festhalten werden. So bleibt die israelische Regierung weiterhin unberechenbar.

Berechenbar dagegen sind die türkischen Interessen am östlichen Mittelmeer. Es kommt nicht von ungefähr, dass Außenminister Davutoglu betonte, dass die Türkei die längste Küste am Mittel besitzt: Es geht um die vermuteten Erdgasvorkommen im Mittelmeer. Berichten zufolge wird geschätzt, dass in dem sog. »Levente-Becken« im östlichen Mittelmeer ein riesiges Erdgasvorkommen mit rund 3,5 Billionen Kubikmeter Erdgas liegt. Vor der Küste Gazas sollen Vorkommen mit einem geschätzten Wert von 4 Milliarden Dollar liegen.

Der Kampf um diese Energiereserven, die unklar definierten Wirtschaftszonen und das Recht eines jeden Landes, die Bodenschätze seiner Wirtschafszone auszubeuten, machen die weiteren wesentlichen Gründe für den aktuellen israelisch-türkischen Konflikt aus. In dieses Problem sind mehrere Länder involviert: Neben Israel und der Türkei stellen Syrien, Libanon, Zypern und auch Palästina – wenn es denn als Staat anerkannt würde – Ansprüche im östlichen Mittelmeer. Die türkische Regierung vertritt den Standpunkt, dass die Türkei aufgrund des UN Seerechtsabkommens von 1982 das Recht habe, »ab der 12-Meilenzone vor ihren Küsten eine 200 Meilen breite Wirtschaftszone auszurufen«, so das Außenministerium. Am 13. September 2011 unterstrich der EU-Minister Bagis im Fernsehen wiederholt den möglichen Einsatz der türkischen Marine, »um Probebohrungen vor Zypern zu unterbinden und unseren Anspruch zu manifestieren«. Auch Außenminister Davutoglu hatte angekündigt, »Vorkehrungen für die Bewegungsfreiheit im östlichen Mittelmeer zu treffen«.

Hinter dieser aggressiven Ausrichtung der türkischen Außenpolitik, der von Israel und Republik Zypern (so auch von Griechenland) als eine Drohung verstanden wurde, steckt nicht nur die neue türkische Militärdoktrin, sondern auch die seit über einem Jahr andauernde israelisch-zypriotische Kooperation. Israel und die Republik Zypern hatten sich im Dezember 2010 über den Verlauf der gemeinsamen Seegrenze geeinigt und ein Abkommen über die Nutzung der Bodenschätze im östlichen Mittelmeer unterschrieben [21]. Während des Besuches der zypriotischen Außenministerin Erato Kozakau-Marcomillis am 24. Und 25. August 2011 in Israel [22] hatten beide Länder erklärt, dass sie »alsbald gemeinsam beginnen werden, im Rahmen des internationalen Rechts im Mittelmeer nach Erdgas zu bohren« (Türkische Zeitungen). Das türkische Außenministerium sieht darin die Gefahr, dass die Türkei »die Nutzungsrechte von ihrer eigenen, rund 145.000 Quadratkilometer großen Küstenregion an Griechenland (71.000 km2) und Republik Zypern (33.000 km2) verlieren könnte«. [Das ist übrigens eine andere Dimension des Zypernstreits zwischen der Türkei und der EU. Falls der Streit weiter eskalieren sollte, könnte auch die EU in den Konflikt einbezogen werden, da die Republik Zypern EU-Mitglied ist.]

In Zusammenhang mit dem Streit um die »Bewegungsfreiheit im östlichen Mittelmeer« hat die Türkei nun den »Aktionsplan Barbaros« [23] ins Leben gerufen. Nach diesem Aktionsplan soll das »Mittelmeer Sicherheitsschild« erweitert werden. Demnach gehören die Adria, das Rote Meer und das Indische Ozean nun zum Interessensgebiet der türkischen Marine. [24] Das sog. »Mittelmeer Sicherheitsschild« war 2006 durch den Beschluss des Nationalen Sicherheitsrates der Türkei ins Leben gerufen worden und sollte in erster Linie für die Sicherheit der Energieregion Ceyhan sorgen. Mit dem »Aktionsplan Barbaros« soll jetzt die Anzahl der eingesetzten Kriegsschiffe, U-Boote und Kampfjets erhöht werden. Danach sollen diese Einheiten verstärkt im östlichen Mittelmeer, speziell östlich und südlich von Zypern Patrouillenfahrten unternehmen.

Schon 2010 hatten Teile der, in der »Türkischen Meeresauftragsgruppe« zusammengeschlossenen Kriegsschiffe im Mittelmeer, in der Adria, im Roten Meer und im Indischen Ozean Fahrten unternommen und Häfen in Oman, Vereinigte Arabische Emirate, Pakistan, Indien, Jemen, Saudi Arabien und Jordanien besucht. Diese Fähigkeiten seiner Streitkräfte zur Schau stellend, stellt sich die Türkei als der stärkste Bewerber für die Verteidigung von US-Interessen dar.

Fazit

Der aktuelle israelisch-türkische Konflikt muss in Zusammenhang mit den Änderungen im Mittelmeerraum und im Nahen Osten, den strategischen US-Interessen, dem regionalen Kampf um die Ausbeutung der Erdgasvorkommen und den Vormachtansprüchen der Türkei betrachtet werden. Nicht vergessen werden sollte, dass trotz dieses Konflikts beide Staaten immer noch auf einander angewiesen sind und auf der gleichen Seite stehen. Die Antiisrael-Rhetorik Erdogans kann nicht darüber hinweg täuschen.

Aus den Regierungskreisen und den der AKP-Regierung nahestehenden Forschungsinstituten hört man immer wieder die Betonung, dass man zwischen der israelischen Regierung und Israel als Staat unterscheiden müsse. So stellte z.B. das türkische Institut für Strategische Internationale Studien USAK im Juli 2011 fest [25]: »Alle sind sich darüber einig, dass die Türkei und Israel aufeinander angewiesen sind. Wichtiger jedoch ist zu wissen, dass der Nahe Osten auf ein Duo Türkei-Israel angewiesen ist, die gute Beziehungen untereinander haben«. Der USAK-Nahostexperte Osman Bahadir Dincer unterstreicht in seiner Analyse (»Israel: Der sich nicht ändernde Staat des sich ändernden Nahen Ostens«) die eigentliche Erwartung der Türkei wie folgend: »Für die Lösung der strukturellen Probleme in den türkisch-israelischen Beziehungen muss Israel die stattgefundenen Veränderungen in der Türkei und in der arabischen Welt richtig deuten und einen Paradigmenwechsel einleiten. Bei der Betrachtung der türkisch-israelischen Beziehungen ist der wichtigste Punkt den man beachten muss, dass die Beziehungen nicht mehr über die alten Parameter fortgeführt werden können. (…) Israel muss, um gesunde Beziehungen in seiner Außenpolitik ausbauen zu können, die Ärmel hochkrempeln und die inneren Krankheiten bekämpfen. Israel ist gehalten, in einer Welt, in der die gegenseitigen Abhängigkeiten vertieft werden, sich von der Sklaverei der lösungsuntauglichen Politiken zu befreien. (…) Die Überprüfung der aktuellen Außen- und Verteidigungspolitik wird Israel den Weg ebnen, mit den Staaten der Region in der nächsten Zeit bessere Beziehungen aufzubauen«.

Die Feststellungen in dieser Analyse entsprechen der Politik der türkischen wie der US-Regierungen. Daraus kann auch herausgelesen werden, dass die Netanyahu-Liebermann-Koalition nicht erwünscht ist. Für die USA und die Türkei ist dies Regierung Problem, welches aber nur in Israel und von den israelischen WählerInnen gelöst werden kann. Es mag sein, dass die sozialen Proteste der letzten Wochen in Israel vielleicht den Beginn eines Prozesses hin zum Regierungswechsel markieren. Ob aber damit auch ein Politikwechsel verbunden sein wird, was jede Vernunft es den Israelis wünschen würde, ist offen. Offen ist auch, ob es der Türkei gelingen wird, die Meinungsführerschaft in der islamischen Welt zu übernehmen. Die hohen Sympathiewerte Erdogans in den ägyptischen und palästinensischen Gesellschaften sind Konjunktur bedingt und sollten daher nicht als Maßstab genommen werden. Die osmanische Herrschaft ist keineswegs vergessen, selbst wenn »der westliche Kolonialismus und seine neokolonialistische Fortsetzung das osmanische Joch im arabischen Geschichtsbewusstsein in einem milderen Licht erscheinen lässt«. [26] Es mag auch in den westeuropäischen Ohren sympathisch klingen, wenn Erdogan den türkischen Weg und den Laizismus türkischer Prägung den arabischen Gesellschaften zur Nachahmung empfiehlt. Applaus ist ihm sicher, mehr nicht.

Denn auch in den arabischen Ländern wird Erdogans Handeln misstrauisch verfolgt. Zu offensichtlich sind die neoosmanischen Hegemonieversuche und vergessen ist auch nicht, dass der scharfen Rhetorik nach »Mavi Marmara« keine dieser Rhetorik entsprechenden Schritte erfolgten. So wirft auch die Behandlung Syriens durch die Türkei kein gutes Licht auf Erdogan.

Dass die Türkei sich als neuer Gendarm der NATO im Nahen Osten anbiedert, wird auch in der arabischen Presse artikuliert. So schrieb der in der arabischen Welt einflussreiche libanesische Journalist Mostafa Zein am 15. August 2011 in der Zeitung Dar al-Hayat: »Die Haltung Erdogans in Davos oder gegen den Gaza-Krieg sind nur Bemühungen, sich so darzustellen, als ob er zur Distanz gegen die USA und den Europäern übergegangen ist, um eine Rolle in der Region spielen zu können. Das bedeutet aber nicht, dass er sich von den Interessen der USA und Europa entfernen wird«. Ferner schreibt Zein: »Anders gesagt, die Türkei ist die bewaffnete Kraft der Europäer und der USA im Nahen Osten. Sie ist, obwohl sie wegen ihrer früheren und modernen islamischen Geschichte nicht in die EU aufgenommen wird, eine Polizeikraft, der die Aufgabe erteilt wurde, die Interessen des Westens zu verteidigen«. Dieses Misstrauen zu entkräften, bedarf mehr als nur einer Rhetorik.

Es mag sein, dass die Entscheidungsträger der Türkei daran glauben, die »neue« Türkei könne die Führung der arabischen Welt übernehmen. Die aktuelle Reise des türkischen Premiers in die arabischen Länder kann als Bewerbung dafür bewertet werden. Sicherlich nützt ihm dabei sein Konflikt mit der israelischen Regierung. Aber selbst die optimistischsten Stimmen können nicht mit Sicherheit voraussagen, ob Erdogan die neuen Regierungen in Ägypten, Libyen und Tunesien von seinen Führungsansprüchen wird überzeugen können.

Selbst wenn die arabischen Regierungen einer stärkeren Zusammenarbeit neigen sollten, so kann die Achillesferse der Türkei mit einem Schlag die internationalen und strategischen Pläne zur Nichte machen. Mit den Wahlsiegen, Wirtschaftswachstum und Unterordnung der türkischen Generalität gestiegene Selbstbewusstsein der AKP-Regierung sowie die Erwartung, das eigene Kurdenproblem wie in Sri Lanka mit massiver militärischer Gewalt lösen zu können, sowie die Hoffnungen auf einen größeren Anteil an der Neuordnung des Nahen Ostens führen zur Selbstüberschätzung und machen Blind vor den Realitäten in den kurdischen Gebieten. Jeder Fehler, den sich die AKP-Regierung im Umgang mit der eigenen kurdischen Bevölkerung erlauben wird, kann fatale Folgen haben. Denn weder ist Kurdistan mit Sri Lanka, noch die kurdische mit der tamilischen Bewegung vergleichbar. Eine wiederholte militärische Eskalation hat das Potential, die gesamte Region in einen Flächenbrand zu verwandeln. Nicht zu vergessen ist dabei die Rolle Irans.

Was auch die Bemühungen Erdogans in der arabischen Welt bringen mögen, eines steht m. E. fest: die imperiale Ausrichtung der türkischen Politik dient keineswegs dem Frieden in der Region. Vielleicht wird auch der israelisch-türkische Konflikt mit einem Regierungswechsel in Israel enden. Aber solange Israel und die Türkei an ihrer bisherigen Politik festhalten, solange werden sie ihren eigenen Gesellschaften und dem gesamten Nahen Osten einen Bärendienst erweisen.

Dabei hätten Israel und die Türkei, mit ihren multiethischen und multireligiösen Gesellschaften durchaus Chancen für einen Friedensprozess, der darauf gerichtet ist, in der gesamten Region eine friedliche, demokratische und soziale Nachbarschaft mit gegenseitiger Achtung, fairen Wirtschaftsbeziehungen und gegenseitiger Unterstützung aufzubauen. Sie könnten dazu einen entschiedenen Beitrag leisten – wenn sie denn wirklich demokratische, friedliche und säkulare Staaten wären. Dann stünden ihnen alle Möglichkeiten offen, Wirksamkeit zu entfalten, damit der Nahe Osten ein Hort des Friedens, der Demokratie und sozialer Gerechtigkeit wird. Und genau das wäre im Interesse der Menschen in der Region, egal ob christlichen, jüdischen oder muslimischen Glaubens… Das ist natürlich nur ein Traum.

Dennoch! Selbst wenn es nur ein Traum, eine unrealistische Hoffnung ist, lässt es einem das Herz höher schlagen. Und seien wir ehrlich, was wäre der Mensch ohne seine Träume und Hoffnungen?

Anmerkungen
  1. Siehe: http://www.mfa.gov.tr/sayin-bakanimizin-palmer-komisyonu-raporu-hakkinda-gerceklestirdigi-basin-toplantisi.tr.mfa
  2. Siehe: http://www.aydinguzelhisar.com/haberler/497/abd-raporu-titiz-ve-profesyonel-bulmus.html
  3. Siehe auch: http://bianet.org/bianet/siyaset/132563-turkiye-diplomatik-dengeleri-bozabilir
  4. Siehe auch: http://www.euronews.net/2011/09/07/turkey-and-israel-can-tumble-into-conflict-over-syprus/
  5. Siehe u. a.: www.aksitarih.com/israil’in-kurulusu-ve-turk-basinina-yansimalari.html
  6. Adnan Menderes und einige seiner Minister wurden nach dem Militärputsch vom 27. Mai 1960 auf der Gefängnisinsel Heybeliada inhaftiert und nach einem Schauprozess erhängt.
  7. Ekrem Güvendiren ist heute Vorsitzender des Türkisch-Israelischen Arbeitsrates, der unter dem Dach des Rates für außenwirtschaftliche Beziehungen tätig ist. Noch am 6. April 2011 erklärte Güvendiren, dass die türkisch-israelischen Wirtschaftsbeziehungen »trotz der Krise um die Gazaflottille das höchste Niveau seit der Gründung des Staates Israel erreicht« habe. Siehe auch: http://www.hasturktv.com/Turk_Basini_ve_Yorumlar/1861.htm
  8. Siehe auch: http://washington-report.org/component/content/article/122-1989-december/1467-israel-lobby-joins-turks-to-oppose-armenian-remembrance-resolution.html
  9. Alle Angaben aus den jährlichen Statistikberichten der Türkischen Statistikbehörde TUIK. Siehe auch: (Pdf) www.tuik.gov.tr/IcerikGetir.do?istab_id=89 Seite 62 ff. oder http://www.tuik.gov.tr/VeriBilgi.do?tb_id=12&ust_id=4
  10. Diese Stiftung wurde am 17. Juni 1987 mit dem Gesetz Nr. 3388 gegründet und ist Eigentümerin von mehreren türkischen Rüstungskonzernen sowie der Internationalen Verteidigungsindustriemesse Türkei IDEF. Siehe: http://www.tskgv.org.tr/tskgv/?page_id=5
  11. Siehe: http://hakihlallerimerkezi.org/makale_detay.php?mid=125&cid=3
  12. Siehe auch: taz, vom 31. September 2009, »Erdogan fällt aus der Rolle«, http://www.taz.de/!29730/
  13. In Türkisch: Davos Fatihi. »Fatih« bedeutet »Eroberer« und wird mit Sultan Mehmet, dem Padischah, der Konstantinopel eroberte und heute noch von der Mehrheitsgesellschaft hochgeachtet wird, in Verbindung gebracht. Mit der Bezeichnung »Fatih« werden auch religiöse Assoziationen gezogen.
  14. Zu dieser Zeit war das Verfassungsgericht mehrheitlich von AKP-kritischen Richtern besetzt.
  15. In Zusammenhang mit einem antisemitischen Kinostreifen (»Tal der Wölfe«) war der türkische Botschafter in das Außenministerium zitiert worden. Vor laufenden Kameras ließ man ihn auf einem niedrigen Sofa Platz nehmen. Allen diplomatischen Gepflogenheiten zum Trotz war auf dem Tisch nur die israelische Fahne, während Avalon den Botschafter lautstark beschimpfte.
  16. Siehe: Berichterstattung der Tageszeitung Taraf vom 17. Juni 2010.
  17. Am 13. September 2011 haben Erdogan und sein für EU-Beziehungen zuständiger Minister Egemen Bagis dies nochmal unterstrichen. Bagis im Fernsehsender CNN-Türk: »Wir stellen unsere Forderungen an die Adresse der israelischen Regierung, nicht den Israelis oder dem israelischen Staat«. Ähnliches sagte auch Erdogan ein paar Stunden später auf einer Pressekonferenz in Kairo.
  18. Siehe u. a.: http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/sep/12/turkey-israel-reverberates-washington
  19. Am 14. September 2011 berichteten türkische Tageszeitungen, dass die Radare des Raketenschirms auf einem Radarstützpunkt der türkischen Armee in Kürecik (Regierungsbezirk Malatya) stationiert werden. Das Abkommen darüber wurde in Ankara von dem Staatssekretär im Außenministerium Feridun Sinirlioglu und dem US-Botschafter Francis Ricciardone unterschrieben. Kontrolliert wird der Raketenschirm von Deutschland aus. Die Türkei soll Mitspracherecht haben. Als Voraussetzung hatte die Türkei verlangt, dass die Auswertungen der Radarbilder nicht an Israel mitgeteilt werden.
  20. Siehe u. a.: http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/politik/2611675/tuerkei-betrachtet-abkommen-israel-zypern-null-nichtig.story
  21. Siehe: http://www.israelnetz.com/themen/aussenpolitik/artikel-aussenpolitik/datum/2011/08/25/zypriotische-aussenministerin-besucht-israel/ und http://www.welt.de/politik/ausland/article13595858/Beim-Streit-mit-Israel-geht-es-um-Erdgas-vor-Gaza.html
  22. Der Name »Barbaros« ist an den osmanischen Korsar und Admiral Barbaros Hayrettin Pascha angelehnt, der zwischen 1516 und 1546 im Mittelmeer auf Beutezug war und das Mittelmeer zweitweise zu einem »osmanischen Binnensee« verwandelte. Siehe auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Khair_ad-Din_Barbarossa
  23. Dieser Plan hat eigentlich eine lange Geschichte. Schon 1998, am 17. März 1998 berichtete die inzwischen eingestellte Tageszeitung Yeni Yüzyil unter dem Titel »Unsere globalisierte Armee« über ein strategisches Dokument der türkischen Marine. Unter der Überschrift »Zu den offenen Meeren« hatte die Marineführung im November 1997 festgestellt: »Das Ägäische Meer, Schwarzmeer und das Mittelmeer haben für die Türkei lebenswichtige Bedeutung. Das Kaspische Meer, der Persische Golf, das Rote Meer sowie das atlantische Umfeld des Gibraltars sind Interessensgebiete der türkischen Streitkräfte. (…) Diese Feststellung macht eine Marine notwendig, die weit entfernt vom Heimathafen, logistische Unterstützung stellen kann und schlagkräftig ist«. Mehr über diese Pläne in: M. Cakir, »Die Pseudodemokraten«, GDF-Publikationen, Düsseldorf 2000, S. 25 ff.
  24. Siehe: http://www.usak.org.tr/EN/
  25. Werner Pirker, »Neo-Osmanen«, in: Junge Welt vom 15. September 2011.
18. September 2011


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