Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Immer noch Hungerstreiks in türkischen Gefängnissen

Aus einem Rundbrief der antimilitaristischen Organisation ISKD

Im Folgenden informieren wir über die fortgesetzt katastrophale Lage von politischen Häftlingen in der Türkei, die sich seit mehr als sechs Wochen im Hungerstreik befinden. Die Informationen stammen aus einem Rundbrief des ISKD.

Es befinden sich noch immer rund 400 Gefangene im Todesfasten. Einige sind im 87. Tag ihres Todesfastens. Die Zahl der unbefristet Hungerstreikenden wird vom Staat mit 1.030 angegeben. Auch ausserhalb der Gefängnisse haben Angehörige mit einem Hungerstreik begonnen. Über 1.000 Gefangene sind inzwischen in drei Gefängnisse vom Typ F verlegt worden. Sowohl während der Verlegung als auch in den Typ F Gefängnissen sind die Gefangenen misshandelt worden. Ihnen wird die ärztliche Begleitung verweigert und sie erhalten zum Teil das Vitamin B 1 nicht, das sie notwendig brauchen, um die gesundheitlichen Folgen zu begrenzen. Die Lage in den Gefängnissen spitzt sich also wieder zu.

Ausserhalb der Gefängnisse finden immer noch Aktionen zur Unterstützung der Gefangenen statt, über die aber in Folge der vom Staatssicherheitsgericht (DGM) verhängte Pressezensur nicht berichtet wird. Die Bündnisse für die Unterstützung haben sich in den vergangen Wochen nach den Feiertagsferien und den Beginn von Anschlägen der DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei - Front) auf die Polizei verkleinert. Am vergangenen Wochenende waren es in Izmir lediglich die sozialistischen Parteien, die eine Demonstration anmeldeten. Selbst der Menschenrechtsverein IHD hat sich in Izmir von dieser Aktion zurückgezogen, da in der Vorbereitung keine Einigung darüber erreicht werden konnte, wie konfrontativ die Aktion sein soll.

Reaktionen des Staates

Der Staat nutzt die Schwäche der Bewegung weiter aus und reagiert mit Repression. Ansonsten gibt er sich schweigsam. Der Justizminister äusserte lediglich, dass die Gefangenen selbst für ihr Leben verantwortlich seien und die Regierung kein Bedarf sehe, mit GefangenenvertreterInnen Gespräche zu führen. Allerdings werde diskutiert, mit einer Zwangsernährung in den kommenden Tagen zu beginnen. Autopsieberichte belegen inzwischen, dass lediglich zwei der 28 bei der Erstürmung getöteten Gefangenen in Folge von Selbstverbrennungen gestorben sind. Alle anderen sind durch Angriffe der Polizei mit Schusswaffen sowie Brand- und Gasgranaten getötet worden. Vertreter der Regierung machten bald nach der Erstürmung der Gefängnisse klar, dass die Operation mit dem Namen "Rückkehr ins Leben" lediglich den Sinn hatte, die nach europäischen Standard errichteten Typ F Gefängnisse zu eröffnen.

Erste Berichte von den Angriffen

Auf einer Pressekonferenz des IHD berichtete ein von der allgemeinen Amnestie Begünstigter, wie er die Erstürmung des Gefängnisses in Aydin (ca. 100 km südöstlich von Izmir) und die Verlegung in das Typ F Gefängnis Sincan bei Ankara erlebt hat. Nach der Erstürmung wurde die Hungerstreikenden von den restlichen Gefangenen getrennt, zu denen er gehörte. Mit Bussen wurden sie zur Jandarma nach Aydin gebracht. "Dort ausgestiegen mussten wir durch einen langen Gang in unsere Zelle. Vielleicht 30 Meter, aber mir kam es wie hundert vor. Links und rechts an der Wand standen Jandarma. Sie hatten Schlagstöcke, Baseball-Keulen, Gartenschläuche, Besenstiele in der Hand. Halt alles, womit man jemanden schlagen kann. Dann mussten wir durch das Spalier. Du weisst nicht, wo Du Dich mit dem Armen schützen sollst und kannst nur so schnell es geht die Strecke überwinden." Er berichtete von weiteren Misshandlungen, Schlägen, entwürdigenden Untersuchungen, die auch im Typ F Gefängnis Sincan nicht aufhörten.

Europäischer Standard: Eine Verschlechterung

"Die Politiker werben mit dem europäischen Standard der Typ F Gefängnisse, aber für das soziale Leben in den Gefängnissen ist das eine erhebliche Verschlechterung. Alle bestehenden Formen der Selbstorganisation der Gefangenen werden abgeschafft." sagt Coskun Üsterci von der Menschenrechtsstiftung (THIV). Als wir die Fernsehbilder von den Gefangenen sahen, überraschte auf den ersten Blick, dass sie ihre private Kleidung trugen. Gefängnisuniform lies sich bisher bei den politischen Gefangenen nicht durchsetzen. In einigen Gefängnissen kochen die Gefangenen selbst. Sie erhalten von der Gefängnisleitung entweder die Zutaten oder das Geld, um die Lebensmittel selbst zu kaufen.

"Als ich nach Mamak ins Gefängnis kam, sagte ich dem Direktor, dass ich zu den politischen Gefagenen will und er fragte mich, ob ich in eine gemischte Zelle oder in die Zelle mit denen von der DHKP-C möchte. Ich wählte die Gemischte. In der Zelle waren siebzig Gefangene. Dort haben die einzelnen Gruppen ihre Betten so zusammen gestellt und mit Laken umwickelt, dass kleine Räume entstehen. In einem Raum wird geklönt, in einem anderen ist politischer Vortrag, irgendwo wird gelesen. Besuche zwischen den Gruppen sind erwünscht. Die Ruhezeiten, das Fernsehprogramm, jede Kleinigkeit wird von den Gefangenen organisiert. Und obwohl die Gruppen ausserhalb der Gefängnisse sich zum Teil bekämpfen, geht es im Gefängnis nur nach dem Konsensprinzip" berichtet Osman Murat Ülke aus seiner Haftzeit.

Das Dreier- und Einzelsystem der Typ F Gefängnisse mag zwar Verbesserungen für die Hygiene, zum Teil auch für die Licht- und Luftverhältnisse bringen, bedeutet aber ansonsten die Auflösung dieser Selbstorganisation.

Zur Türkei-Seite

Zurück zur Seite "Regionen"

Zurück zur Homepage