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Türkisches Parlament erteilt Blankovollmacht für Militärschlag gegen Nordirak

Von Nico Sandfuchs, Ankara *

Die Vorbereitungen der Türkei für Militäroperationen gegen die kurdische Guerilla im Nordirak gehen weiter. Am Mittwoch ließ die türkische Regierung das Parlament über eine Vorlage abstimmen, die Ministerpräsident Tayyip Erdogan für ein Jahr dazu ermächtigt, türkische Truppen nach Nordirak zu entsenden, ohne vorher das Parlament konsultieren zu müssen. Die Zustimmung zu ihrem Antrag auf eine Blankovollmacht für Militärschläge fiel mit 507 zu 19 Stimmen eindeutig aus. Die Regierung hatte argumentiert, daß alle diplomatischen Mittel, mit denen man eine Vertreibung der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) aus dem Nordirak angestrebt habe, wirkungslos geblieben seien. Die kurdische Guerilla, die in jüngster Zeit erhebliche Erfolge im Kampf gegen türkische Truppen verbuchen konnte, müsse in ihren nordirakischen Rückzugsgebieten getroffen werden.

Bereits im Vorfeld hatten alle im Parlament vertretenen Parteien mit Ausnahme der prokurdischen Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP) ihre bedingungslose Unterstützung signalisiert. In der Frage eines umfassenden Militärschlages gegen Nordirak zeichnet sich unter den sonst heftig zerstrittenen bürgerlichen Parteien ein regelrechter »Burgfrieden« ab. So hatte etwa Deniz Baykal, der Vorsitzende der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), angesichts der »Bedrohung durch den Terror« und der wahrscheinlicher werdenden Militäroperation zur Gründung einer parteiübergreifenden »nationalen Plattform« aufgerufen. Ähnliche Appelle sind auch von der Regierungspartei und der faschistischen MHP, der zweitgrößten im Parlament vertretenen Oppositionspartei, ergangen.

Bei soviel nationalem Konsens und allgemeiner Kriegsbegeisterung laufen kritische Stimmen derweil immer stärker Gefahr, als »Vaterlandsverräter« gebrandmarkt zu werden. Zu spüren bekam dies nun ausgerechnet Ihsan Arslan, ein gemäßigter Abweichler aus den Reihen der Regierungspartei AKP, der Vorbehalte gegen die Erfolgsaussichten einer Militäroperation angemeldet hatte. »Wer gegen einen Militärschlag ist, der ist ein Sympathisant der PKK«, beschied Devlet Bahceli, Fraktionschef der MHP, seinem Parlamentskollegen. »Und so wie im Nordirak aufgeräumt werden muß, muß auch hier in der Türkei mit PKK-Sympathisanten aufgeräumt werden!« Auch Ministerpräsident Erdogan ist der Ansicht, daß jeder, der sich nicht ausdrücklich vom »Terror« distanziert, Gefahr laufe, vom »Kampf gegen den Terror getroffen zu werden«.

In Washington und vor allem auch in Bagdad mehrt sich unterdessen die Besorgnis über die kriegerischen Absichten Ankaras. Am Dienstag reiste überraschend der irakische Vizepräsident Tariq Al-Hashemi in die Türkei, um »auf eine politische Lösung des PKK-Problems« zu drängen. Regierungssprecher Ali Al-Dabbag warnte vor den »unabsehbaren Folgen« eines türkischen Einmarsches. Präsident Dschalal Talabani schloß sich am Mittwoch in Paris dieser Position an und warnte vor einer »Militäraktion«.

Aus Ankara hieß es beschwichtigend zwar, daß man sich auf türkischer Seite weiterhin für eine friedliche Lösung einsetzen wolle. Ob es der Regierung aber gelingen kann, angesichts der chauvinistisch aufgeladenen Stimmung, zu der sie selbst kräftig beigetragen hat, eine grenzübergreifende Militäroperation auf die lange Bank zu schieben, wird bezweifelt.

* Aus: junge Welt, 18. Oktober 2007


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