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"Wie bewertet die Bundesregierung die sich zuspitzende Situation an der türkisch-irakischen Grenze?"

Fragestunde im Deutschen Bundestag: Norman Paech, Sevim Dagdelen und Wolfgang Gehrcke (LINKE) sowie Jürgen Koppelin (FDP) befragen den Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler

Auszug aus dem Bundestagsprotokoll vom 24. Oktober 2007

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Fragestunde
– Drucksachen 16/6743, 16/6761 –
Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10 der Richtlinien für die Fragestunde die dringlichen Fragen auf.
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Ich begrüße Herrn Staatsminister Erler, der zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung steht.
Ich rufe die dringliche Frage Nr. 1 des Abgeordneten Dr. Norman Paech, Fraktion Die Linke, auf:

Wie bewertet die Bundesregierung die sich zuspitzende Situation an der türkisch-irakischen Grenze durch den massiven Aufmarsch türkischer Truppen und die immer deutlicher werdende Drohung, in den Irak einzumarschieren, unter dem Gesichtspunkt der Souveränität des Irak und den möglichen Folgen für die Sicherheitslage und Stabilität der Region?

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Herr Kollege Paech, die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Frage lautet: Die Bundesregierung sieht die jüngsten Entwicklungen an der türkisch-irakischen Grenze mit Besorgnis. Sie verurteilt die terroristischen Angriffe der PKK im türkischen Südosten auf das Schärfste. Die Bundesregierung appelliert an die Regierungen der Türkei und des Iraks, auf Grundlage ihres vor kurzem unterzeichneten bilateralen Sicherheitsabkommens gemeinsam für Stabilität in der Region zu sorgen. Die Bundesregierung steht mit der türkischen Regierung in Kontakt. Der Bundesminister des Auswärtigen hat am 21. Oktober 2007 mit dem türkischen Außenminister telefoniert und an die türkische Regierung appelliert, mit Augenmaß und Besonnenheit zu reagieren und so eine gefährliche Destabilisierung der Region zu verhindern.

Der Bundesregierung ist bekannt, dass das türkische Parlament am 17. Oktober dieses Jahres einen Beschluss gefasst hat, der die türkische Regierung ermächtigt, grenzüberschreitend gegen die PKK tätig zu werden. Die Bundesregierung wird sich gemeinsam mit ihren EUPartnern und den Vereinigten Staaten weiterhin dafür einsetzen, dass der Konflikt diplomatisch und unter Ausschöpfung aller nichtmilitärischen Mittel gelöst wird.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Zusatzfragen?

Dr. Norman Paech (DIE LINKE):

Herr Kollege Erler, ich hatte gefragt, wie Sie diese Drohung insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Souveränität des Iraks bewerten. Damit verbinde ich die folgende Frage: Können Sie der weitverbreiteten, immer wieder geäußerten Vermutung zustimmen, dass es der Türkei gar nicht um die PKK-Rebellen geht, sondern darum, die Autonomieentwicklung im Norden des Iraks zu verhindern? Könnte diese Vermutung zutreffen?

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Ich kann auf jeden Fall sagen, dass die Bestrebungen, die auf die Errichtung eines eigenen Staates im Nordirak zielen, in der Türkei mit großer Sorge beobachtet werden. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass eine Stabilisierung des gesamten Iraks eine Separation des Nordiraks verhindert. Ich gehe davon aus, dass auch die türkische Politik von entsprechenden Erkenntnissen geleitet wird.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Weitere Zusatzfrage?

Dr. Norman Paech (DIE LINKE):

Ja, ich habe eine zweite Nachfrage. – Ich unterstelle einmal, dass der Bundesregierung aufgrund der weitverbreiteten Presse bekannt ist, dass die Türkei schon seit Monaten Militär im Südosten ihres Landes zusammengezogen hat, dass sie von dort immer wieder Überfälle auf Dörfer und Ortschaften in Südostanatolien unternommen hat und dass sie bisher alle Angebote der PKK in Richtung Waffenstillstand – seit Oktober 2006 bis jetzt, zum jüngsten Datum – abgewiesen hat und immer wieder auf eine militärische Lösung zurückkommt. Was – das ist meine Frage – hat die Bundesregierung bisher unternommen, um es zu dieser absehbaren Zuspitzung der Lage nicht kommen zu lassen?

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Herr Kollege, ich glaube, man muss ein bisschen aufpassen, dass man die Dinge jetzt nicht so verkehrt, dass es zu einer Verwechslung von Tätern und Opfern kommt. Uns sind mehrere sehr blutige Überfälle der PKK auf Einheiten der türkischen Armee bekannt, übrigens zum Teil mit zivilen Opfern. Der letzte dramatische Akt hat am 21. Oktober dieses Jahres stattgefunden. Allein bei diesem Vorfall sind zwölf türkische Soldaten zu Tode gekommen.

Selbstverständlich gibt es eine Politik der türkischen Regierung gegenüber den Kurden, die wir seit langem im Dialog begleiten, was wir auch weiterhin machen werden. Wir können dadurch feststellen, dass die gerade erst wieder durch Wahlen bestätigte AKP-Regierung durchaus Anstrengungen in unserem Sinne unternommen hat, was sich übrigens auch darin niederschlägt, dass 40 Prozent der Kurden die AKP gewählt haben. Das ist ein Beleg dafür, dass ein Teil dieser Politik bei der kurdischen Bevölkerung im Südosten der Türkei angekommen ist.

Ich kann nur noch einmal wiederholen, dass wir unsere Bemühungen fortsetzen werden mit dem Ziel, dass die türkische Regierung auf diese Provokationen nicht militärisch in Form eines Einmarsches in den Nordirak antwortet, weil wir glauben, dass das weder im Sinne der türkischen Interessen noch im Sinne des gemeinsamen Interesses an einer stabilen Entwicklung im Gesamtirak sein kann.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Kollege Koppelin.

Jürgen Koppelin (FDP):

Herr Staatsminister, können Sie Auskunft darüber geben, ob sich Gremien der NATO mit der Angelegenheit beschäftigt haben? Denn immerhin ist die Türkei NATO-Partner.

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Soweit ich weiß, ist das bisher nicht der Fall. Wir können erkennen, dass es aktive diplomatische Bemühungen der Vereinigten Staaten gibt, in die der Präsident und die Außenministerin einbezogen sind. Diese Bemühungen umfassen sowohl Kontakte mit der irakischen Seite als auch Kontakte mit der nordirakischen Autonomieregierung als auch Kontakte mit der Türkei. Aber eine formelle Beschäftigung der NATO mit dieser Angelegenheit ist mir nicht bekannt.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin Dagdelen.

Sevim Dagdelen (DIE LINKE):

Herr Erler, ist der Bundesregierung bekannt, dass in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem zunehmenden Nationalismus in der Türkei fast schon Rassismus gegenüber kurdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern aufgetreten ist, und zwar vor allen Dingen auf Drängen der Partei der Nationalistischen Bewegung, MHP, die jetzt auch ins Parlament eingezogen ist, und der CHP, der Republikanischen Volkspartei? Wie bewertet die Bundesregierung diese Entwicklungen? Vor allen Dingen vor dem Hintergrund des Prozesses des EU-Beitritts der Türkei hat die Bundesregierung doch bestimmt eine Position zu diesen Entwicklungen.

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Frau Kollegin, ich möchte an meine vorletzte Antwort anknüpfen. Es gibt eine pluralistische Entwicklung in der Türkei. Es gibt bestimmt verschiedene Parteien, deren Ziele wir nicht teilen können oder auch kritisieren müssen. Aber was die offizielle Politik der Türkei in den letzten Jahren angeht, sehen wir durchaus das Bemühen, zu einer politischen Lösung des Kurdenproblems zu kommen. Die Fortschritte dabei sind darin erkennbar, dass der Rückhalt der PKK als Gruppierung, die eine militärische, eine gewaltsame Lösung dieses Problems anstrebt, zurückgegangen ist. Wir sehen die Provokationen der PKK, beispielsweise ihre grenzüberschreitenden Aktivitäten, durchaus in einem Zusammenhang mit dem Rückgang der Zustimmung für die PKK in der kurdischen Bevölkerung.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich rufe die dringliche Frage 2 des Kollegen Paech auf:

Wie beurteilt die Bundesregierung die Gespräche zwischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und US-Außenministerin Condoleezza Rice, in denen heutigen Presseberichten zufolge gemeinsame Aktionen des türkischen und des US-Militärs gegen Guerillas im Nordirak erwogen werden?

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Herr Kollege Paech, die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Frage lautet: Die Bundesregierung hat keine Kenntnis von dem Inhalt der Gespräche der USAußenministerin mit dem Ministerpräsidenten der Türkei. Der Bundesregierung ist bekannt, dass zurzeit hochrangige Kontakte zwischen den Regierungen der Türkei, des Irak und der USA – ich habe sie eben schon erwähnt – mit dem Ziel stattfinden, den Konflikt einzudämmen und möglichst mit friedlichen Mitteln zu lösen. Auch von der kurdischen Regionalregierung im Nordirak wird in diesem Zusammenhang erwartet, einen Beitrag zu leisten und zur friedlichen Lösung des Konflikts beizutragen. Die Stabilität der Region liegt im Interesse aller Beteiligten.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Eine Zusatzfrage?

Dr. Norman Paech (DIE LINKE):

Auch ich habe dies natürlich nicht von Herrn Erdogan persönlich, sondern aus der amerikanischen Presse, die darüber berichtet hat, dass die USA angeboten habe, gemeinsam mit der Türkei per Luftunterstützung über die PKK-Stellungen in den Kandil-Bergen herzufallen. Sie wissen, dass die PKK und die Kurden seit 1984 gemeinsam für ihre Rechte – für Menschenrechte, Bürgerrechte, politische Rechte – und überhaupt für die Anerkennung ihrer Identität kämpfen und dass bis jetzt zwar einige, aber immer noch nicht genügend politische Erfolge erzielt worden sind. Jetzt stellen sich die USA an die Seite der Türkei und bieten militärische Unterstützung an. Selbst wenn das nur in der Presse steht, frage ich Sie: Was unternimmt die Bundesregierung in dieser Situation auch gegenüber den USA, um hier beruhigend zu wirken und vor allen Dingen eine Pazifizierung der Situation herzustellen?

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Herr Kollege Paech, ich habe schon aus Ihrer Formulierung der Frage erkannt, dass Sie sehr genau wissen, dass die Bundesregierung zu Presseberichten, zu deren Gegenstand wir keine eigenen Erkenntnisse haben, keinen Kommentar abgibt. Das erwarten Sie also in Wirklichkeit gar nicht von mir. Insofern kann ich mich mit meiner Antwort auf den zweiten Teil Ihrer Frage konzentrieren. Wir bemühen uns – auch im Rahmen eines persönlichen Gesprächs, zum Beispiel unseres Außenministers mit seinem türkischen Kollegen Babacan –, auf eine Nichtnutzung der Ermächtigung durch das türkische Parlament hinzuwirken. Wir glauben, dass eine grenzüberschreitende militärische Aktion der türkischen Regierung, mit der versucht würde, die PKK-Basislager in den Kandil-Bergen anzugreifen, in jeder Hinsicht zum Nachteil der Region und der türkischen Interessen ginge und vielleicht sogar im Sinne der Provokation, die ich beschrieben habe, das Gegenteil der Interessen der türkischen Regierung erreichte. Deswegen ist es unser Bemühen, eine Deeskalation zu erreichen, und dazu nutzen wir die diplomatischen Kanäle. Dies halten wir für den richtigen Weg.

Dr. Norman Paech (DIE LINKE):

Nur noch eine kurze Nachfrage: Haben Sie diese diplomatischen Kanäle auch gegenüber den USA benutzt?
Haben Sie Gespräche aufgenommen, um in diesem Sinne auf die USA einzuwirken?

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Wir gehen fest davon aus, dass die Vereinigten Staaten eine exakt gleiche Beurteilung der Lage vor Ort haben und in die gleiche Richtung wirken. Sie haben ja selbst über die Presse wahrgenommen, dass hier diplomatische Kanäle benutzt werden – zum Beispiel von der US-Außenministerin –, um in diesem Sinne auf die Region einzuwirken.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Gehrcke, hatten Sie sich zu einer Zwischenfrage gemeldet? – Bitte schön.

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Kollege Erler, Herr Staatsminister im Auswärtigen Amt, wir hatten heute schon im Auswärtigen Ausschuss das Vergnügen, über diese Fragen zu diskutieren. Ihre Antwort auf die Frage meines Kollegen Paech ermutigt mich, nachzufragen, wie die Bundesregierung die Politik der USA in dieser Region beurteilt. Es ist bekannt, dass die kurdischen Formationen im Norden Iraks mit den USA engstens verbündet sind und auch während des Krieges im Irak eine erhebliche Rolle gespielt haben. Hinzu kommt, dass die Erklärung des amerikanischen Kongresses zu Armenien, die ich inhaltlich sehr respektabel finde, die in der Türkei aber Auseinandersetzungen auslösen musste, nicht zufällig in dieser Situation und zu diesem Zeitpunkt abgegeben wurde.
Kann es sein, dass die heftige Reaktion der Türkei zum Teil auch darin begründet ist, die USA erneut in eine engere Gefolgschaft bzw. in ein enges Bündnis zu zwingen, und dass dadurch andere Umfeldbedingungen bestehen? Wie beurteilt die Bundesregierung die Politik der USA in dieser Region?

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Die Bundesregierung ist sich mit den Vereinigten Staaten, was das Gesamtinteresse in dieser Region angeht, völlig einig. Es würde für die gesamte Region eine Zuspitzung der Lage und eine bedrohliche Entwicklung bedeuten, wenn es etwa zu einem Zerfall des Iraks käme. Natürlich würde diese Gefahr zum Beispiel durch eine militärische Aktion im Nordirak eher vergrößert als verringert. Insofern sind wir uns, was den Ansatz der Politik der Vereinigten Staaten in dieser Region angeht, einig. Im Übrigen, Herr Kollege, darf ich, wenn Sie erlauben, sagen: Wenn es den USA wirklich darum ginge, die Türkei zu einem Gefolgsland zu machen, wäre die Armenien- Resolution nicht das geeignete Mittel. Insofern kann ich Ihre Beurteilung dieser Zielsetzung Amerikas, zumindest was den von Ihnen angeführten Beleg betrifft, nicht teilen.

(Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin Dagdelen.

Sevim Dagdelen (DIE LINKE):

Herr Erler, auf die Frage meines Kollegen Paech antworteten Sie, man dürfe nicht erwarten, dass die Bundesregierung den Wahrheitsgehalt von Presseberichten beurteilt und danach handelt. Allerdings hebt die Bundesregierung die deutsch-türkischen Verhältnisse auch in der öffentlichen Debatte immer wieder hervor. Darüber hinaus hat sie großes Interesse an der Befriedung der Situation im Nahen Osten, also auch im Irak und ganz speziell im Norden Iraks; darauf haben auch Sie heute hingewiesen.
Ich würde gerne wissen, ob die Berichte in der Chicago Tribune und in der Hürriyet, die in der AFPMeldung zitiert wurden, die Bundesregierung zumindest angeregt haben oder in Zukunft anregen werden, den Inhalt solcher Presseberichte mit Blick auf ihre diplomatischen Verhandlungen zu prüfen.

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Frau Kollegin, ich bitte doch sehr um Verständnis: Die Arbeitsweise der Bundesregierung ist nicht, auf Presseinformationen zu warten und dann zu versuchen, deren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Die Bundesregierung verfügt über eigene Handlungsmöglichkeiten, sowohl im Hinblick auf die Türkei – ich habe mehrfach erwähnt, dass wir im Augenblick versuchen, diese Möglichkeiten zu nutzen – als auch über direkte Gesprächskontakte im Hinblick auf unseren amerikanischen Partner. Insofern sind wir nicht darauf angewiesen, nach Presseberichten solche Fahndungsversuche zu unternehmen.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Weitere Wortmeldungen zu diesem Fragenkomplex liegen nicht vor. Staatsminister Erler, ich danke Ihnen.

Quelle: Stenografisches Protokoll: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. Oktober 2007, S. 12456-12459


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