Immer neue Verfahren in der Türkei
Prokurdische Intellektuelle festgenommen
Von Jan Keetman, Istanbul *
EU-Kritik an der Verfahrenspraxis der
türkischen Justiz beeindruckt die
Staatsanwaltschaft nicht: Eine Welle
von Festnahmen dauert an.
Vor drei Wochen war Büsra Ersanli
mit führenden Vertretern der
türkischen Regierungspartei AKP
zusammengetroffen, um im Namen
der prokurdischen Partei für
Frieden und Demokratie (BDP)
über einen Entwurf für eine neue
Verfassung zu sprechen. Am vergangenen
Wochenende fand sich
die bekannte Professorin in der
kalten Zelle eines Istanbuler Gefängnisses
wieder. Zusammen mit
ihr wurden alleine in Istanbul auf
einen Schlag 41 Personen festgenommen.
Ihnen wird vorgeworfen,
einer Nebenorganisation der verbotenen
Arbeiterpartei Kurdistans
(PKK) mit Namen KCK (Union der
Kurdischen Gemeinden) anzugehören.
In regierungsnahen Medien
war zu lesen, die KCK habe Istanbul
in ein Chaos stürzen wollen.
Doch was genau den Festgenommenen
vorgeworfen wird, bliebt
unklar, denn die Staatsanwälte
gewährten Verteidigern weder
Akteneinsicht noch gaben sie Auskunft.
Ebenfalls am Wochenende
wurde der bekannte Verleger und
Kolumnist Ragip Zarakolu (Foto:
AFP) festgenommen. Er war der
erste, der es gewagt hatte, kritische
Bücher zur Armenierfrage in der
Türkei herauszubringen. Dazu gehörte
auch die erste türkische
Übersetzung des Romans »Die
Vierzig Tage des Musa Dagh« von
Franz Werfel, der die Leiden der
Armenier im Ersten Weltkrieg zum
Thema hat.
Seit Jahren schlägt sich Zarakolu
mit immer neuen Gerichtsverfahren
herum. Zu den Sitzungen
erscheint der weißhaarige Intellektuelle
immer pünktlich, um
mit ruhiger Stimme Argumente zu
seiner Verteidigung vorzutragen. Es ist nicht einzusehen,
warum die Staatsanwaltschaft
Zarakolu wie einen flüchtigen
Dieb hat festnehmen
lassen, statt ihm einfach
eine Vorladung zu schicken, und warum sie
Untersuchungshaft für ihn beantragte.
Niemand hält den Verleger
im Ernst für einen Terroristen.
Ragip Zarakolus Sohn Deniz ist
schon seit Anfang Oktober in Haft.
Der Doktorand der Politikwissenschaft
wurde zusammen mit 97
weiteren Personen inhaftiert.
Die neuen Festnahmen zeigen,
dass die Kritik, die die Europäische
Kommission in ihrem jüngsten
Fortschrittsbericht an dem KCKVerfahren
und seiner Handhabung
geäußert hatte, zumindest die türkische
Staatsanwaltschaft nicht
beeindruckt hat. Dabei war die EU-Kommission
von geschätzten 2000
Untersuchungshäftlingen ausgegangen.
Das türkische Justizministerium
hatte die Angabe daraufhin
auf etwa 650 korrigiert. In
jüngster Zeit hat sich diese Zahl jedoch
erheblich erhöht, und ein
Ende ist nicht abzusehen. Die BDP
wirft der Regierung vor, das Verfahren
zu benutzen, um politische
Konkurrenz unter den Kurden
auszuschalten. Alle Verdächtigen
hatten etwas mit der BDP zu tun,
viele sind Parteifunktionäre oder
Bürgermeister mit dem Mandat
der BDP.
In nur neun Monaten will Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdogan
eine völlig neue Verfassung
vorlegen. Dazu wäre es erforderlich,
mit allen relevanten Gruppen
zu sprechen. Doch fragt man sich,
wer das bei den Kurden sein soll,
wenn selbst türkische Intellektuelle,
die sich lediglich für die Kurden
einsetzen, unter einem schwer erklärbaren
Terrorismusvorwurf
reihenweise im Gefängnis landen.
* Aus: neues deutschland, 4. November 2011
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