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"Das ist ein in diesem Ausmaß einmaliger Protest"

Hunderte Kurden blockierten Europaparlament. Solidarität mit hungerstreikenden Häftlingen in der Türkei. Ein Gespräch mit Sinan Onal *




Am Montag haben mehrere hundert Kurden das Europaparlament in Brüssel blockiert. Worum ging es bei diesem Protest in der Bannmeile?

Seit dem 12. September, dem Jahrestag des Militärputsches von 1980, befinden sich in der Türkei mittlerweile über 700 kurdische politische Gefangene in einem unbefristeten Hungerstreik. Es ist ein in diesem Ausmaß in der Geschichte einmaliger Protest, den man besser als Todesfasten bezeichnen sollte. Sie fordern u.a. die Aufhebung der seit mehr als 400 Tagen dauernden Isolationshaft des Kurdenführers Abdullah Öcalan und dessen Freilassung, die Demokratisierung der Türkei. Sie verlangen auch das Recht auf Unterricht sowie der Verteidigung vor Gericht in ihrer kurdischen Muttersprache.

Die AKP-Regierung hatte nach den Parlamentswahlen im Juni 2011 den zuvor relativ erfolgreich geführten Dialog mit Öcalan und der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans, abgebrochen. Seitdem eskaliert die AKP den Konflikt durch Repression und Gewalt. Die Forderungen der Hungerstreikenden werden ignoriert, statt dessen wird ihre Lage durch Isolation und Übergriffe verschlechtert.

In großer Sorge um das Schicksal dieser politischen Gefangenen haben sich Menschen aus ganz Europa dann am Montag vor dem Parlament in Brüssel zu einer Blockade versammelt. Ab dem 40 Tag eines Hungerstreiks treten nämlich ernste Gesundheitsschäden auf, ab dem 50. Tag kann der Tod eintreten.

Ziel der am Protest Beteiligten war u.a., daß das Europaparlament eine Delegation auf die Gefängnisinsel Imrali und in die Gefängnisse zu den Hungerstreikenden entsendet. Wurde auf diese Forderungen eingegangen?

Einige Europaparlamentarier und wissenschaftliche Mitarbeiter kamen zur Blockade und suchten das Gespräch. Auch sie waren in Sorge um das Schicksal der Hungerstreikenden, sie waren entsetzt über die Ignoranz der türkischen Regierung und die immer häufigeren Menschenrechtsverletzungen. Sie erklärten sich bereit, den Parlamentspräsidenten zu kontaktieren, damit er sich für eine solche Delegation einsetzt.

Die belgische Polizei hat bei dieser Gelegenheit zwei kurdische TV-Journalisten auf brutale Weise festgenommen – sie wollte sie nur im Austausch gegen den Abbruch des Protestes wieder freilassen. Was ist aus diesem erpresserischen Kuhhandel geworden?

Der Protest war friedlich, Hunderte Menschen hatten Fahnen mit dem Porträt Öcalans und den Insignien der PKK dabei. Gegen die Festnahmen gab es schließlich heftigste Proteste, so daß die Polizei die beiden wieder freilassen mußte.

Den letzten Bericht der Europäischen Kommission hatte ein türkischer Minister öffentlich verbrannt, weil in ihm u.a. die zunehmenden Menschenrechtsverletzungen kritisiert wurden. Was hat die AKP-Regierung noch mit der Demokratie zu tun?

Die Regierung von Recep Erdogan handelt zunehmend autokratisch, man kann fast von einer Art Diktatur sprechen: Annähernd 10000 kurdische Politiker, Parlamentarier, Bürgermeister, Anwälte, Journalisten, Menschenrechtler, Feministinnen und Gewerkschafter wurden in den vergangenen drei Jahren inhaftiert.

Es gibt kein Recht auf faire Gerichtsverfahren. Tausende Menschen mußten schon ins Ausland fliehen, um nicht ins Gefängnis zu wandern.

* Sinan Onal ist Mitglied im Öffentlichkeitskomitee der prokurdischen türkischen Partei BDP (Friedens- und Demokratie-Partei)

Interview: Martin Dolzer, Brüssel

Aus: junge Welt, Donnerstag, 01. November 2012


Solidarität mit Hungerstreikenden

Proteste gegen türkische Regierung in kurdischen Städten und Brüssel

Von Martin Dolzer **


Mehr als 700 Kurden in türkischen Gefängnissen befinden sich im Hungerstreik. Einige haben seit 50 Tagen keine Nahrung zu sich genommen.

Am Dienstag brachten Hunderttausende in den Städten der kurdischen Provinzen der Türkei den Alltag zum Stillstand, um ihre Solidarität mit 773 hungerstreikenden politischen Gefangenen zum Ausdruck zu bringen. Ungezählte Geschäfte waren geschlossen, der öffentliche Nahverkehr kam zum Erliegen, Schüler und Studenten blieben dem Unterricht fern.

In Istanbul, in der kurdischen Metropole Diyarbakir, in Sirnak und Mardin, nahe der syrischen Grenze, griff die Polizei friedliche Versammlungen an. Zahlreiche Menschen wurden verletzt, mindestens 16 Personen festgenommen. Bereits am Sonntag wurde das Vorstandsmitglied der Partei für Frieden und Demokratie (BDP), Emanet Enes, im Verlauf einer Solidaritätskundgebung von einer Tränengasgranate der Polizei schwer am Kopf verletzt.

Zu den Massenprotesten hatte die BDP aufgerufen. Sie fordert die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auf, endlich einen ernst gemeinten Friedensdialog mit der kurdischen Seite zu führen und den seit 1999 inhaftierten PKK-Anführer Abdullah Öcalan als Schlüsselfigur für eine Lösung des Kurdenkonflikts aus der Haft zu entlassen.

Am 12. September, dem 22. Jahrestag des Militärputsches von 1980, hatten 63 politische Gefangene aus den Reihen PKK mit einem Hungerstreik begonnen, dem sich seitdem mehr als 700 Inhaftierte, darunter zwei Parlamentarier und mehrere Bürgermeister der BDP, angeschlossen haben. Die Inhaftierten fordern unter anderem die Aufhebung der seit mehr als 400 Tagen andauernden Isolationshaft Öcalans und dessen Freilassung, mehr Demokratie in der Türkei sowie das Recht auf Unterricht und Verteidigung vor Gericht in der Muttersprache.

Statt den lebensbedrohlichen Protesten Gehör zu schenken - ab dem 40. Tag eines Hungerstreiks treten erfahrungsgemäß schwere, oft irreversible Gesundheitsschäden auf, ab Tag 50 kann es zu ersten Todesfällen kommen -, reagieren die Verantwortlichen mit Ignoranz und einer Verschärfung der Haftsituation sowie Übergriffen von Gefängniswärtern. Justizminister Sadullah Ergin kündigte zudem an: »Wir warten, bis ihr die Besinnung verliert - dann werden wir zuschlagen.«

»Wir sind traurig über das Schweigen dazu und sehr besorgt, dass diese wertvollen Menschen sterben könnten«, erklärte BPD-Sprecher Sinan Onal in Brüssel. Anfang der Woche forderten dort mehrere hundert kurdische Exilpolitiker mit einer Blockade vor dem Europäischen Parlament die Entsendung einer Delegation, die Öcalan auf der Insel Imrali und die Hungerstreikenden in den Gefängnissen besuchen soll. Einige EU-Parlamentarier zeigten sich in großer Sorge um die

Hungerstreikenden und die zunehmen᠆den Menschenrechtsverletzungen. »Die Forderungen der politischen Gefangenen sind berechtigt. Die türkische Regierung tritt die Demokratie mit Füßen«, sagte Mikael Gustafsson von der schwedischen Linkspartei. Er kritisierte die EU, die bisher keine Schritte bezüglich des Hungerstreiks sowie einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage unternommen habe.

Die Ärzteorganisation IPPNW äußerte sich besorgt über den Gesundheitszustand der Häftlinge. Anders als bei vorangegangenen Hungerstreiks würden sie sich weigern, Salz, Zucker und das überlebensnotwendige Vitamin B1 zu sich zu nehmen.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 01. November 2012


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