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Eiserner Erdogan

Kurdischer Hungerstreik erreicht 50. Tag / Türkischer Premier in Berlin

Von Gökhan Bicici, Istanbul, und Katja Herzberg *

Anlässlich des 50. Tages des Hungerstreiks hunderter kurdischer Häftlinge findet heute ein landesweiter Aktionstag gegen die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdogan statt. Der weilt indes in Berlin. Doch auch hier erwarten den Ministerpräsidenten Proteste.

Seit 49 Tagen hält die Hungerstreikwelle von inzwischen mehr als 700 kurdischen Häftlingen in der Türkei bereits an. Sie protestieren damit gegen die erschwerten Haftbedingungen für den seit 1999 inhaftierten PKK-Anführer Abdullah Öcalan. Eine zweite Forderung betrifft die Anerkennung des Rechts auf muttersprachliche juristische Verteidigung und Bildung.

Nachdem sich die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdogan bisher nicht kompromissbereit zeigte, hat die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) für den heutigen Dienstag zu einem landesweiten Aktionstag aufgerufen. Demonstrationen und Streiks in mehreren Städten werden erwartet. Laut BDP sind derzeit mehr als 8000 Personen wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) inhaftiert, darunter zahlreiche Anwälte, Journalisten und Politiker. Die Regierung betrachtet diese Zahl als übertrieben. Vergleicht man jedoch ihre Auflistung von nur acht verhafteten Journalisten mit einer Recherche des US-amerikanischen Organisation CPJ, das auf 76 kommt, scheinen die Zahlen der BDP glaubhafter. Erst im vergangenen Monat hatte ein Prozess gegen 44 Journalisten begonnen, die kurdische Separatisten unterstützt haben sollen. Ab der nächsten Woche stehen weitere Medienvertreter vor Gericht.

Während der Hungerstreik zur Belastungsprobe für die konservativ-religiöse Regierung in Ankara zu werden droht, sucht Erdogan bei seinem Besuch in Berlin um Hilfe in außenpolitischen Fragen. Der türkische Regierungschef befürchtet, dass wegen des Bürgerkriegs in Syrien weitere Flüchtlinge aus dem Nachbarland kommen. Bereits 100 000 Syrer sind über die Grenze zur Türkei geflohen. Erdogan fordert daher, dass die internationale Gemeinschaft auf syrischer Seite eine Schutzzone einrichtet, über die ein Flugverbot für Militärflugzeuge des syrischen Regimes unter Baschar al-Assad verhängt werden könnte.

Vor den politischen Gesprächen wird Erdogan in Berlin die weltweit größte türkische Botschaft eröffnen. Auch hier muss er jedoch mit Protesten rechnen. Ein Bündnis von kurdischen, alevitischen, armenischen, jesidischen und linken türkischen Migrantenorganisationen hat für Mittwoch zu einer Demonstration aufgerufen. »Religiöse und ethnische Minderheiten werden in der Türkei nach wie vor systematisch diffamiert«, begründet Merwan Sezek, Vorstandsmitglied der Föderation jesidischer Vereine in Deutschland, im nd-Interview den Protest.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 30. Oktober 2012


Dokumentiert

Proteste am dezentralen Widerstandstag **

Am 30. Oktober gab es in ganz Nordkurdistan und vielen Städten der Türkei Demonstrationen, die auf die Hungerstreikenden in Gefängnissen und ihre Forderungen aufmerksam machen sollten. In Städten wie Amed (Diyarbakir), Şirnex (Şırnak), Mêrdîn (Mardin) und Elih (Batman) kam es schon in den Morgenstunden bei Protesten für die Hungerstreikenden zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und den DemonstrantInnen. Vielerorts hielten die Auseinandersetzungen den ganzen Tag über an und nahmen auch nach Einbruch der Dunkelheit kein Ende.
Wir dokumentieren im Folgenden einen Bericht über die wichtigsten Ereignisse aus einigen kurdischen Städten.


Semsur
In Semsur (Adiyaman) trafen sich die DemonstrantInnen vor der BDP-Zentrale in der Stadt, um von dort aus in Richtung des E-Typ Gefängnisses zu laufen. Die Polizei versuchte mit Straßensperren die Menschenmenge zu stoppen, diese reagierte mit einem Sitzstreik und blockierte dadurch die Hauptverkehrsstraße der Stadt. Die DemonstrantInnen riefen Parolen wie „Die politischen Gefangenen sind unser Stolz“ und „Unser Friedensbotschafter ist auf Imrali“.

Bismil
Im Bezirk Bismil (Provinz Amed) versuchte die Polizei bereits die Bevölkerung am Beginn der Demonstration zu stoppen. Nachdem die dort geplante Pressekonferenz durch den Angriff der Polizei unterbunden worden ist, kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den DemonstrantInnen und der Polizei. Diese Auseinandersetzungen weiteten sich in kurzer Zeit auf den ganzen Bezirk aus. Es kam infolgedessen zu zahlreichen verletzten DemonstrantInnen sowie zu dutzenden Festnahmen. Die Polizei setzte gegen die DemonstrantInnen Gasbomben und Wasserwerfer ein.

Mêrdîn
In Mêrdîn wurde eine geplante Solidaritätsdemonstration für die Hungerstreikenden, die von der BDP-Zentrale zum Bezirksbüro der AKP gehen sollte, von der Polizei angegriffen und dadurch verhindert. Die DemonstrantInnen führten daraufhin einen Sitzstreik durch. Der Sitzstreik wurde mit einer Pressekonferenz beendet, auf welcher der BDP-Verantwortliche von Mêrdîn Abdulcelil Şimdi betonte, dass für mögliche Todesfälle beim Hungerstreik allein die AKP verantwortlich sein werde.

Qoser
Im Bezirk Qoser (Kızıltepe) (Provinz Mêrdîn) kam es zu Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und der Polizei, nachdem diese das Hungerstreikzelt in der Stadt gewaltsam abgerissen hat. Gemeinsam mit dem BDP-Abgeordneten Erol Dora versuchte die Bevölkerung daraufhin eine Demonstration durchzuführen. Allerdings wurde auch die Demonstration von der Polizei ohne Vorwarnung mit Wasserwerfern und Gasbomben angegriffen. Die Bevölkerung reagierte darauf mit Steinwürfen. Anschließend versammelte sich die Bevölkerung erneut am Ort des abgerissenen Hungerstreikzelts, wo Dora eine kurze Rede hielt, in welcher er auf den Gesundheitszustand der Hungerstreikenden aufmerksam machte. Erneut ging die Polizei zum Angriff über und nahm zahlreiche DemonstrantInnen fest. Im Stadtteil Ipek behaupteten Augenzeugen, dass die Polizei gar mit scharfer Munition in Richtung der DemonstrantInnen schoss.

Hezex
Im Bezirk Hezex (İdil) (Provinz Mêrdîn) haben sich tausende Menschen vor dem „Zelt des Demokratischen Widerstandes“ getroffen, von wo sie sich in Richtung des AKP-Gebäudes auf den Weg machten. Allerdings wurde die Menge auf halben Weg durch eine Polizeibarrikade gestoppt. Ohne Vorwarnung griff die Polizei die Demonstration mit Wasserwerfern und Gasbomben an. Die Menschenmenge reagierte auf den Angriff der Polizei mit Steinwürfen, der gesamte Bezirk glich in kürzester Zeit einem Kriegsschauplatz. Die Bevölkerung errichtete an vielen Punkten der Stadt Barrikaden, woraufhin sich die Polizei teilweise zurückziehen musste. Nachdem Rückzug der Polizei versammelte sich die Menschen erneut, um ihre Demonstration fortzusetzen. Auffällig war, dass die Polizei ihr Kontingent von Gasbomben aufgebraucht hatte und mit neuen Gasbomben beliefert werden musste. Die Polizei versuchte vielfach vergeblich die Barrikaden der Bevölkerung zu durchbrechen. Die Auseinandersetzungen hielten nach Einbruch der Dunkelheit weiter an.

Elih
In Stadtzentrum und in den verschiedenen Stadtteilen von Elih (Batman) gingen die Demonstrationen bereits in den frühen Morgenstunden los, wodurch das öffentliche Leben in der Stadt zum Stillstand kam. An dutzenden Punkten der Stadt hatten Jugendliche Barrikaden errichtet und Straßen gesperrt. Ein Großteil der DemonstrantInnen versammelte sich hingegen vor dem Büro der BDP in der Stadt, unter ihnen auch die BDP-Abgeordnete Ayla Akat, um in Richtung des AKP-Gebäudes zu marschieren. Allerdings stoppte auch hier die Polizei die Menschen auf halbem Weg. Daraufhin entschlossen sich die DemonstrantInnen , einen Sitzstreik durchzuführen. Die angespannte Situation in der Stadt hielt bis spät in den Abend weiter an.

Şirnex
In Şirnex blockierten die Jugendlichen die Hauptstraße mit Barrikaden, wodurch der Polizei der Zugang in Teile der Stadt verwehrt worden ist. Die Polizei versuchte ihrerseits vergeblich mit Gasbomben die Jugendlichen zurückzudrängen. Daraufhin zerstörten die Jugendlichen an vielen Orten der Stadt Überwachungskameras.

Cizîr
Im Bezirk Cizîr (Cizre) (Provinz Şirnex) versammelten sich tausende Menschen vor der BDP-Zentrale des Bezirks und setzten von dort zu einer Demonstration an. Allerdings griff auch in Cizîr die Polizei die Menschenmenge an, woraufhin es zu Auseinandersetzungen kam. Es gelang den annähernd 10.000 DemonstrantInnen , die Polizeibarrikade zu durchbrechen und ihre Demonstration erfolgreich zu Ende zu führen. Am Ort der Abschlusskundgebung setzte die Polizei allerdings nochmal zum Angriff an, wobei sie mit Gasbomben und Wasserwerfern gegen die DemonstrantInnen vorging. Abermals kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den DemonstrantInnen und der Polizei, die sich auf viele Ecken der Stadt ausweiteten. In den Abendstunden hatte sich die Situation weiterhin nicht beruhigt.

Silopi
Vor dem BDP-Parteigebäude in Silopi versammelten sich tausende Menschen und setzten zur Demonstration Richtung Stadtzentrum auf. Neben verschieden ParteivertreterInnen und VertreterInnen von NGOs und Gewerkschaften nahmen auch zahlreiche Angehörige der Hungerstreikenden an der Demonstration teil. Die Polizei schnitt den Weg der DemonstrantInnen, die die Parolen „Es lebe Serok Apo“, „Öcalan“ und „Die PKK ist das Volk, und das Volk ist hier“ riefen, durch gepanzerte Fahrzeuge ab, und griff die Protestierenden mit Gasgranaten und Wasserwerfern an. Die lang andauernden Auseinandersetzungen weiteten sie sich auf die Seitengassen aus. Die Jugendlichen verbarrikadierten sich und setzten Autoreifen in Brand. Das wahllose Werfen von Tränengasgranaten provozierte die EinwohnerInnen in den Stadtteilen, so dass auch diese gegen das Vorgehen der Polizei aktiv protestierten. Durch die Angriffe der türkischen Polizei wurden mehrere Menschen verletzt.

Dîlok
Wie auch in vielen anderen Städten blieben an dem heutigen Tag, den die BDP als „zentralen Widerstandstag“ ausgerufen hat, in Dîlok (Antep) die meisten Geschäfte geschlossen. In den frühen Morgenstunden versammelten sich die DemonstrantInnen vor dem BDP-Parteigebäude in Şahinbey und protestierten gegen das Schweigen der türkischen Regierung zum Hungerstreik, der sich mittlerweile am 49.Tag befindet.

Farqîn (Silvan)
In Farqîn versammelte sich eine große Anzahl von Menschen vor der BDP-Parteizentrale. Plakate und Transparente mit den Aufschriften, „Ein Ende der Isolation, Imrali muss geschlossen werden“, „Es lebe der Gefängniswiderstand“ und „Wir grüßen euch mit dem Geist von Kemal Pîr“ wurden in die Luft gehalten. Slogans wie „Es lebe Serok Apo“ und „Es lebe der Gefängniswiderstand“ wurden kontinuierlich gerufen. Während des Demonstrationszuges blockierte die türkische Polizei an der Selahattin Eyyubi Mosche die DemonstrantInnen am Weitergehen. Dagegen wurde mit Parolen wie „Unterdrückung kann uns nicht aufhalten“ und „Es lebe der Gefängniswiderstand“ protestiert. Anschließend wurde eine Pressemitteilung verlesen. Nach einem 5-minütigen Sitzstreik sang die Menschenmenge gemeinsam das bekannte Volkslied „Achse der Revolution“ und schloss damit ihre Protestaktion ab.

Çınar
In Landkreis Çınar (Amed) blieben nach dem Aufruf zum „vollständigen Widerstand“ die Geschäfte geschlossen. Die Menschenmenge, die sich vor der BDP-Parteizentrale versammelte, rief Parolen wie „Es lebe Serok Apo“, „Die PKK ist das Volk, und das Volk ist hier“ und „Es lebe der Gefängniswiderstand“. Als der Demonstrationszug eine Militärstelle passierte, zogen sich die Wache haltenden Soldaten von ihrem Posten zurück.

Erxenî
In Erxenî (Ergani) (Landkreis von Amed) kamen tausende Menschen vor der BDP-Parteizentrale zusammen. Nachdem ein Transparent mit der Aufschrift „Wir begrüßen den Gefängniswiderstand unserer GenossInnen, die das Leben so sehr lieben, dass sie bereit sind dafür zu sterben“ geöffnet wurde, formierte sich die Menschen zu einem Demonstrationszug. Ziel dieser Demonstration war es einen schwarzen Kranz vor die AKP-Parteizentrale zu legen. Die türkische Polizei verhinderte die Demonstration. Nach einem 10 Minuten dauernden Sitzstreik wurde der schwarze Kranz auf die Straße gelegt. Eine Gruppe führte eine Straßenblockade durch. Ein Gebäude, welches zum Landkreisamt gehört wurde in Brand gesetzt. Nach dem Vorfall wurden 2 Personen festgenommen.

Dersim
In Dersim versammelten sich hunderte Menschen vor dem Gebäude der BDP. Sie gingen von dort zur AKP-Zentrale um einen schwarzen Kranz niederzulegen.

Sêrt
In Sêrt (Siirt) wurde die Menschen, die sich vor dem Gebäude der BDP versammelten, von türkischen Polizeieinheiten eingekesselt. Die Protestierenden hatten ein Transparent mit der Aufschrift „Wir begrüßen den Gefängniswiderstand, ihre Forderungen sind unsere Forderungen“ und verlasen eine Presseerklärung. Es wurden die Parolen „Durch Widerstand leisten und Widerstand leisten werden wir den Sieg erreichen“, „Ohne den Vorsitzenden kein Leben“, „Es lebe der Gefängniswiderstand“ und „Die revolutionären Gefangenen sind unser Stolz“ gerufen. Nach einem 5-minütigen Sitzstreik wurde die Protestaktion beendet.

Pîran
In Pîran (Lice) (Landkreis von Amed) versammelten sich die Menschen vor dem „Widerstandszelt“. Sie führten eine Demonstration bis zum Gefängnis von Pîran durch. Dort wurde eine Presseerklärung vorgetragen. Auf dem Rückweg des Demonstrationszuges zum Widerstandszelt griff die türkische Polizei die DemonstrantInnen mit Wasserwerfern und Tränengasgranaten an. Dem Angriff der türkischen Polizei entgegneten die Protestierenden mit Steinen. Die Ausschreitungen verlagerten sich anschließend ins Zentrum.

** Quelle: DIHA, 30.10.2012, Übersetzungskollektiv; mitgeteuilt von ISKU-Informationsstelle Kurdistan e.V.




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