Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der kurdische Knoten

Der türkische Premier Erdogan verweigert hartnäckig Zugeständnisse in der Minderheitenfrage

Von Jan Keetman, Istanbul *

In der Türkei ist die Macht des Militärs gebrochen, das Land will sich eine neue Verfassung geben. Ein besserer Moment, auch die kurdische Frage zu lösen, wäre kaum denkbar. Doch es sieht nicht danach aus.

In der Türkei befinden sich hunderte kurdische Häftlinge im Hungerstreik. In Straßburg tun es ihnen 15 Aktivisten gleich. Sie wollen, dass die Isolation des auf der Insel Imrali gefangenen Vorsitzenden der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, aufgehoben wird. Doch im Hintergrund aller Proteste steht das Fehlen von Fortschritten in der Kurdenfrage.

Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan hat klar gemacht, dass es in der neuen Verfassung nur allgemeine Freiheiten, aber keine Minderheitenrechte geben wird. Mit der PKK will er nicht sprechen, mit der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) nur, wenn sie sich von der PKK distanziert. »Wir als Regierung werden niemals mit einer Terrororganisation verhandeln«, erklärte Erdogan kürzlich.

Bekannt ist jedoch, dass Erdogans Vertrauter Hakan Fidan bis Sommer 2011 in Oslo Geheimverhandlungen mit der PKK führte, nicht im Namen der Regierung, aber in Erdogans Auftrag. Abdullah Öcalan hatte vorher ein Lösungsmodell vorgelegt, das zwar einen Staat, die Türkei, aber zwei Gesellschaften vorsah. Der kurdische Teil sollte auch über eine eigene Streitmacht verfügen. Um Öcalans Vorstellungen zu befördern und die kurdischen Massen zu organisieren, wurde die Vereinigung der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) gegründet. Postwendend wurde die KCK zur terroristischen Organisation erklärt, tausende tatsächliche oder angebliche Mitglieder wurden verhaftet.

Trotzdem verhandelte Hakan Fidan im Geheimen weiter. Im Mai 2011, einen Monat vor den türkischen Parlamentswahlen, erklärte Erdogan die kurdische Frage jedoch für gelöst. Öcalan drohte daraufhin mit der Beendigung des Waffenstillstands der PKK. Der strahlende Wahlsieger Erdogan dachte jedoch nicht daran umzuschwenken, die Verhandlungen wurden abgebrochen.

Die PKK ging denn auch zum Angriff über, obwohl Öcalan zuletzt zur Zurückhaltung geraten hatte. Einige türkische Kommentatoren schlossen daraus, Öcalan habe seinen Einfluss auf die PKK verloren. In Wirklichkeit ging es der Partei wohl darum, Öcalan von der Verantwortung für den Angriff zu entlasten.

Ein Grund für die neue Eiszeit in der kurdischen Frage ist sicherlich die Arbeit an der neuen Verfassung. Warum sollte ein Ministerpräsident, der die kurdische Frage für gelöst erklärt und damit die Wahlen gewonnen hat, den Kurden nun Zugeständnisse in eine neue Verfassung schreiben? Zwar brächte ihm das bei einem Verfassungsreferendum vielleicht ein paar mehr Stimmen von Kurden, aber viele Türken wären sicherlich dagegen. Für Erdogan ist das ein unkalkulierbares Risiko.

Selahattin Demirtas, Kovorsitzender der prokurdischen BDP, wirft dem Regierungschef vor, er habe nie die Absicht gehabt, mit der BDP über die Verfassung zu sprechen. Für die Kurden unterscheide sich die Zeit der Militärputsche nicht von der Gegenwart: »Wir waren damals im Gefängnis und sind heute im Gefängnis.«

Das ist nicht übertrieben: Laut BDP sitzen bereits über 7000 Kurden wegen KCK-Verdachts im Gefängnis. Innenminister Idris Naim Sahin kommt zwar nur auf ein Viertel dieser Zahl, fügt aber hinzu: »Wenn es notwendig ist, werden wir die von der BDP erklärte Zahl auch erreichen.« Nach welchen Kriterien Terrorverdacht angenommen wird, enthüllte Sahin ebenfalls: Man könne Terrorismus auch unterstützen, »indem man Bilder malt, indem man Gedichte schreibt, indem man in der Tagespresse schreibt«. Zwei Journalisten, die den Missbrauch gefangener Jugendlicher aufdeckten, landeten umgehend als KCK-Terroristen im Gefängnis.

»Unsere Geschichte und unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass sich das PKK-Problem nicht mit Krieg und Gewalt lösen lässt«, formuliert Cengiz Candar, einer der besten Kenner der Materie. Also müsse man irgendwann verhandeln oder einen Vermittler einschalten. Das klingt einleuchtend, doch es bleibt die Frage, ob auch Erdogan so denkt. Vielleicht will er das Problem später lösen, vielleicht will er erst Drohnen im Kampf gegen die PKK erproben ... Wer ihn im Wahlkampf bei den Kurden erlebt hat, dürfte indes den Eindruck gewonnen haben, dass er an ganz anderes denkt - an die Stärkung der Religion. Der Islam könnte die Kluft zwischen Kurden und Türken überbrücken und den kurdischen Nationalismus zurückdrängen.

Doch auch das ist nicht neu. Selbst die Generäle haben es schon mit der Religion bei den Kurden versucht. Das Ergebnis waren schwere Kämpfe zwischen der PKK und der kurdischen Hizbullah. Der kurdische Knoten ist noch lange nicht gelöst.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 21. April 2012

Letzte Meldung: Hungerstreik beendet

Über den Newsletter der Informationsstelle Kurdistan e.V. (ISKU) wurde am 20. April eine Pressemitteilung versandt, die wir im Folgenden dokumentieren:

PKK- und PAJK-Gefangene beenden ihren Hungerstreik

Die inhaftierten PKK- und PAJK-Mitglieder, die sich seit dem 15. Februar im unbefristeten Hungerstreik befunden haben, haben erklärt, dass sie ihre Aktionen ab sofort beenden. Ausschlaggebend für diese Entscheidung seien die Reaktionen der Bevölkerung und der Aufruf der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistan KCK gewesen.

Die Verkündung der Beendigung des unbefristeten Hungerstreiks in den Gefängnissen der Türkei tätigte im Namen der PKK- und PAJK-Gefangenen Deniz Kaya. Kaya ging ausführlich auf die Beweggründe des Hungerstreiks ein und betonte hierbei aber auch, dass die Isolation Abdullah Öcalans weiterhin anhalte. Solange die Isolation Öcalans, die Festnahmewellen gegenüber der Bevölkerung und das Verbot für die kurdische Sprache anhalte, werde der Widerstand in aller Härte weiter anhalten, auch wenn die Hungerstreikaktion in den Gefängnissen nun zunächst ein Ende gefunden habe, so Kaya.

Kaya bedankte sich im Namen aller Hungerstreikenden für die Unterstützung des kurdischen Volkes und der Völker der Türkei. Vor allem die revolutionäre und demokratische Öffentlichkeit habe eindrucksvoll ihre Solidarität gegenüber dem Hungerstreik bekundet.

KCK Exekutivkomitee hatte zur Beendigung der Hungerstreiks aufgerufen

Am Tag zuvor hatte das Exekutivkomitee der KCK sowohl an die Hungerstreikenden in den Gefängnissen der Türkei als auch an die Hungerstreikenden in Straßburg appelliert, ihre Aktionen neu zu bewerten und gegebenenfalls zu einem Ende zu bringen. Die Hungerstreikenden dürften den Grundsatz des PKK-Vorsitzenden Öcalan, dass gerade auch im Widerstand es möglichst zu keinen Todesfällen kommen dürfte, nicht außer Acht lassen. Aus Sicht der gewissenhaften Menschen, die an die Werte der Demokratie und Menschenrechte gebunden seien, habe die Aktion bereits ihre Mission erfüllt.

Zugleich kritisierte die KCK die Haltung des Europarates und des CPT. Diese würden durch ihre Tatenlosigkeit dazu beitragen, dass die AKP-Regierung in ihrer kurdenfeindlichen Politik gestärkt wird. Daher seien der Europarat und das CPT in ihrer gegebenen Position Unterstützer eben dieser Politik.

Hinsichtlich des Hungerstreiks in Straßburg wiederholte die KCK seine bereits zuvor gemachte Aussage, dass die Initiative bei den Hungerstreikenden selbst liege. Allerdings habe die Aktion, die nun über 50 Tage anhält, ihren Zweck erfüllt. Die Hungerstreikenden sollten vor dem Hintergrund, dass der Vorsitzende nicht wolle, dass im Widerstand möglichst keine Todesfälle in Kauf genommen werden sollten, ihre Situation nochmals neu bewerten.

Die KCK verkündete abschließend, dass die Hungerstreiks auch als eine Warnung an die AKP-Regierung verstanden werden sollten. Werde sich an den Isolationsbedingungen Öcalans sowie an der antikurdischen Politik der Regierung nichts verändern, werde die KCK ihren Widerstand auf allen Ebenen weiter erhöhen.

Quelle: ANF, 20.04.2012, ISKU-Informationsstelle Kurdistan e.V.




Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage