Fasten für Dialog
Hungerstreikende in Strasbourg und der Türkei fordern politische Lösung der kurdischen Frage
Von Nick Brauns *
Am Sonntag haben kurdische Aktivisten ein Ausflugsschiff auf dem Rhein bei Köln gekapert. Bereits nach kurzer Zeit beendete die Wasserschutzpolizei die unbewaffnete Aktion, die auf die Situation hungerstreikender Kurden aufmerksam machen sollte. Seit dem 1. März befinden sich 15 kurdische Aktivisten und Exilpolitiker vor der St.-Maurice-Kirche im französischen Strasbourg in einem unbefristeten Hungerstreik. Ihr Protest knüpft an einen bereits Mitte Februar begonnenen Hungerstreik von über 400 politischen Gefangenen in türkischen Gefängnissen an, dem sich zwischenzeitlich über 1000 weitere Gefangene angeschlossen haben. Die Hungerstreikenden wollen mit ihrem zunehmend lebensbedrohlichen Protest auf die andauernde Unterdrückung der Kurden in der Türkei hinweisen und fordern eine politische Lösung der kurdischen Frage durch einen Dialog des Staates mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
Europaweit haben sich tausende Kurden an befristeten Solidaritätshungerstreiks beteiligt. Bereits mehrfach fanden spektakuläre Aktionen statt mit dem Ziel, das Schweigen der Medien zu durchbrechen. Bereits Ende März besetzte eine Gruppe Jugendlicher den Eifelturm in Paris.
Zentrales Anliegen der Hungerstreikenden ist, auf die Situation des seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan aufmerksam zu machen, den Millionen Kurden als ihren politischen Repräsentanten begreifen. Im Herbst 2010 hatte die türkische Regierung den Beginn eines Dialoges mit Öcalan eingestanden. Doch nach den Parlamentswahlen im Sommer 2012, aus denen sowohl die islamisch-konservative Regierungspartei AKP als auch die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) gestärkt hervorgingen, setzten sich die Hardliner im Staatsapparat mit ihrem Beharren auf einer repressiven Lösung durch. Über Öcalan wurde seit dem 27. Juli eine vollständige Kontaktsperre verhängt; weder Anwälte noch Familienmitglieder dürfen den Gefangenen besuchen, der Postverkehr wurde unterbunden.
Gesundheitszustand und Sicherheit Öcalans müßten auf die Tagesordnung der europäischen Institutionen gesetzt werden, fordern die Hungerstreikenden in Strasbourg vom Antifolterkomitee des Europarates (CPT) und verlangen einen Besuch auf der Gefängnisinsel Imrali. Neben der Kommunistischen Partei Frankreichs und Bundestagsabgeordneten der deutschen Linkspartei äußerte auch der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu seine Besorgnis über die Isolationshaft von Öcalan.
In der Türkei befinden sich rund 9000 zivile kurdische Aktivisten und Politiker in Haft, darunter 31 Bürgermeister und sechs Parlamentsabgeordnete. Bei Militäroperationen wurden neben Guerillakämpfern in den letzten Monaten auch Dutzende Zivilisten getötet. »Mittäter bei diesem Staatsterror der Türkei gegen die Kurden sind auch die USA und die Europäische Union«, heißt es in einer Erklärung der Hungerstreikenden. »Die USA und die EU unterstützen den türkischen Staat auch aktiv in diesem Krieg: militärisch, politisch, ökonomisch sowie diplomatisch.«
Der Gesundheitszustand der Hungerstreikenden verschlechtert sich zusehends. So wurde mit der 28jährigen Gülistan Hasan am Sonntag bereits die vierte Teilnehmerin in ein Krankenhaus eingeliefert, wo sie allerdings jegliche Behandlung verweigerte. In der bislang einzigen Reaktion des Europarates auf die kurdischen Proteste zeigte sich dessen Generalsekretär Thorbjörn Jagland am Wochenende »äußerst besorgt um die Gesundheitslage« der Hungerstreikenden. Zudem bezeichnete der norwegische Sozialdemokrat die Aktion als »kontraproduktiv«, da die Institutionen des Europarates ihrer Arbeit nur ohne äußeren Druck effektiv nachgehen könnten.
* Aus: junge Welt, Dienstag, 17. April 2012
An das Auswärtige Amt
Seit Mitte Februar befinden sich ca. 1500 politische Gefangenen in der Türkei - und seit dem 1. März 2012 fünfzehn KurdInnen aus Europa in Straßburg - in einem unbefristeten Hungerstreik. Sie wenden sich damit gegen die Politik des türkischen Staates gegenüber der kurdischen Bevölkerung. Viele der Hungerstreikenden befinden sich mittlerweile, aufgrund der langen Dauer des Hungerstreiks, in einem kritischen, lebensgefährlichen Zustand.
Die Hungerstreikenden fordern eine friedliche Lösung der kurdischen Frage, die Freilassung der ca. 9000 kurdischen politischen Gefangenen und die Anerkennung Abdullah Öcalans als Verhandlungspartner in einem Friedensdialog. Der kurdische Politiker befindet sich seit mehr als 230 Tagen auf der Gefängnisinsel Imrali in totaler Isolationshaft ohne Kontakt zu AnwältInnen und Verwandten. Öcalan kann eine ähnliche Rolle zur Konfliktlösung spielen wie Nelson Mandela in Südafrika, so die Hungerstreikenden. Zudem fordern sie, dass das »Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe« (CPT) sich intensiver mit den Bedingungen der absoluten Isolation des Politikers auseinandersetzt und ihn besucht, um die menschenrechtswidrige Totalisolation zu überwinden.
Seit den Kommunalwahlen 2009 ließ die Regierung Erdogan im Rahmen der „KCK Verfahren“ mehr als 6500 kurdische PolitikerInnen und MenschenrechtlerInnen inhaftieren. Darunter befinden sich u.a. 6 ParlamentarierInnen, 31 BürgermeisterInnen, 36 AnwältInnen und über 100 JournalistInnen und unzählige Frauenaktivistinnen. Zudem befinden sich mehr als 2000 Kinder in türkischen Gefängnissen. Erst kürzlich wurden mehrere Fälle von systematischen Vergewaltigungen von Kindern durch Wärter bekannt. Im Jahr 2011 wurden 1555 Fälle von Folter sowie 1421 Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen angezeigt, jegliche Opposition kriminalisiert. Seit 2009 häufen sich die Berichte über Kriegsverbrechen der türkischen Armee, bis hin zu Chemiewaffeneinsätzen. Seit den Parlamentswahlen 2011 fliegt die türkische Armee nahezu jeden Tag völkerrechtswidrige Bombardements gegen vermeintliche Stellungen der PKK im Nordirak. Viele ZivilistInnen kamen dabei ums Leben. 34 ZivilistInnen wurden vor kurzem vom türkischen Militär in Roboski/Sirnak getötet. Mitglieder einer Parlamentskommission stellten fest, dass die Verantwortlichen im vollen Bewusstsein, dass es sich um ZivilistInnen handelte, den Befehl zum Bombardement gaben. Am 21. März hat R.T Erdogan eine erneute militärische Offensive angekündigt.
Wir sind der Ansicht, dass eine friedliche Lösung der kurdischen Frage möglich ist und nur durch einen Dialog zwischen der türkischen Regierung der BDP, der PKK und Abdullah Öcalan vorangetrieben werden kann. Auch die Bundesregierung hat in der Antwort auf die kleine Anfrage 17/4937 Folgendes zum Ausdruck gebracht: „In ihren Gesprächen mit der türkischen Seite weist die Bundesregierung regelmäßig darauf hin, dass Lösungen nur durch Gespräche gefunden werden können.“
In diesem Sinne denken wir, dass die Bundesregierung und das Auswärtige Amt in der Verantwortung sind, Druck auf die türkische Regierung auszuüben. Diese muss die Menschenrechte und das Völkerrecht einhalten und einen Dialog suchen.
Einer der nächsten Termine für eine europaweite Friedensinitiative ist unserer Ansicht nach die Sitzung des Europarats am 23. April 2012.
Wir fordern daher die Verantwortlichen auf, im Verlauf dieser Sitzung tätig zu werden und Schritte zur Ermöglichung einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage zu unternehmen. In diesem Sinne ist es unserer Ansicht nach auch notwendig, die Kriminalisierung der politisch tätigen KurdInnen in Europa und insbesondere der Bundesrepublik zu beenden. Legitime politische Arbeit als Terrorismus zu definieren, unterstützt im Fall der KurdInnen diejenigen Kräfte in der Türkei, die einen endlosen Krieg führen wollen. Ein Friedensdialog wird auf diese Weise, durch eine verfehlte strategisch-wirtschaftlich orientierte Politik, verhindert.
Um das Leben der Hungerstreikenden zu retten, ist es notwendig, positive Signale zu setzen – denn ihre Forderungen sind berechtigt. Ein drastischer Schritt wie ein Hungerstreik wird nur von Menschen gegangen, die aufgrund von Unterdrückung, Unrecht und Ignoranz gegenüber berechtigten Anliegen verzweifelt sind und keinen anderen Ausweg sehen.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung und die verantwortlichen PolitikerInnen auf, ihre Politik zu überdenken und die Menschenrechte, die Würde des Menschen und einen Weg zum Frieden ins Zentrum des politischen Handelns in Bezug auf die kurdische Frage und die außenpolitischen Beziehungen zur Türkei zu stellen.
Hochachtungsvoll,
Heidrun Dittrich, Mitglied des Bundestags (MdB), Die Linke
Andrej Hunko, MdB, Die Linke, Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats
Harald Weinberg, MdB, Die Linke
Cansu Özdemir, Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft, Die Linke
Bärbel Beuermann, Stadträtin Herne, Die Linke
Marion Padua, Linke Liste, Nürnberg
Murat Cakir, Kolumnist
Yilmaz Kaba, Landesvorstand Niedersachsen, Die Linke
Hamide Akbayir, ehem. Mitglied des Landtags (MdL) NRW, Die Linke
Barbara Cárdenas, MdL Hessen, Die Linke
Ali Atalan, ehem. MdL NRW, Die Linke
Martin Dolzer, Soziologe
Prof. Dr. Werner Ruf, Friedensforscher
Dr. Peter Strutynski, Bundesausschuss Friedensratschlag
Britta Eder, Rechtsanwältin
Dr. med. Gisela Penteker, Türkeibeauftragte IPPNW
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