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Terrorangriff auf Sozialisten

Türkische Regierung nutzt nationalistische Ausschreitungen als Druckmittel bei Friedensverhandlungen

Von Nick Brauns *

Unter den Augen der Polizei hat ein faschistischer Mob in der türkischen Schwarzmeerstadt Sinop am Montag stundenlang eine Gruppe Parlamentsabgeordneter des links-kurdischen Blocks terrorisiert. Der Demokratische Kongreß der Völker (HDK), ein Dachverband der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) und sozialistischer Parteien, hatte auf einer Tour durch die Schwarzmeerregion für die laufenden Friedensgespräche zwischen dem inhaftierten Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, und Vertretern der Regierung werben wollen. Doch schon Tage vor der angekündigten Rundreise hatten faschistische Verbände wie die Grauen Wölfe zu Protesten aufgerufen. Hotel- und Gaststättenbesitzer weigerten sich, der HDK-Delegation Räume für Pressekonferenzen zur Verfügung zu stellen.

Als die türkischstämmigen sozialistischen Abgeordneten Levent Tüzel, Sirri Süreyya Önder und Ertugrul Kürkcü sowie die kurdische Abgeordnete Sebahat Tuncel eine Pressekonferenz in einem Lehrersozialheim in Sinop abhielten, versammelten sich Hunderte Nationalisten vor dem Gebäude. Der Mob, unter dem sich Graue Wölfe ebenso wie Kemalisten befanden, skandierte »Die PKK wird in Sinop keinen Platz bekommen« und »Das Vaterland ist unteilbar«. Fernsehaufnahmen zeigen, wie Polizisten tatenlos zuschauten, als der Mob die Fahrzeuge der Abgeordneten schwer beschädigte und plünderte, Polizei­sperren überrannte und das Lehrerheim mit Steinen bewarf. Zwei Faschisten, die eine türkische Fahne auf dem Dach befestigen wollten, wurden von der Polizei durch die Hintertür in das Gebäude geleitet.

Die HDK-Delegation verbarrikadierte sich mit Stühlen in einem Versammlungsraum. »Dieser Angriff ist eine organisierte Operation«, erklärte der von dort in eine Live-Sendung des kurdischen Satellitensenders Nuce zugeschaltete Abgeordnete Önder unter Verweis auf die bereits am Tag zuvor in den Straßen aufgehängten Plakate mit Haßparolen. »Seit Stunden hat die Polizei nichts unternommen. Die türkische Gladio ist bei der Arbeit.« Erst nach neunstündiger Belagerung konnte die HDK-Delegation in der Nacht zum Dienstag das Gebäude verlassen und begleitet von Polizeipanzern in die Stadt Samsun weiterfahren. Hier haben Faschisten weitere Aktionen angedroht.

Die weitgehende Tatenlosigkeit der Polizei ist ein Hinweis dafür, daß die islamisch-konservative AKP-Regierung die nationalistischen Ausschreitungen bewußt als Druckmittel gegen ihrer Meinung nach zu weitgehende Forderungen der kurdischen Seite während der laufenden Friedensgespräche einsetzt. So hatte der stellvertretende Ministerpräsident Bekir Bozdag am Montag eine zuvor in der britischen Tageszeitung Guardian veröffentlichte Anzeige der »Internationalen Initiative Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« als »Sabotage des Friedensprozesses« bezeichnet, da die türkische Öffentlichkeit provoziert werde. Prominente Unterzeichner wie der frühere südafrikanische Präsident Nelson Mandela, der irisch-republikanische Politiker Gerry Adams, Friedensnobelpreisträger José Ramos-Horta sowie die Wissenschaftler Noam Chomsky und Immanuel Wallerstein hatten in der Anzeige die Freilassung Öcalans als wichtigen Schritt für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage bezeichnet.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 20. Februar 2013


Faschistischer Angriff auf HDK-Delegation **

Die Delegation des Demokratischen Kongress der Völker (HDK), die sich auf Rundreise in der Schwarzmeerregion befindet, wurde in Sinop Opfer eines Lynch-Angriffs von türkischen Faschisten. Die Delegation musste stundenlang in den Räumlichkeiten der Lehrergesellschaft ausharren. Für den Vorfall macht die HDK die türkische Regierung und dessen Gouverneur verantwortlich.

Die Delegation, die unter anderem aus dem BDP-Abgeordneten aus Istanbul Sırrı Süreyya Önder und Sebahat Tuncel, dem linken türkische Abgeordneten Levent Tüzel und dem BDP-Abgeordneten aus Mersin Ertuğrul Kürkçü besteht, ist im Haus der Lehrergesellschaft mit der Presse zusammengekommen. Die Abgeordneten, die im Rahmen der Kampagne „Verhandlungen für eine Lösung, Gleichheit für den Frieden“ nach Sinop gekommen sind, wurden von Faschisten belagert. Die Zahl der faschistischen Gruppe stieg immer weiter an und die Polizisten schauten tatenlos zu.

Die Gruppe rief Parolen wie „Nieder mit der PKK“, „Wir wollen in Sinop keine PKK“ und hängte vor dem Eingang des Gebäudes eine türkische Flagge auf. Zudem wurden die Fahrzeuge der Abgeordneten angegriffen, die Fenster zerschlagen und die Autos geplündert.

Geplanter Angriff

Es wurde bekannt, dass sich die Gruppe als „Sinop Jugend-Plattform“ über die sozialen Netzwerke organsiert hat. In der Nähe der Lehrergesellschaft befinden sich viele Schulen. Die Grund- und OberstufenschülerInnen sind zu dem Gebäude gebracht worden. Zudem haben die Faschisten Flugblätter mit der Aufschrift „Lasst und die Stadt mit Flaggen voll hängen“, verteilt, um die ankommende HDK-Delegation zu provozieren. Auffallend zu beobachten war, dass die Polizei nicht gegen die faschistische Gruppe vorging.

Laut dem BDP-Abgeordneten Sirri Sürreya Önder, war eine Person aus der Gruppe, die ihn beleidigte, ein Zivil-Polizist. Zu einem Leiter der Sicherheitsbehörden sagt Önder: „In unserer Geschichte gab es öfter solche Vorfälle. Wenn ihr euch nicht um unserer Sicherheit kümmert, werden wir uns selbst darum kümmern.“

Sirri Sürreya Önder erklärte: „Sie haben uns umzingelt. Es ist klar, dass diese Lynch-Gruppe über Facebook organsiert ist. Sie haben ein Plakat vorbereitet. Auf dem Plakat steht:‘Wir wollen in Sinop keine PKK, haut ab‘.(...) Sie haben die Fenster des Gebäudes eingeschlagen und wollten über das Dach hinein. Die Polizei sagte zu uns, dass sie nicht eingreifen werde, damit die Situation nicht eskaliere.“

Die HDK-Delegation wollte im Rahmen der Kampagne „Verhandlungen für eine Lösung, Gleichheit für den Frieden'' vom 17. bis 21. Februar nach Çorum, Sinop, Samsun, Giresun, Ordu und Trabzon fahren.

HDK beschuldigt die Regierung

Die HDK hat zu den Vorfällen in Sinop eine Erklärung abgegeben, dass man zu den Angriffen nicht schweigen darf. Am selben Abend gab es in mehreren Städten, wie z.B. Ankara und Amed (Diyarbakir) Proteste. Der HDK-Vorstand hat in einer Stellungnahme die Regierung für die faschistischen Angriffe auf die Delegation, verantwortlich gemacht.

** Quelle: YÖP, 19.02.2013, ISKU-Informationsstelle Kurdistan e.V. (Newsletter, 20.02.2013)




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