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"Ein historischer Wendepunkt für die Türkei"

Erstmals konnte sich eine Regierung dem Willen der Militärs widersetzen / Generäle geben sich nicht geschlagen

Der dritte Wahlgang ist inzwischen erfolgt. Der Kandidat der Regierungspartei AKP, Abdullah Gül, ist vom Parlament mit der erforderlichen absoluten Mehrheit zum Präsidenten der Türkei gewählt worden. Im folgenden dokumentieren wir ein Gespräch mit einem türkischen Staatsrechtlers über dieses Ereignis. (Das Gespräch wurde vor dem dritten Wahlgang geführt und veröffentlicht; an der Wahl von Gül konnte aber kein Zweifel bestehen.) Außerdem fügen wir noch eine kleine Auswahl von Pressekommentaren nach erfolgter Wahl hinzu.



Präsidentenwahl im türkischen Parlament: Alle Zeichen stehen auf Abdullah Gül
Heute (28. August) stellt sich der Kandidat der gemäßigt-islamischen Regierungspartei AKP, Abdullah Gül, erneut der Wahl zum Staatspräsidenten der Türkei – und dürfte diesmal, nach insgesamt vier erfolglosen Anläufen, einer Putschdrohung des Militärs und vorgezogenen Neuwahlen tatsächlich bestätigt werden. Mit dem Staatsrechtler und Publizisten Prof. Dr. Mithat Sancar (44) sprach in Ankara für das "Neue Deutschland" (ND) Nico Sandfuchs über die Hintergründe des Machtkampfes.

ND: Im Frühjahr scheiterte die Wahl Abdullah Güls vor allem an den türkischen Militärs. Heute aber kandidiert Gül erneut. Worum geht es bei der Abstimmung im Parlament?

Mithat Sancar : Es tobt ein Machtkampf zwischen den Militärs und der Regierungspartei AKP. Das Militär ist eines der wichtigsten Machtzentren in der türkischen Politik. Und eines der wichtigsten Machtmittel der Generäle, mit dem sie bislang ihre politische Stellung gesichert haben, ist das Amt des Staatspräsidenten. Obwohl die Türkei eine parlamentarische Demokratie ist, kommt dem Staatspräsidenten eine vergleichsweise größere Machtfülle zu, als es in einem klassischen parlamentarischen System der Fall ist. So vergibt der Präsident zum Beispiel die wichtigsten Ämter in der Justiz oder im Universitätswesen. Er ernennt auch den Generalstabschef. Die Militärjunta des Putsches von 1980, die die heute gültige Verfassung gestaltet hat, ist fest davon ausgegangen, dass das Präsidentenamt immer unter der Kontrolle des Militärs bleiben würde – und hat es aus diesem Grunde mit vergleichsweise viel Macht ausgestattet. Als im Frühjahr dann deutlich wurde, dass die AKP mit ihrer überragenden Mehrheit einen Kandidaten aus den eigenen Reihen ins Präsidentenamt wählen würde, schrillten bei den Generälen natürlich alle Alarmglocken. Denn das Militär sieht die AKP zu Recht als Bedrohung seiner machtpolitischen Stellung innerhalb des Systems. Deshalb sollte die Kandidatur Güls verhindert werden.

Wie wollten die Militärs dies erreichen?

Am 12. April hat Generalstabschef Büyükanit erstmals sein Unbehagen über einen Kandidaten aus den Reihen der AKP deutlich gemacht – was aber von niemandem so richtig ernst genommen wurde. Daraufhin kam es zu dem Memorandum vom 27. April, das vielfach als Putschdrohung interpretiert worden ist.

Das Memorandum erging nur wenige Tage, bevor das von der Opposition angerufene Verfassungsgericht über eine Annullierung des ersten Wahlgangs entscheiden sollte.

Genau. Bis dahin hatte niemand daran geglaubt, dass das Verfassungsgericht den ersten Wahlgang für ungültig erklären würde. Aber in der Türkei gibt es staatliche Institutionen, die ihre Antennen sehr sensibel danach ausrichten, was das Militär sagt. Folgerichtig hat das Verfassungsgericht am 1. Mai plötzlich entschieden, den ersten Wahlgang zu annullieren. Das Memorandum der Militärs war also der zunächst erfolgreiche Versuch, seinen politischen Willen durchzusetzen, ohne zur Ultima Ratio eines offenen Putsches greifen zu müssen.

Dennoch wird Gül heute wahrscheinlich zum Präsidenten gekürt.

Dies liegt daran, dass die AKP taktisch überaus geschickt vorgegangen ist. Als deutlich wurde, dass das Militär in die Politik intervenieren würde, hat sie umgehend das Parlament aufgelöst. Die AKP hat also nicht die direkte Konfrontation mit den Militärs gesucht, die sie ohnehin nicht hätte gewinnen können, sondern sie hat den Machtkampf vor das Volk getragen.

Ist eine drohende Militärintervention am Ausgang der Wahl gescheitert?

Ja, das war der wichtigste Faktor. Fast 47 Prozent der Bevölkerung haben bei den Wahlen vor fünf Wochen für die Regierung gestimmt. Das ist ein sehr großer Vertrauensbeweis, der einer Militärintervention jegliche Legitimation entzogen hat. Anders als bei dem Putsch von 1980, als eine bürgerkriegsähnliche Atmosphäre herrschte und das politische System lahmgelegt war, kann das Militär heute dem Volk auch nicht vorgaukeln, als angeblich »überparteiischer Dritter« der »Retter der Nation« zu sein. Im Gegenteil, das politische System der Türkei ist stabil und funktionsfähig. Und im Gegensatz zu 1980 ist das Militär heute ganz offensichtlich selbst eine Partei im Machtkampf – und darüber hinaus auch einer der größten Krisenfaktoren innerhalb des Systems. Ein Putsch würde also heutzutage weder die Billigung der Bevölkerung finden, noch wäre er durch die politische Lage des Landes zu rechtfertigen. Aus diesen Gründen konnten die Generäle ihre Drohungen vom 27. April auch nicht in die Tat umsetzen.

Wie wird es nach der Wahl nun weitergehen?

Die Generäle haben eine Runde im Machtkampf verloren. Aber sie werden weiterhin über die Institutionen und die Kanäle, die ihnen zur Verfügung stehen, für ihren Machterhalt kämpfen. Dies wird auch künftig für Spannungen sorgen. In vielerlei Hinsicht sind die derzeitigen Vorgänge in der Türkei überaus bedeutsam. Erstmals ist es nämlich einer Regierung gelungen, sich dem Willen des Militärs erfolgreich zu widersetzen. Und das Wahlergebnis, wie auch das Unbehagen, das sich in weiten Teilen der Gesellschaft gegen die politische Einmischung des Militärs herausgebildet hat, haben darüber hinaus gezeigt, dass in den letzten Jahren eine zivile politische Kultur in der Türkei entstanden ist. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für eine weitere Demokratisierung des gesellschaftlichen Systems und ein Ende der militärischen Vormundschaft. Ich bin mir sicher, dass deshalb dieser Prozess insgesamt als ein entscheidender Wendepunkt in die politische Geschichte der Türkei eingehen wird.

Hintergrund: Präsident mit beschränkter Macht

Die türkische Verfassung beschreibt das Amt des Präsidenten als das einer überparteilichen Autorität, deren politischer Einfluss mehr in der Persönlichkeit des Amtsinhabers als in tatsächlichen Befugnissen liegt:
Wählbarkeit: Die Kandidaten müssen älter als 40 Jahre sein und über einen Hochschulabschluss verfügen.
Unparteilichkeit: Einmal gewählt, muss der Präsident alle seine Verbindungen zu seiner politischen Partei abbrechen und sein Abgeordnetenmandat aufgeben.
Vetorecht: Der Präsident kann ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz einmal in die Kammer zurückschicken. Wenn es zum zweiten Mal in gleicher Form verabschiedet wird, muss er es entweder bestätigen oder dem Verfassungsgericht vorlegen.
Volksabstimmungen: Verfassungsänderungen kann der Präsident einer Volksabstimmung unterwerfen.
Neuwahlen: Der Präsident kann vorgezogene Neuwahlen einberufen, wenn die Regierungsbildung nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen zustande kommt, wenn eine Regierung eine Vertrauensabstimmung verliert oder wenn ein Misstrauensvotum gegen sie verabschiedet wird.
Ernennungen: Der Präsident ernennt den Ministerpräsidenten, die Mitglieder des Verfassungsgerichts und anderer staatlicher Institutionen, die Rektoren der Universitäten, den Generalstaatsanwalt und die Botschafter der Türkei. Ausnahmezustand: Der Präsident kann die Mobilmachung anordnen und den Belagerungs- oder Ausnahmezustand verhängen.
(AFP/ND)



* Aus: Neues Deutschland, 28. August 2007


K o m m e n t a r e

Präsident mit Kainsmal

Von Uwe Sattler

Es bleibt ein Unbehagen nach der Wahl des neuen türkischen Präsidenten. Nicht nur, weil es insgesamt vier Anläufe und vorgezogene Neuwahlen erforderte, um Abdullah Gül in das höchste Staatsamt zu hieven. Es ist vor allem das Kainsmal, das der AKP, der Partei Güls und des Premiers Erdogan, anhaftet: islamistisch. Rational begründen lässt sich die Sorge allerdings nicht. Zumal das Raster »Islamisten gleich Gestrige« und »Säkularisten gleich Modernisierer« nicht funktioniert, schon gar nicht in der Türkei. Erdogan hat das Land nicht in mittelalterliche Zeiten zurückgeführt. Dagegen sind wirtschaftlicher Aufschwung und die im Zusammenhang mit den EU-Beitrittsplänen eingeleiteten Reformen im Staatswesen unverkennbar. Wobei die Frage steht, ob Brüsseler Kriterien das Maß aller Dinge sind und die Aufnahmegespräche mit der nötigen Zielstrebigkeit geführt werden.

Ganz sicher trügerisch ist es dagegen, das Militär als Garant für Laizismus und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei zu betrachten. Dass eine Reihe der Reformen nicht in der Realität angekommen ist, liegt am nahezu unkontrollierbaren Militär- und Sicherheitsapparat. Auch die wenig verhohlenen Putschdrohungen gegen die Staatsspitze sprechen kaum für Demokratieverständnis. Dass die Armeeführung mit dem Ausgang der Neuwahlen und der Ernennung Güls in die Schranken gewiesen wurde, dürfte das wichtigste Ergebnis des monatelangen Tauziehens sein.

Aus: Neues Deutschland, 29. August 2007


Der lange Weg der Türkei

VON RICHARD MENG (Auszug)

Abdullah Gül als einer, der das antiaufklärerische "Böse" verkörpert? Schwer vorstellbar bisher, was beim neuen türkischen Präsidenten den Militärs als reale Gefahr erscheint. Dazu ist Gül zu wenig Führungsfigur. Der starke Mann der gemäßigten Islamisten heißt weiter Erdogan, ist Regierungschef und hat mit Gül nur erfolgreich einen Mann seiner Gnade installiert. Gül, als nahbarer Diplomat bekannt, ist wahrlich nicht das Hauptproblem, wenn es um den künftigen Kurs der Türkei geht. Es liegt in der inneren Zerrissenheit des Landes, in dem es neben bemerkenswerten gesellschaftlich-kulturellen Fortschritten auch die Radikalisierung auf der Gegenseite, bei den konservativen Islamisten, gibt.
(...)
Aus: Frankfurter Rundschau, 29. August 2007


Das türkische Paradoxon

von Soli Ozel (Auszug)

Zahlreiche ausländische Beobachter beschrieben die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen als einen Wettstreit zwischen der säkularen Vergangenheit der Türkei und ihrer mutmaßlich islamistischen Zukunft. Aus der Nähe betrachtet handelt es sich dabei jedoch eigentlich um eine Auseinandersetzung zwischen einer offenen und einer introvertierten Türkei, zwischen ziviler, demokratischer Ordnung und Militärherrschaft sowie zwischen einer sich globalisierenden und einer protektionistischen Ökonomie.
(...)
Viele Beobachter rechneten mit einer militärischen Intervention nach dem Sieg der AKP bei den Parlamentswahlen im Juli und jetzt nach Güls Wahl zum Präsidenten. Obwohl das Militär als Bastion des säkularen Establishments mit diesen Ergebnissen zweifellos keine Freude hat, ist ein Staatsstreich jedoch praktisch ausgeschlossen.

Ein Grund dafür ist, dass die Beziehungen zwischen dem Militär und der islamistischen Bewegung komplizierter sind, als es bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein hat. Als das Militär im Jahr 1997 die islamistisch dominierte Regierung unter Necmettin Erbakan stürzte, zerbrach die islamistische Bewegung. Die jüngeren, moderneren und aufgeschlosseneren Elemente wandten sich von der traditionellen, antiwestlichen und antisemitischen älteren Generation ab.
(...)
Die islamistische Bewegung wurde in der Türkei in den politischen Mainstream integriert. Die Vertreter eines wirtschaftlich dynamischen und sozial konservativen Kernlandes bewegen die Türkei in Richtung Reform. Das republikanische Projekt der Modernisierung wird durch eine noch umfangreichere Mobilisierung der Gesellschaft fortgeführt. Die Türkei wird daher als einzigartiges Konglomerat aus Islam, Kapitalismus und säkularer, liberaler Demokratie weiterbestehen. Und allen Unkenrufen im Gefolge der Krise um Abdullah Güls Kandidatur zum Trotz: Bis jetzt hat die Türkei diese Herausforderung gut gemeistert.

Aus: Der Standard (Österreich), 29. August 2007


Wer hat Angst vor Abdullah Gül? (Auszug)

(...)
Die Partei von Präsident Gül und Ministerpräsident Erdogan muss jetzt, will sie ihr demokratisches Mandat absichern, die bereits in Angriff genommene Reform der Streitkräfte vertiefen und das Prinzip der Unterordnung des Militärs unter die Politik in der Kultur des Landes verankern. Diese Aufgabe verlangt Fingerspitzengefühl und Augenmass, für Triumphalismus besteht nicht der geringste Anlass.

Im Übrigen hat es die AKP, die jetzt Parlament, Staatspräsidium und Regierung beherrscht, in der Hand, den Prozess der Anpassung der türkischen Gesetze und Verordnungen an europäische Normen wiederaufzunehmen. Damit könnte sie die auch im Ausland noch weitverbreiteten Zweifel an ihrem Bekenntnis zu Mässigung und Toleranz aus dem Weg räumen; sie könnte den Skeptikern beweisen, dass ihre Spielart des Islamismus mit Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und repräsentativer Demokratie durchaus vereinbar ist.

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 29. August 2007


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