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Der Geist der Gezi-Bewegung lebt weiter

Ein Besuch Istanbuls auf den Spuren der Massenproteste am Taksim-Platz

Von Pedram Shahyar, Istanbul *

An Plänen, den Gezi-Park zu bebauen, hatten sich in der Türkei landesweit Proteste entzündet. Sie flammen vor allem in der Millionenmetropole Istanbul immer wieder auf.

Die Sommerabende auf dem Taksim-Platz im Herzen Istanbuls sind warm und lang. Knapp zwei Monate sind nun vergangen, seit riesige Demonstrationen und tagelange Straßenschlachten die Türkei erschütterten. Immer wieder gibt es kleinere Demonstrationen von einigen Hunderten. Auch sie werden von den Sicherheitskräften zu unterbinden versucht. So schossen Polizisten letzte Woche wieder mit Tränengas und Gummigeschossen auf Demonstranten in der hochbelebten Istiklal-Straße am Taksim. Die Spuren der großen Tage des Widerstands sind aber weitestgehend verwischt, fast alle Gebäude frisch gestrichen. Grauer Zement an Wänden und Monumenten verdeckt die Graffiti und Parolen der wilden Tage im Mai und Juni.

»Es ist ein schweres Grau, ein Symbol der Mächtigen, das die Träume einer rebellierenden Generation einbetonieren soll«, beschreibt Feride Eralp ihren Eindruck, während sie uns zu dem Platz führt. Sie erinnert sich genau an die Proteste. »Alle haben damals Barrikaden gebaut, es war eine Art Volkssport.« In langen Menschenketten wurde alles zu diesem Platz getragen, was nicht niet- und nagelfest war. An einer Barrikade hatten sie sogar eine Tür eingebaut. »Die Leute sahen sie irgendwie als ihre Kunstwerke an«, sagt Feride lächelnd.

Als die »Taksim-Solidaritätsplattform« (TSP), ein Zusammenschluss von 80 an der Besetzung beteiligten politischen Gruppen, entschied, die Barrikaden zu räumen, hätten sich vor allem die unorganisierten Menschen aufgeregt. »Sie hatten ein emotionales Verhältnis zu den Barrikaden entwickelt, die sie tagelang mit Freude und unter ständigen Attacken der Polizei aufgebaut hatten. Sie sahen es überhaupt nicht ein, diese zu räumen, und haben sie bis zum letzten Moment verteidigt.«

Wir spazieren die Treppen hoch und betreten den Gezi-Park. Die Pläne, diese wunderschöne Grünfläche inmitten der geschäftigen Metropole zu zerstören und durch ein Einkaufszentrum zu ersetzen, hatten die Proteste Ende Mai ausgelöst. Zunächst waren es nur einige Dutzend, die den Park besetzt hielten. Als die Polizei mit äußerster Brutalität die Menschen zu vertreiben versuchte, ging in Istanbul eine Bombe hoch, deren Feuer auf die ganze Türkei übergriff.

»Ich habe immer noch ein komisches Gefühl, hierher zu kommen«, sagt Feride, sie spricht dabei eher zu sich. Tagelang hatte sie hier gewohnt und mit Tausenden eine Art alternativen Mikrokosmos aufgebaut, den die Linken »Die Kommune« nennen. »Schau«, dreht sie sich zu mir, als wir uns hinsetzen. »Genau an dieser Stelle war unser ›Laden für Revolutionsbedarf‹ – natürlich alles umsonst.« Während der Gezi-Besetzung war im Park das Geld abschafft: Durch Spenden wurde die gesamte selbstverwaltete Versorgung finanziert. Straßenhändler durften nur draußen an den Eingängen verkaufen.

Als der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan Mitte Juni zurückruderte und die Pläne zur Zerstörung des Parkes eingefroren wurden, hatte das TSP entschieden, den Park langsam und organisiert zu räumen. »Doch wieder die gleiche Dynamik: Während die Regierung behauptete, radikale Gruppen würden unschuldige Jugendliche missbrauchen, widersetzten sich gerade die unorganisierten, den Park zu räumen«, so Feride.

Die junge Frau spricht perfekt Englisch. Sie studiert seit drei Jahren in New York, erlebte dort bereits die »Occupy-Wall-Street«-Bewegung und verbringt mehrere Monate im Jahr in Istanbul. Sie redet in ruhigem Ton. Nur als ich sie nach der Besonderheit dieser Besetzung, nach dem »Geist der Gezi-Bewegung« (Gezi Ruhu) frage, spricht sie schneller und laut. Und hat den Funken in den Augen, den ich bisher bei jedem gesehen habe, den ich danach fragte: »Wir haben gesehen, dass wir zusammen leben können. Leute, die sich vorher gehasst haben, etwa Kurden und Kemalisten, waren zusammen im Park.« Es habe auch Konflikte gegeben, sogar Schlägereien. Doch das Camp wurde zusammengehalten. »Diese Erfahrung vom Zusammenfinden und etwas bewegen zu können, in diesem ethnisch und politisch tief gespaltenem Land, das wird man dieser Generation nicht mehr wegnehmen können«, ist sich Feride sicher.

Auch sie habe sich verändert. Feride ist im »sozialistischen feministischen Kollektiv« aktiv. Seit Langem schon engagiert sie sich für die kurdische Frage, hat eine Zeit lang in kurdischen Gebieten gelebt und begonnen Kurdisch zu lernen. Früher hatte sie für den Kurdenhass in der Türkei nur Verachtung übrig. Heute hört sie den Leuten zu, argumentiert nach eigener Aussage geduldiger. Und sie hat sich entschieden, sofort nach dem anstehenden Abschluss ihres Studiums nach Istanbul zurückzuziehen.

In der kleinen Seitenstraße Mis Sokak an der Istiklal treffen sich die Linken in den kleinen Bars. Hier ist Ramazan Demir ein bunter Hund. Er arbeitet als Anwalt und organisiert die juristische Betreuung der Inhaftierten und politisch Verfolgten. Es ist Sonnabend und weiter südlich vor der Galata-Schule gibt es eine kleine Protestaktion. Eine Hundertschaft von Spezialeinheiten der Polizei zieht martialisch die Istiklal hinunter, Gasmasken hängen an ihren Gürteln, einzelne tragen sogar Maschinengewehre. »Gehen wir zu der Demo?«, frage ich. »Lieber nicht, ich darf nicht festgenommen werden, muss ja für die anderen da sein«, antwortet Ramazan. Wir gehen eine lange Treppe hinauf zu einer seiner Stammkneipen. Hier trifft er bei wunderschöner Aussicht einige Freunde, auch der Barbesitzer kommt zu unserem Tisch.

Er erzählt begeistert von den Tagen der Besetzung des Taksim-Platzes und des Gezi-Parks. Das Besondere sei für ihn das Unerwartete, dieser unglaubliche Mut, die spontane Solidarität, das Gefühl, dass alle gleich sind, gewesen. Die Beteiligung an einer Protestbewegung von so vielen Menschen, die vorher nichts mit Politik zu tun hatten, sei historisch neu für die Türkei. Viele seiner Kollegen, die in großen Konzernen arbeiten und sich aus ihrer Arbeit und begrenzten privaten Welt kaum herausbewegt hatten, sind damals zum Park gekommen. »Für diese Leute war es eine außerordentliche Erfahrung in ihrem Leben«, meint Ramazan. Sie hätten auch die Brutalität des Staates am eigenen Leibe erlebt. Für sie sind der Staat und seine Autorität jetzt nichts Selbstverständliches und Unveränderliches mehr. »Sie stellen die Natur des Staates in Frage.«

Was davon geblieben ist, will ich von ihm wissen. »Ich weiß nicht wie ich es sagen soll«, antwortet Ramazan, »aber Gezi hat sich in das Gedächtnis vieler eingraviert, es ist eine Art Markierung im Bewusstsein. Es wird sich nicht wiederholen, aber alles Kommende beeinflussen.« Auf der Gegenseite sei die herrschende AKP ängstlicher geworden ist. »Sie haben die Nachricht verstanden. Sie können die Bevölkerung nicht mehr wie eine Herde Schafe betrachten.« Ihre Politik wurde zwar nicht gestoppt, doch »ihre arrogante Art der Machtausübung wurde von der Gesellschaft zurückgewiesen. Dieser Schlag hat gesessen«, glaubt Ramazan.

Die Repression halte an. Ramazan zeigt auf eine Bar. »Die haben sie letzte Woche zugemacht, weil sie die Gezi-Leute unterstützt hatten.« Vor zwei Wochen gab es einen Überfall auf die Koc-Holding. Koc gehört auch das Diwan-Hotel am Gezi-Park, das die Türen für die Demonstranten geöffnet und sie versorgt hatte. »Wie es ihr Stratege Burhan Kuzu 2008 formuliert hatte, wollte die AKP die Gefahr der Straße mit der Logik von Antiterror-Bekämpfung verbannen. Aber dieses Projekt der Kriminalisierung ist mit den Gezi-Protesten gescheitert«, sagt Ramazan. Rechtlich sei es der AKP nicht möglich, diese Bewegung mit Terror gleichzusetzen und entsprechend zu verfolgen.

Wie es nun konkret weitergeht, können Feride und Ramazan nicht voraussagen. Noch sind Sommerferien, viele sind verreist. Gerade im Ramadan, der am Wochenende endete, herrschte eine sehr friedliche, familiäre Stimmung. Aber Feride und Ramazan sind sich sicher: Dieser Herbst wird heiß. Beide erwarten neue Proteste, insbesondere wenn die Schulen und Universitäten wieder die Arbeit aufnehmen. Es wird keine Wiederholung der Gezi-Proteste geben, aber der Geist der Bewegung – eine neue selbstbewusste oppositionelle Zivilgesellschaft – wird der bisher ihrer Macht so selbstsicheren AKP-Regierung in der kommenden Zeit einiges abverlangen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 13. August 2013


Protest schwappt nach Zypern

Opposition im Norden gegen Ankaras Einfluss **

Nordzypern rüstet sich für eine Großdemonstration. »ResistCyprus« nennt sich die Bewegung in Anlehnung an die Proteste in Istanbul (»Resistanbul«). Die Organisatoren rufen die türkischen Zyprer auf, sich gegen die Übermacht Ankaras zu wehren. »Wir stehen gegen unsere Besatzer auf, statt uns zu unterwerfen!«, heißt es in ihrer Erklärung. Die Kundgebung ist für den 14. August geplant. An diesem Tag jährt sich die Besetzung der Insel zum 39. Mal. 1974 rückte die türkische Armee in Zypern ein, um die Landsleute auf der Insel vor dem griechischen Putsch zu schützen – und ist geblieben.

Über 40 000 Mann sind in Nordzypern stationiert, der türkische Botschafter wird als »Gouverneur« wahrgenommen, der den Willen der AKP in der Türkischen Republik Nordzypern durchdrückt. Der Ministaat, so groß wie die Uckermark, wird völkerrechtlich nur von der Türkei anerkannt und ökonomisch von ihr am Leben gehalten. Pro Jahr schießt Ankara ca. 400 Millionen Euro in die Volkswirtschaft. Nun fordert die Türkei die Umsetzung eines Sparpakets, das von Gewerkschaften als »Diktat« bezeichnet wird.

Der vormalige Ministerpräsident Irsin Kücük, der als Marionette des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdogan gilt, wurde mit einem Misstrauensvotum im Juni seines Amtes enthoben. Ein Überlaufen von acht Abgeordneten seiner konservativen Regierungspartei UBP zur Demokratischen Partei (DP) machte dies möglich und erzwang Neuwahlen für den 28. Juli. Im Wahlkampf konzentrierten sich alle Parteien auf das Wirtschaftsprogramm 2013-15, das Ankara den Zyperntürken auferlegt. Privatisierungen der Elektrizitätsversorgung und der Häfen, eine Reform der staatlichen Banken und eine Produktivitätssteigerung im öffentlichen Dienst stehen auf der Agenda.

Die Wähler machten ihren Willen deutlich und stimmten für 14 neue Abgeordnete. Ein Viertel der 50 Sitze im Parlament ist damit der alten Politikerkaste entzogen. Die Wahlbeteiligung lag jedoch auf einem Rekordtief von nur knapp 70 Prozent. Präsident Dervisch Eroglu schob das auf den Ferienmonat, andere sehen es als offenen Boykott. Wahlsieger ist die sozialdemokratische CTP, die verspricht, das drohende Sparpaket zumindest nachbessern zu wollen.

Die Koalitionsverhandlungen zwischen der Republikanischen Partei CTP (21 Sitze), der Nationalen Einheitspartei (UBP, 14 Sitze) und der DP (zwölf Sitze) sind noch nicht abgeschlossen, da schimmern schon wieder die alten Strukturen durch. Der geschasste Premier, der es nicht einmal ins Parlament geschafft hat, bleibt auf Fürsprache der türkischen AKP bis Oktober Vorsitzender der UBP in Nordzypern und erhält sich damit ein Mitspracherecht bei der Verteilung der Ministerposten.

Christiane Sternberg

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 13. August 2013


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