Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Generäle vor Gericht

Prozeß gegen Anführer von Militärputsch in Ankara

Von Nick Brauns *

In Ankara hat am Mittwoch vor dem 12. Hohen Strafgerichtshof der von den Medien als »historisch« bezeichnete Prozeß gegen die letzten noch lebenden Anführer des Militärputsches von 1980 begonnen. Dem Juntachef und späteren Staatspräsidenten Kenan Evren und dem ehemaligen Luftwaffenchef Tahsin Sahinkaya droht wegen Auflösung der verfassungsmäßigen Ordnung lebenslängliche Haft. Wieweit die 94- bzw. 86jährigen Generäle überhaupt verhandlungsfähig sind, ist unklar. Sie sollen per Videotechnik vernommen werden.

Möglich wurde dieser Zivilprozeß gegen Putschgeneräle durch eine Verfassungsreform, über die die islamisch-konservative AKP-Regierung zum symbolträchtigen 30. Jahrestag des Putsches am 12. September 2010 in einem Referendum abstimmen ließ.

Der von der NATO unterstützte Staatsstreich richtete sich gegen die radikale Arbeiterbewegung in der Türkei als Frontstaat zur Sowjetunion und bereitete den Weg für eine neoliberale Ökonomie. In der Folge wurden rund 650000 Oppositionelle inhaftiert, 230000 von Militärgerichten verurteilt und Hunderte hingerichtet, zu Tode gefoltert oder bei Militäroperationen exekutiert.

Da die fast ausschießlich gegen Linke blutig vorgehende Militärjunta sämtliche Parteien verboten hatte, versuchen sich heute nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen als Opfer des Putsches darzustellen. Rund 500 Organisationen, Institutionen und Einzelpersonen wollen als Nebenkläger auftreten. Darunter befinden sich die bislang mit den gewerkschafts- und kurdenfeindlichen Paragraphen der weiterhin gültigen Putschistenverfassung regierende AKP-Regierung und die ansonsten militärtreue kemalistische Republikanische Volkspartei CHP ebenso wie der Gewerkschaftsbund DISK, ehemalige Mitglieder der marxistischen Bewegung Dev-Yol (Revolutionärer Weg) und die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie, BDP.

Selbst die faschistischen Grauen Wölfe wollen als Nebenkläger auftreten. Ihr Terror, dem bis zum Putsch Tausende Linke zum Opfer fielen, war Teil einer »Strategie der Spannung« der NATO-Geheimtruppe Gladio. So sollte unter der verunsicherten Bevölkerung Stimmung für die Errichtung eines autoritären Regimes erzeugt werden. Das sich aus den Grauen Wölfen rekrutierende »Amt für spezielle Kriegsführung« als türkische Gladio-Struktur unterstand dabei direkt Generalstabschef Kenan Evren.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 5. April 2012


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage