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Eskalierender Krieg in Kurdistan

Schwere Kämpfe im türkisch-irakischen Grenzgebiet. Zivilisten auf der Flucht

Von Nick Brauns *

In den kurdischen Landesteilen der Türkei werden die Gefechte zwischen der türkischen Armee und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) immer heftiger. Der türkische Innenminister Idris Naim Sahin spricht von den schwersten Auseinandersetzungen seit Jahren, bei denen nach Armeeangaben 130 PKK-Kämpfer getötet wurden.

So verteidigen Hunderte Guerilleros seit zwei Wochen ein etwa 40 Quadratkilometer großes Gebiet rund um die Kleinstadt Semdinli gegen eine Übermacht von Tausenden Soldaten. Das im türkisch-iranisch-irakischen Grenzgebiet gelegene Semdinli hat symbolische Bedeutung für die PKK. Denn mit der kurzfristigen Einnahme des Ortes durch Guerillakämpfer war hier am 15. August 1984 der Beginn des bewaffneten Befreiungskampfes verkündet worden.

Seit dem Wochenende finden auch in der ebenfalls in der türkischen Provinz gelegenen Region Cukurca heftige Kämpfe statt. Hier hatte die Guerilla am Sonntag 19 Militärstützpunkte angegriffen, von denen aus regelmäßig Ziele im Nordirak mit Artillerie beschossen wurden. Nach eigenen Angaben gelang es den Kämpfern, den Gecimli-Posten zu erobern, in dem 170 Soldaten und eine Einheit kurdischer Dorfschützer stationiert waren. Nach PKK-Angaben wurden über hundert Soldaten und 14 Guerillakämpfer getötet, fünf Panzer zerstört sowie zahlreiche Waffen erbeutet. Während die Regierung lediglich von acht getöteten Soldaten und Dorfschützern spricht und das Ausmaß der Angriffe verschweigt, zeigte der kurdische Satellitensender Nuce-TV Aufnahmen der brennenden Armeestützpunkte. Auch in anderen Landesteilen kommt es zu Guerillaaktionen. Bei Elazig wurde ein Güterzug zum Entgleisen gebracht, in der Provinz Mardin am Montag eine aus dem Irak kommende Ölpipeline gesprengt und auf einer Schnellstraße bei Diyarbakir wurden drei Soldaten von der Guerilla gefangengenommen.

Um die Partisanen zu isolieren, setzt die Armee auf die Vertreibung der Zivilbevölkerung. So wurden mittlerweile rund um Semdinli neun Dörfer geräumt, deren fliehende Bewohner Nutztiere und Felder unversorgt zurücklassen mußten. Am Montag verkündete das Gouverneursamt von Hakkari die Einrichtung von sieben temporären militärischen Sperrgebieten, die bis zum 6. Oktober von Zivilisten nicht betreten werden dürfen. Bauern und Hirten können so ihr Weide- und Ackerland nicht mehr nutzen und verlieren ihre Existenzgrundlage.

Der Vizevorsitzende der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, Ömer Celik, beschuldigte unterdessen gegenüber der Tageszeitung Todays Zaman den syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad, der PKK schwere Waffen überlassen zu haben, nachdem kurdische Volksräte die Kontrolle über eine Reihe von Städten im syrisch-türkischen Grenzgebiet übernommen hatten. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan drohte in diesem Zusammenhang erneut mit einem Militäreinmarsch in die syrischen Kurdengebiete und verwies auf laufende türkische Manöver an der Grenze.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 8. August 2012


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