Türkische Polizei ohne Gnade
Viele Tote und Verletzte bei Sturm auf Gefängnisse
Seit fast zwei Monaten befinden sich über 1.100 Häftlinge in türkischen Gefängnisse im Hungerstreik, um gegen unmenschliche Haftbedingungen, gegen Folter und - vor allem - gegen die geplante Einführung von Isolationshaft zu protestieren. Sakine Sevim vom türkischen Menschenrechtsverein IHD in Istanbul (siehe unten stehendes Interview) wies darauf hin, dass einige der Fastenden in einem lebensbedrohlichem Zustand seien. Weitere etwa 8.000 Häftlinge seien solidarisch im
Hungerstreik. Sie wollen unter keinen Umständen die Verlegung in neue
Zellenbauten vom "Typ F" hinnehmen, in denen statt der bisherigen
Gemeinschaftsschlafsäle für bis zu 100 Gefangene Einzel- und Dreierzellen
eingerichtet wurden. Justizminister Türk stellt diese Maßnahme als "humanitäre" Wohltat hin und behauptet, der F-Typ solle Mängel des Schlafsaal-Systems beheben, wo "Mafiaführer oder einfach starke Verbrecher die
Kontrolle über ihre Mithäftlinge gewonnen haben". Die Häftlinge sehen das anders und bestehen auf der Abschaffung
des Typs F. Denn einmal seien sie in Einzelzellen der in türkischen Gefängnissen grassierenden Willkür noch ungeschützter ausgesetzt. Sakine Sevim erinnerte laut Frankfurter Rundschau (20.12.2000) an den Tod von 10 Häftlingen im Gefängnis
Ulucanlar im September 1999, für den sie Polizei und Militär verantwortlich machte. "Wenn man schon in Sammelzellen Leute umbringen kann, kann man das in
Einzelzellen umso leichter", sagte Sevim. Einzelzellen bedeuteten zum anderen auch soziale
Isolierung und Krankheit. Nach Artikel 16 des gültigen Antiterrorgesetzes sollen politische Häftlinge keine
Gelegenheit haben, sich zu treffen und auszutauschen. Deshalb kritisieren auch angesehene Rechtsanwälte und Ärzte
die F-Zellen. Fünf der modernen Hochsicherheitstrakte sind fertig gestellt, weitere sechs
sollen bis Mitte 2001 folgen.
Polizeiaktion zum "Schutz der Terroristen"?
Ministerpräsident Bülent Ecevit rechtfertigte die Polizeiaktion am
Dienstag mit den Worten, es gehe darum, "die Terroristen vor ihrem eigenen Terror
zu schützen". Angesichts dessen, was sich bei der Poizeiaktion abgespielt hat, ist so eine Äußerung an Zynismus kaum noch zu überbieten. Schwer bewaffnete Spezialeinheiten der türkischen Polizei haben in einer koordinierten Aktion im Morgengrauen des Dienstags, dem 19. Dezember, etwa 20 Gefängnisse im Land gestürmt. Dabei setzten Polizei- und Militäreinheiten nach Angaben von Menschenrechtsgruppen
und des türkischen Senders NTV Panzer und schweres Räumgerät ein, um die
Wände der Gefängnistrakte einzureißen, in denen sich die Hungerstreikenden
aufhielten. Das Innenministerium gab an, die Polizei sei dabei auf "bewaffneten Widerstand" gestoßen, den es "zu brechen" galt. Die Aktionen würde fortgesetzt, "bis wir überall
Erfolg haben", sagte der türkische Innenminister.
Nach offizieller Version aus dem Innenministerium übergossen sich im Istanbuler Bayrampasa-Gefängnis mehrere Häftlinge mit
brennbaren Flüssigkeiten und setzten sich selbst in Flammen, als die Polizei in die
Gemeinschaftszellen eindrang. Zwei von
ihnen starben. Der Menschenrechtsverein IHD ging dagegen Berichten nach, wonach aus
dem Gefängnis gerufen wurde: "Häftlinge brennen, aber wir haben uns nicht selbst
angezündet." Aus dem Bayrampasa-Gefängnis stiegen weithin sichtbare
Rauchwolken auf. Bei dem Sturm seien auch zwei Polizeibeamte ums Leben
gekommen, so das Ministerium. Im westtürkischen Canakkale starb eine weibliche
Gefangene durch angebliche Selbstverbrennung. Ein weiterer Häftling, der sich ebenfalls
anzuzünden versuchte, sei erschossen worden.
Das Fernsehen zeigte Bilder von den Einsätzen in Bursa und Adana. In Istanbul riegelte die Polizei das Gebiet um das
Gefängnis Bayrampasa ab und versperrte Journalisten den Zugang.
Die Hungerstreiks seien in neun Haftanstalten "beendet" worden, teilte Justizminister
Hikmet Sami Türk mit. 146 Häftlinge, die teils seit 61 Tagen keine feste Nahrung
mehr zu sich genommen hatten, wurden in Krankenhäuser eingeliefert. Es gab am Dienstagabend bereits 17 tote Häftlinge und zwei tote Sicherheitsbeamte. Nach
Angaben des Justizministers nahmen von den 1.139 Hungernden, allesamt "Linksextremisten", 284 am so genannten Todesfasten teil. Sie nahmen nur gezuckertes Wasser zu sich. Der
Zustand einiger Häftlinge war so schlecht, dass jeden Moment mit ihrem Tod gerechnet werden musste.
Festnahmen bei Demonstrationen
Die Polizei hat am Dienstag mehrere
Demonstrationen zugunsten der Häftlinge mit Gewalt
auseinander getrieben. Mehr als hundert Personen wurden
in Istanbul und Ankara festgenommen. Unter ihnen befindet
sich auch die Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation
IHD in Istanbul, Eren Keskin, berichtete die Neue Zürcher Zeitung (20.12.2000). Mit dem Argument, die Berichterstattung »spalte die Nation« und beschwöre die Gefahr
von Unruhen herauf, hatte die Regierung in Ankara schon vor Tagen der Presse per Erlaß
verboten, weiter über den Hungerstreik zu berichten.
Pst
Interview mit Sakine Sevim
Vorstandsmitglied im türkischen
Menschenrechtsverein IHD
F: Am gestrigen Dienstag, dem 60. Tag des Hungerstreiks politischer Gefangener in der
Türkei, drangen Sicherheitskräfte gewaltsam in die Gefängniszellen ein. Was genau ist
passiert?
Detaillierte Informationen haben wir zu den Vorgängen in den einzelnen Gefängnissen
noch nicht. Was wir aber sagen können: Gegen 5 Uhr früh drangen landesweit
Sicherheitskräfte in die Gefängnisse ein. Die aus Militärs und Sondereinheiten
bestehenden Kommandos verschleppten die teils stark geschwächten Gefangenen in
andere Gefängnisse oder in Krankenhäuser. Dabei gab es auf jeden Fall mehrere Tote.
F: Nach ersten offiziellen Darstellungen gab es beim gewaltsamen Ende des
Hungerstreiks keine Toten.
Diese Behauptung ist auf jeden Fall falsch. Nach meinen Informationen, und ich bin mit
meiner Organisation in ständigem Kontakt, gab es allein in dem Gefängnis Bayrampasa
in Istanbul fünf Tote und fünf weitere in verschiedenen anderen Gefängnissen des
Landes. Zwei Namen von Todesopfern kann ich auch schon bekanntgeben. Es sind
Fidan Kavsal im Gefängnis Canakkale sowie Murat Özdemir im Gefängnis von Usak.
Außerdem sind neben den Toten eine noch unbekannte Zahl von teils Schwerverletzten
zu beklagen.
Klar ist auch: Die Behörden geben absichtlich nicht die Namen der Toten bekannt, weil
das draußen zu Demonstrationen und Protesten führen würde.
F: In den letzten Tagen hat es viele Solidaritätsaktionen, insbesondere von Angehörigen
der Gefangenen, gegeben. Wie ist die Situation im Moment?
Versuche, gegen das staatliche Vorgehen zu demonstrieren, wurden im Keim erstickt.
Die Polizei unterbindet gegenwärtig alle Demonstrationen oder Protestkundgebungen -
es ist eine sehr zugespitzte Lage. In Ankara hat die Polizei sofort 60 Menschen
festgenommen, die gegen das Vorgehen in den Gefängnissen protestieren wollten, und
auch in anderen Städten wurden derartige Versuche unterbunden.
F: Gibt es Möglichkeiten, daß ausländische Organisationen vor Ort tätig werden, gibt es
hier schon irgendwelche Reaktionen?
Ich habe versucht, mit Claudia Roth, der Vorsitzenden des Bundestagsauschusses für
Menschenrechte, Kontakt aufzunehmen. Das hat bisher leider noch nicht geklappt. Ich
habe auch Cem Özdemir von der bündnisgrünen Bundestagsfraktion angerufen, aber der
hat sich leider ebenfalls noch nicht zurückgemeldet.
Es ist für uns allerdings auch kein Wunder, daß es bisher hier keine Stellungnahmen gibt
- leider wurde in Europa die Einführung der neuen Gefängnisse ja auch unter dem
Stichwort »Einführung europäischen Standards« gehandelt.
F: Hat der IHD Möglichkeiten, sich vor Ort zu informieren?
Es ist sehr schwierig. In Istanbul ist Eren Keskun vom IHD festgenommen worden. Sie
hatte vor, Kontakt zu den Hungerstreikenden aufzunehmen. Es haben sich auch einige
andere Anwälte um Kontakte bemüht, aber die wurden auch daran gehindert, hier aktiv
zu werden.
F: Was bedeutet dieses gewaltsame Ende des Hungerstreiks?
Wir wissen noch nicht genau, wie es nun weitergeht. Aber was jetzt stattfindet, ist die
Zerschlagung von Gruppen - das Vorhaben, die Gefangenen in Einzelzellen oder Zellen
mit nur zwei, drei Insassen wird nun umzusetzen versucht. Also genau das, wogegen sich
die Hungerstreikenden so massiv gewehrt haben.
Interview: Thomas Klein
Aus: junge welt, 20. Dezember 2000
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