Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Friedensprozess vor dem Aus

Arbeiterpartei Kurdistans wirft Ankara Untätigkeit vor und droht mit Waffengang

Von Jan Keetman *

Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat den vereinbarten Rückzug ihrer Kämpfer aus der Türkei gestoppt. Die Rebellenbewegung wirft der türkischen Regierung vor, in der »kurdischen Frage« keine Fortschritte zu machen.

Die bewaffneten Männer kamen um neun Uhr abends auf die Baustelle eines Militärstützpunktes nahe der kurdischen Kleinstadt Pervari. Sie sprengten die begonnenen Mauern und entführten vier Arbeiter. Der Handstreich der PKK im äußersten Südosten der Türkei, nicht weit von der Stelle, an der vor 29 Jahren der Kurdenkrieg in der Türkei begonnen hatte, war so etwas wie eine letzte Warnung der Rebellen.

Der Friedensprozess mit der PKK, der mit Gesprächen mit dem gefangenen PKK-Chef Abdullah Öcalan im Dezember hoffnungsfroh begonnen hatte, steht vor dem Aus. Vor wenigen Tagen hat die PKK verkündet, dass sie den Rückzug ihrer Kämpfer und Kämpferinnen aus der Türkei gestoppt habe. Nach offiziellen Quellen sollen ohnehin erst 600 die Grenze überschritten haben. Wie viele noch da sind, ist unbekannt.

Schon bald nach Beginn des Rückzugs kamen den Kurden erste Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Friedensangebotes. Versprochene Reformen wurden selbst als Pläne nie konkretisiert. Schließlich rief der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan einen Rat aus Publizisten, bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern und anderen Künstlern zusammen, die als Rat »verständiger Menschen« Lösungsvorschläge für die Kurdenfrage ausarbeiten sollten. Die Vorschläge wurden dann eingesammelt und vergessen.

Das Einzige was konkret geschah, war der Ausbau von Militärbasen im kurdischen Gebiet, wie der von Pervari. Außerdem gehen Verfahren gegen mutmaßliche PKK-Unterstützer unbesehen weiter. Tausende sitzen weiter im Gefängnis.

Für Erdogan stünde mit dem Scheitern des Kurdenprozesses eine Menge auf dem Spiel. Selbst das Kreditrating der Türkei war wegen der scheinbaren Einigung mit der PKK angehoben worden. Sein innenpolitischer Spielraum hatte sich ebenfalls erweitert. Ein Scheitern würde Erdogan nun als großer Misserfolg angerechnet werden. Deshalb wird nun rasch an einem großen Demokratisierungspaket gezimmert, das schon nächste Woche verkündet werden soll. Das kommt nun reichlich spät. Entweder wird es die Kurden enttäuschen oder die Opposition wird vom einem Diktat Öcalans sprechen.

Indessen sind die Kurden nicht das einzige Problem für Erdogan. Die Proteste, die nach der Räumung des Gezi-Parkes die Türkei einen Monat lang erschüttert haben, sind diese Woche in rund 20 Städten wieder neu aufgeflammt. Der Anlass war ein umstrittenes Autobahnprojekt bei Ankara und dass sich die alewitische Minderheit vereinnahmt fühlte, weil eines ihrer Versammlungshäuser in einen Moschee-Komplex einbezogen werden sollte. Hinter diesem Vorhaben steht offiziell gar nicht die Regierung, doch die Alewiten misstrauen Erdogan. Ein 22-jähriger Demonstrant starb am vergangenen Dienstag unter nicht ganz geklärten Umständen. Dies hat die Proteste zusätzlich angefacht. Etwas anderes als Verbote, Polizeigewalt und Reden, in denen er den Demonstranten vorwirft, irgendwelchen türkeifeindlichen Mächten zu dienen und sie mal als »Plünderer«, mal als »gefährliche Nagetiere« bezeichnet, ist Erdogan zu den Demonstrationen bisher nicht eingefallen.

Stattdessen setzt Erdogan auf seine stärkste Klientel, die konservativen Kleinbürger Anatoliens. Das sind in ihrer Mehrheit Bauern, kleine Handwerker, Händler. Die Männer bärtig, die Frauen mit Kopftuch und zusammen überzeugt, dass man gerade so leben muss wie sie. Von den großbürgerlichen Eliten mit ihrem mehr westlichen Lebensstil fühlten sie sich lange an den Rand gedrängt. Diese Kleinbürger sollen nun einmal mehr das üble Spiel durchkreuzen, welches dunkle Mächte, die wieder irgendwie mit diesen Eliten und dem Militär zusammenhängen gegen Erdogan angezettelt haben. Mit beschwörender Stimme hat Erdogan sich an diese Massen gewendet und das Bild der Falle beschworen, die missgünstige Mächte der Türkei gestellt haben. »Wenn sie eine Falle haben, dann hat auch Allah eine Falle, hat auch die Nation eine Falle«, ruft Erdogan den Massen zu. Diese Lagerpolitik mag bei vielen zünden, aber der von den Kurden geforderten Demokratisierung kommt Erdogan so nicht näher.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 14. September 2013


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage