Ankara will Ehebruch bestrafen - und gefährdet EU-Mitgliedschaft
Ankara seeks to make adultery illegal - and puts at risk EU-membership
Im Folgenden informieren wir über einen Gesetzentwurf in der Türkei, wonach künftig Ehebruch unter Strafe gestellt werden soll. Damit, so der Tenor der Berichterstattung hier zu Lande, riskiert die Türkei entscheidende Fortschritte bei den Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union.
"Ärger um Plan Ankaras: Türkei will Ehebruch bestrafen" war der Artikel überschriben, der am 10. September 2004 in der Frankfurter Rundschau zu dem Thema erschien. Es hieß dort u.a.:
Mit der Absicht, Ehebruch unter Strafe zu stellen, riskiert die Türkei eine Abfuhr durch die EU, wenn diese Ende des Jahres über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen entscheidet. Seit die Pläne des türkischen Ministerpräsidenten Recep Erdogan bekannt geworden sind, wachsen auch bei Befürwortern eines Beitrittes der Türkei Zweifel, ob das Land reif für solche Verhandlungen ist.
So kritisierte Martin Schulz, Vorsitzender der Fraktion der Sozialisten im Europäischen Parlament, Ankara am Donnerstag. Es gehöre zu der europäischen Vorstellung "von einer toleranten Zivilgesellschaft", dass Männer und Frauen nicht nur gleichberechtigt seien, sondern dass sie auch "das Recht haben", ihre individuelle Lebensform "frei zu wählen". Erdogan, dessen Partei AKP aus der islamischen Bewegung stammt, will das Ehebruchsgesetz am 14. September dem Parlament vorlegen.
Insgesamt lobte Schulz die Reformen, die die Türkei in den vergangenen Jahren durchlaufen hat, um die politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Voraussetzungen für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen zu erfüllen. Aber mit Blick auf die Lage der Menschenrechte sagte er: "Ich halte die Fortschritte nicht überall für ausreichend." Das ist ein Punkt, der offensichtlich auch dem für die Erweiterung zuständigen EU-Kommissar Günter Verheugen Kopfzerbrechen bereitet.
Verheugen, der am 6. Oktober einen "Fortschrittsbericht" über die Türkei vorlegen und dabei auch bewerten muss, ob Ankara die Voraussetzungen (Kopenhagener Kriterien) erfüllt, hielt sich bis Donnerstag zu seiner letzten Erkundungsmission in der Türkei auf. Nach einem Bericht der dortigen Tageszeitung Vatan warnte Verheugen die türkische Regierung offenbar vor ihrem Vorhaben. In der EU könnte der Eindruck entstehen, dass in der Türkei "islamische Elemente in das Rechtssystem einfließen".
(...)
Überraschend ordnete Verheugen laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung eine "erneute und genaue Überprüfung" der Menschenrechtslage in der Türkei an. Ausgelöst wurde der Schritt durch die Behauptung von Yuvas Önen von der türkischen "Stiftung für Menschenrechte", in der Türkei werde weiter "systematisch" gefoltert.
Aus: Frankfurter Rundschau, 10.09.2004
Und Gerd Schumann schrieb in der "jungen Welt":
Ehebruch als EU-Thema
Brüssels Erweiterungskommissar Verheugen beendete seine Inspektionsreise durch die Türkei
Zum Abschluss seiner viertägigen Türkeireise am Donnerstag äusserte EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen Skepsis: Das von der türkischen Regierung geplante Gesetz gegen Ehebruch, das drakonische Strafen vorsieht, gefährde die »Beitrittsperspektive« des Landes zur Europäischen Union. Derweil schob gleichentags Martin Schulz, Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament, alle diesbezügliche Entscheidungsgewalt auf seinen Kommissar: Verheugen und dessen Kommission müssten letztlich entscheiden, ob jenes Gesetz der Aufnahme von Verhandlungen im Weg stehen würde. Klar sei lediglich, »dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau Bestandteil einer toleranten Zivilgesellschaft« sei.
Wurde im Zusammenhang mit der Türkei-Beitrittsdebatte die religiöse Ausrichtung des Landes bisher meist von christlichen Konservativen, in ihrer Mehrheit gar katholisch-fundamentalistisch orientiert, thematisiert, so präsentierte sich diesbezüglich nunmehr Verheugen just zum Ende seiner Inspektionsreise mit neuer Offenheit in Sachen Islamkritik. Der Kommissar: Ein solches Gesetz könnte in Europa den Eindruck erwecken, «dass das islamische Recht in das türkische Gesetz aufge-nommen wird». Und eben dies soll nun am kommenden Dienstag im Ankaraer Parlament geschehen, wenn das Ehebruch-Thema als Gesetzesvorlage auf dem Tisch der Grossen Nationalversammlung der Türkei liegen wird.
Die Debatte auf einem wahrlichen Nebenschauplatz ist losgetreten. Mit Verve dürfen sich Christen aller Schattierungen nunmehr mit Muslimen aller Schattierungen über die ganze Palette religiöser Dogmen streiten – zwischen Zölibat und Schleier und Gewalt in der Ehe und ausserehelichen Geschlechtsverkehr. Der Kommissar hat sich positioniert, und die Spannung wächst, wie sich der türkische Ministerpräsident verhalten wird. Bisher vermied Recep Tayyip Erdogan, Chef der islamischen Partei AKP, dieses Themenfeld zu betreten. Aus gutem Grund: Es liegt weit vom Hauptschauplatz entfernt und interessiert dementsprechend nur peripher.
Im Zentrum der türkischen EU-Aufnahme steht aus Brüsseler Sicht die geostrategische Notwendigkeit, den Brückenschlag nach Asien zu vollziehen, sich neue Märkte zu erschliessen und in jeder Beziehung an Gewicht auf internationaler Ebene zuzulegen. Zur Erlangung dieses Ziels steht der Zeitplan schon seit langem: Am 6. Oktober wird die EU-Kommission Verheugens »Fortschrittsbericht« vorlegen. Am 19. Dezember entscheidet der EU-Gipfel in Brüssel über den baldigen Beginn der Beitrittsverhandlungen. Danach werden vor allem die wirtschaftlichen »Regulierungen« seitens der Türkei vorgenommen werden müssen.
Insgesamt »entschiedene Fortschritte« habe er, so Verheugen, in der Türkei bemerkt. Er hatte sich sogar kurzzeitig im kurdischen Südosten umgesehen und dabei nichts von systematischer Folter und Kulturverboten bemerkt. In Kurdistans heimlicher Hauptstadt Diyarbakir meinte er gar, ein schneller Beginn der Beitrittsverhandlungen würde den »Reformprozess in der Türkei einen noch grösseren Aufschwung geben«. Von Tausenden zerstörten Dörfern im Südosten und Hundert-tausenden Flüchtlingen, von zehntausend politischen Gefangenen und vor allem: einer Militarisierung, die die Gesellschafts-struktur prägt, war in dieser »Reform« bisher nicht die Rede.
Aus: junge Welt, 10.09.2004
Turkey's prime minister, Recep Tayyip Erdogan, has defended plans for a law that seeks to make adultery illegal. The leader of the Justice and Development party insists that his country is not bound to follow "imperfect" European standards despite its long-standing ambition to join the EU. With just weeks left before the European commission issues its final assessment on Turkey's progress - prior to a landmark decision by governments in December - the timing could hardly be worse. Mr Erdogan, a moderate and reformist Islamist, has been rightly praised for improving the status of the Kurds, cracking down on torture and strengthening the judiciary. He has also been helpful over Cyprus and challenged the traditionally powerful military establishment.
In recent months it has quietly become accepted that Ankara will finally get the green light to start EU membership talks in December. The French and German governments have overcome their reservations, though popular opposition remains strong in both countries, as it does in Austria and the Netherlands. Brussels insists however that nothing should be taken for granted: thus the call yesterday from one commissioner for more progress on Kurdish broadcasting alongside a warning from another about an overstretched union bordering on Iraq.
Opponents of Turkish membership imply that they want to keep the EU a "Christian club". The EU, of course, is no such thing, and membership depends on political and economic criteria, not religious or ethnic identity. Eighty years after Ataturk, Turkey is a secular democracy with a majority Muslim population - and one to be encouraged in a post-September 11 world in which the feared "clash of civilisations" often looks like a self-fulfilling prophecy. It is true that EU laws do not touch on personal morality (abortion is still illegal in Ireland and Portugal). But progressive-minded Turks are right to argue that making adultery the business of the state, as it is in Saudi Arabia, is the wrong message from a country that is now well on the way to realising its European vocation.
Leader, Wednesday September 8, 2004
The Guardian
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