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Maulkorb für die kurdische Sprache

Interview mit Abdullah Demirbas, Bürgermeister von Diyarbakir Sur

Vor fünf Jahren wurde Abdullah Demirbas mit 56 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister von Diyarbakir Sur in Südostanatolien, zwei Flugstunden von Istanbul entfernt, bestimmt. Obwohl man ihn seines Amtes enthoben hat, wurde er in diesem Jahr mit 65 Prozent wiedergewählt. Heute muss das Mitglied der kurdischen Partei DTP erneut vor Gericht erscheinen. Mit ihm sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Martin Dolzer.



ND: Was genau wird Ihnen vorgeworfen und welche Konsequenzen befürchten Sie?

Demirbas: Ich wurde in der vergangenen Legislaturperiode von meinem Bürgermeisteramt suspendiert, weil ich die Informationen der Stadtverwaltung multilingual gestalten wollte. Es wurde Anklage erhoben. Prozesse dieser Art gegen kurdische Politiker sind in der Türkei an der Tagesordnung. Der Staatsanwalt fordert acht Jahre Haft, ich soll das aktive und das passive Wahlrecht verlieren und mit einem absoluten Betätigungsverbot belegt werden. Es ist fraglich, ob ich mit meiner Berufung erfolgreich sein werde, da solche Prozesse politisch motiviert sind.

Es gehört zu den Grundvoraussetzungen für eine EU-Aufnahme, dass die kulturellen Rechte aller in einem Beitrittsland lebenden Bevölkerungsgruppen berücksichtigt werden. In der Türkei wird den Kurden die Möglichkeit des uneingeschränkten Gebrauchs der Muttersprache aber verwehrt. Wie sieht die gerichtliche Argumentation gegen multilinguale Behördenformulare aus?

Laut Urteilsbegründung sei der Gebrauch der Muttersprache durch Minderheiten zu Hause zwar erlaubt, und auch private Sprachkurse seien rechtskonform. Die Auslage mehrsprachiger Formulare in Behörden wird jedoch als eine klare Verletzung der Verfassung, weiterer Gesetze und nicht durch europäisches Recht legitimiert gewertet.

Was hat Stadtverwaltungen in den kurdischen Provinzen dazu bewogen, multilinguale Formulare auszulegen und kurdischsprachiges Personal einzustellen?

Unserer Meinung nach sollten die Menschen die Dienstleistungen und Formulare von Behörden auch verstehen können. Viele kurdische Menschen, die durch Vertreibungen aus den Dörfern in die Städte kommen, sprechen allerdings nur Kurdisch und benötigen bei Behördengängen einen Übersetzer. Multilingualität ist deshalb kein Angriff auf die Integrität des türkischen Staates, vielmehr bedeutet sie für die Menschen eine bessere Teilhabe an gesellschaftlichen Belangen und mehr Einfluss auf politische Entscheidungen. In vielen Ländern und Regionen gibt es positive Erfahrungen mit multilingualen Dienstleistungen, ob in der Schweiz, in Großbritannien, Belgien, Kanada oder Frankreich.

Aber das ist ja nur der eine Prozess, der jetzt auf den 30. September vertagt wurde. Ab 2. Juni bin ich wegen einer Rede angeklagt, in der ich sagte, dass getötete Soldaten wie getötete Guerillakämpfer betrauernswert seien und die Tränen ihrer Müttern in gleicher Weise berechtigt.

In der letzten Zeit gibt es eine regelrechte Repressionswelle gegen kurdische Politiker der DTP, von der Aktivisten und Mandatsträger betroffen sind. Warum?

Die Kurden haben bei den Kommunalwahlen ihren Willen zu Frieden, Freiheit und Demokratie demonstriert. Da die DTP von der Bevölkerung als Vertreterin der eigenen Interessen wahrgenommen wird, waren wir sehr erfolgreich. Jene Kräfte in der türkischen Gesellschaft, die an einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage nicht interessiert sind, reagieren mit Gewalt und unserer Kriminalisierung. Von den 400 festgenommenen DTP-Mitgliedern befinden sich 250 weiter in Untersuchungshaft, darunter ehemalige Bürgermeister, Regionalparlamentarier, auch viele Frauen und Jugendlichen. Mittlerweile fordert die Staatsanwaltschaft die Aufhebung der Immunität von sechs DTP-Abgeordneten. Wir sind besorgt, dass sich die Ereignisse von 1993/94 wiederholen könnten. Damals wurden viele kurdische Politiker, unter ihnen Leyla Zana, verhaftet. Doch wir werden uns weiter für Frieden und Demokratie einsetzen und geben unsere Hoffnung nicht auf.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Mai 2009


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