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"Unsere Pflicht ist, den Bürgerkrieg zu verhindern"

Gespräch mit Serafettin Halis. Über die Kurdenpolitik in der Türkei und die Arbeit der vom Verbot bedrohten "Partei für eine demokratische Gesellschaft" (DTP)

Serafettin Halis (geb. 1956 in Tunceli) ist Abgeordneter der kurdischen »Partei für eine demokratische Gesellschaft« (DTP), die seit den Parlamentswahlen im Juli vergangenen Jahres mit 21 Abgeordneten im türkischen Parlament vertreten ist.



Gegen Ihre Partei läuft derzeit vor dem türkischen Verfassungsgericht ein Verbotsverfahren, das Urteil soll in Kürze gefällt werden. Womit rechnen Sie?

Wir erwarten eigentlich nicht, daß unsere Partei verboten wird. In den letzten 20 Jahren ist nämlich bereits die Tätigkeit von vier unserer Vorgängerparteien untersagt worden – doch gebracht hat dies überhaupt nichts. Anstatt unsere Bewegung zu schwächen, ist unser politischer Kampf für mehr Demokratie aus jedem Verbot gestärkt hervorgegangen. Mit anderen Worten: Das Verbot von Parteien ist kein geeignetes Mittel, um die Kurdenfrage und das Demokratiedefizit in der Türkei zu lösen. Diese Erkenntnis müßte sich eigentlich auch in Ankara inzwischen durchgesetzt haben.

Die meisten Beobachter rechnen allerdings fest mit einem Verbot. Was wären die Konsequenzen, sollte es tatsächlich dazu kommen?

Die Kurdenbewegung in der Türkei besteht aus zwei grundlegenden Richtungen. Auf der einen Seite gibt es den bewaffneten Kampf der PKK, auf der anderen Seite den legalen politischen Kampf, so wie er von unserer Partei geführt wird. Der bewaffnete Kampf war dabei immer ein direktes Resultat des bestehenden Demokratiedefizits in der Türkei. Weil den Kurden lange Zeit die Möglichkeit genommen wurde, ihr Anliegen auf legalem Wege vorzutragen, hat der bewaffnete Kampf in der Vergangenheit starken Zulauf erhalten. Es besteht also ein direkter Zusammenhang zwischen der Repression der politischen Bewegung und dem bewaffneten Kampf. Daher können wir sagen, daß ein Verbot der DTP gleichbedeutend wäre mit dem Entschluß, den Krieg in den Kurdengebieten fortzusetzen und eine friedliche Lösung des Kurdenproblems zu verhindern. Als Konsequenz droht also eine weitere Gewalteskalation. Ein Verbot würde zudem die bestehenden sozialen und gesellschaftlichen Probleme verstärken, wodurch eine sehr gefährliche Situation einträte.

Die Staatsanwaltschaft wirft Ihrer Partei vor, der politische Arm der PKK zu sein und auf eine Abspaltung der Kurdengebiete hinzuarbeiten.

Dieser Vorwurf ist nur ein Konstrukt. Wir haben immer betont, daß wir uns für eine Stärkung der politischen und kulturellen Rechte der Kurden innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen einsetzen. Wir haben die territoriale Einheit der Türkei also nie in Frage gestellt. Hintergrund des Verbotsverfahrens ist in Wirklichkeit der Versuch, unsere zentrale Forderung nach Gleichberechtigung mit allen Mitteln von der Tagesordnung zu verdrängen.

Wie bewerten Sie die Rolle der konservativ-islamischen Regierung von Ministerpräsident Tayyip Erdogan im Kurdenkonflikt?

Im August 2005 hat Erdogan in Diyarbakir in einer berühmten Rede die Kurdenfrage zu einem wichtigen Punkt auf seiner Agenda erklärt. Er hat eingeräumt, daß der türkische Staat in der Vergangenheit Fehler in der Kurdenpolitik gemacht hat. Viele haben sich deshalb von Erdogan einen Kurswechsel in der staatlichen Kurdenpolitik erhofft. Leider hat Erdogan aber nicht zu seinem Wort gestanden. Inzwischen ist deutlich geworden, daß der Ministerpräsident in Diyarbakir nur Populismus betrieb und daß die vermeintliche Offenheit in der Kurdenfrage vor allem ein Manöver für die Parlamentswahlen vom Juli 2007 war. Erdogan hatte es auf die kurdischen Wählerstimmen abgesehen. Nach den Wahlen hat sich die Kurdenpolitik dann ja auch sofort wieder verschärft.

In den letzten Wochen ist es immer wieder zu blutigen Unruhen in verschiedenen Städten der Südosttürkei gekommen. Was ist der Hintergrund?

Ausgelöst wurden die Unruhen durch Berichte, denen zufolge Abdullah Öcalan, der ehemalige Vorsitzende der PKK, in der türkischen Haft gefoltert worden ist.

Der türkischer Staat sollte sich eigentlich über die Bedeutung, die Öcalan für weite Teile der kurdischen Bevölkerung besitzt, im Klaren sein. Insofern ist es völlig unverständlich, warum einfache, deeskalierende Maßnahmen nicht ergriffen worden sind, mit denen die Unruhen hätten verhindert werden können. Menschenrechtsvereinigungen und auch unsere Partei haben gefordert, daß eine gemeinsame Kommission auf die Gefängnisinsel Imrali, wo Öcalan inhaftiert ist, entsandt wird, um die Foltervorwürfe zu untersuchen. Dies ist aber von der Regierung abgelehnt worden. Und deshalb kam es auch zu den Unruhen. Hier gilt dasselbe wie das, was ich bereits über das mögliche Verbot unserer Partei gesagt habe: Die kurdische Bevölkerung wird ihr Anliegen immer zum Ausdruck bringen. Und wenn ihr die demokratischen und legalen Mittel dazu genommen werden, dann wird sie es auch auf der Straße tun.

Welche Rolle spielt Öcalan heute noch in der kurdischen Bewegung?

Es mag einem passen oder auch nicht, der hohe Stellenwert, den Öcalan noch immer einnimmt, ist eine Realität, die in Rechnung gestellt werden muß. Der Umstand, daß die Verlautbarung, Öcalan sei in Imrali gefoltert worden, jung und alt in den Kurdengebieten auf die Straße getrieben hat, beweist, daß das Schicksal von Öcalan den Kurden am Herzen liegt. Die Kurden haben auch früher immer wieder zum Ausdruck gebracht, welche Bedeutung Öcalan für sie besitzt. Offensichtlich aber haben die Regierenden es vorgezogen, diesen Bekundungen kein Gehör zu schenken.

Auch zur Lösung der Kurdenfrage wäre es gut gewesen, den Dialog mit Öcalan zu suchen. Dies ist nicht geschehen, weil man auf türkischer Seite psychologisch noch nicht so weit ist, Öcalan als Dialogpartner anzuerkennen. Unter diesen Umständen wäre es naheliegend, zumindest mit den gewählten Vertretern der Kurden, die auf legalem Wege Politik betreiben, den Dialog zu suchen, also mit den Abgeordneten der DTP. Doch auch dies ist bislang unterblieben.

Wie könnte eine Lösung der Kurdenfrage aus Sicht Ihrer Partei aussehen?

Wir vertreten das Konzept einer »demokratische Autonomie in einer demokratischen Republik«, das wir auf unserem Parteikongreß im Herbst vergangenen Jahres verabschiedet haben. Mit »Autonomie« meinen wir dabei nicht eine Autonomie im ethnischen Sinne oder gar im Sinne einer territorialen Abspaltung, sondern vor allem im kulturellen Sinne. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang aber auch ein stärker föderalistischer Verwaltungsaufbau der Türkei, wobei jeder Region ein genau zu definierendes und auf bestimmte Kompetenzen beschränktes Selbstverwaltungsrecht zukommen sollte – wohlgemerkt innerhalb der bestehenden Grenzen und nicht mit dem Ziel, die Türkei aufzuspalten, wie uns immer vorgeworfen wird.

Über unsere Vorstellungen haben wir vor einem Jahr eine detaillierte Denkschrift verfaßt, die aber offenkundig von den meisten Parteien und auch von der Regierung in die Mülltonne geworfen worden ist, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Ohne die Denkschrift zu lesen hat man uns vorgeworfen, daß wir »Vaterlandsverräter« seien – nur weil wir den Begriff der Autonomie verwenden, der in der Türkei noch immer ein Reizwort ist. Dabei sind wir gar nicht die ersten, die dieses Konzept ins Spiel bringen, von Ismet Inönü über Adnan Menderes bis hin zu Tansu Ciller haben verschiedene Regierungen ähnliche Lösungsmöglichkeiten bereits angedacht. Doch wenn wir Kurden von Autonomie reden, werden in der Türkei sofort die Scheuklappen angelegt.

Wie konsensfähig ist das Konzept der »demokratischen Autonomie« denn innerhalb der kurdischen Bewegung?

Ich kann nicht für die PKK sprechen, aber daß die PKK insbesondere seit der Verhaftung Öcalans im Jahre 1999 eine politische Lösung des Kurdenproblems anstrebt, ist ja allgemein bekannt. Nach 1999 hat sich die PKK vom Konzept der Unabhängigkeit, das heißt von der Gründung eines eigenen Staates, verabschiedet und sich statt dessen einer Lösung innerhalb einer demokratisierten Türkei und auf Grundlage der vollen Gleichberechtigung der Kurden zugewandt. Ich glaube deshalb, daß unser Konzept einer »demokratischen Autonomie« von der PKK nicht abgelehnt wird. Auf der anderen Seite ist es natürlich völlig normal, wenn auch abweichende Auffassungen vertreten werden.

Wie ist das Verhältnis der DTP zu den linken türkischen Parteien? Es ist in regelmäßigen Abständen immer wieder von der Gründung einer »Dachpartei« die Rede.

Eine linke Partei wie die DTP ist unter den türkischen Mitbürgern Anatoliens nie entstanden. Rund zwei Millionen Menschen haben bei den letzten Wahlen für die DTP gestimmt, wir sind mit 21 Abgeordneten im Parlament vertreten. Die Bemühungen um die Gründung einer Dachpartei aus DTP und den bestehenden türkischen linken Parteien ist für uns deshalb auch der Versuch, eine schlagkräftige türkeiweite linke Bewegung zu bilden und unsere Kräfte im Kampf für mehr Demokratie zu bündeln. Allerdings gibt es starke Vorbehalte und auch Vorurteile uns gegenüber. Selbst manche türkische Intellektuelle bezeichnen unsere Partei als »separatistisch«.

In den letzten Monaten sind die Bemühungen zur Gründung einer Dachpartei verstärkt worden, wir haben uns mit Vertretern verschiedener Parteien zusammengesetzt, und ich glaube, daß wir ein gutes Stück vorangekommen sind. Aber bislang haben wir der türkischen Arbeiterklasse und den Ausgebeuteten noch nicht überzeugend vermitteln können, warum eine Stärkung der Linken in der Türkei dringend notwendig ist, fürchte ich.

Sieht sich die DTP zuerst als kurdische Partei oder als linke Partei?

Vor allem als demokratisch-linke Partei. Wir fordern das Recht auf ein menschenwürdiges Leben für jeden in der Türkei, unabhängig von seiner ethnischen Identität. Außerdem ist das Kurdenproblem ja keineswegs das einzige Problem. Wenn wir uns nur als kurdische Partei definierten, wären wir zudem um keinen Deut besser als die nationalistischen Parteien, von denen es in der Türkei schon mehr als genug gibt. Im Gegenteil: Als Partei lehnen wir den Nationalismus ausdrücklich ab. Wir müssen einer Tatsache ins Auge sehen: Türken und Kurden leben in diesem Land seit 1000 Jahren zusammen, unsere Kulturen sind eng miteinander verwoben, und auch unsere Siedlungsräume sind nicht starr voneinander getrennt. Zwei Völker, die so eng verbunden sind, können nur schwer getrennt werden, und davon würde auch niemand profitieren. Wer also auf der Grundlage von Nationalismus in der Türkei Politik betreibt, der bereitet nur den Weg für einen Bürgerkrieg.

Warum hat DTP bislang kein Programm für die gesamte Türkei entwickelt?

Wir haben uns immer als gesamttürkische Partei verstanden und uns dementsprechend bemüht, auch in allen Regionen vertreten zu sein. Dennoch fällt es uns aufgrund der bestehenden Vorurteile sehr schwer, uns auch in Regionen zu organisieren, in denen keine oder wenige Kurden leben. Aber wir versuchen, Lösungsansätze für wirtschaftliche und soziale Probleme zu entwickeln, die das gesamte Land betreffen. Weil man uns jedoch vor allem als kurdische Partei wahrnimmt, dringen diese Ansätze kaum in das öffentliche Bewußtsein vor.

Natürlich liegt unser Schwerpunkt auf der Kurdenfrage. Aber wir kümmern uns auch um die Probleme der Arbeiterklasse in der gesamten Türkei. Ein Beispiel ist hier die Situation der Werftarbeiter in der Region Tuzla, die unter katastrophalen und häufig auch tödlichen Arbeitsbedingungen ihr Auskommen verdienen müssen. Auch die Probleme der Bauern gehören zu unseren Anliegen, insbesondere die Trockenheit und die Auswirkungen der Klimaerwärmung, die die hiesige Landwirtschaft zunehmend beschäftigen –­ und zwar türkische wie kurdische Bauern gleichermaßen. Außerdem ist natürlich das Thema Menschenrechtsverletzungen einer unserer Schwerpunkte – unabhängig davon, ob der Geschädigte ein Kurde oder ein Türke ist. Allgemein gesprochen gehört es zu unseren wichtigsten Zielen, zur Schaffung der Grundlage für ein friedliches und brüderliches Zusammenleben der einzelnen Volksgruppen in der Türkei beizutragen.

Ist das nicht illusorisch? In den letzten Monaten nehmen rassistische Übergriffe auf Kurden in den westlichen Landesteilen immer mehr zu.

Dies ist ein Resultat des Umstandes, daß viele Kräfte in Politik und Staat offenkundig kein Interesse an einem Ausgleich in der Kurdenfrage verspüren. Seit mehr als 20 Jahren sterben Soldaten bei Gefechten mit der PKK, die allgemeine Frustration darüber ist sehr hoch. Wenn dann in einer Region, in der ein Soldat beerdigt wird, noch Aufwiegler und Provokateure Öl ins Feuer gießen, dann kommt es schnell zu Übergriffen. Nichts anderes ist in der vergangenen Zeit in der Westtürkei passiert, als Kurden Opfer von Ausschreitungen der örtlichen Bevölkerung wurden. Die Spannungen unter den einzelnen Bevölkerungsgruppen haben zugenommen, das ist unverkennbar. Um so wichtiger ist es, daß sich die Politik um konstruktive Lösungen bemüht und nach Wegen sucht, das brüderliche Zusammenleben der einzelnen Bevölkerungsgruppen zu stärken. Leider scheinen sich viele Politiker und Gruppierungen in der Türkei um das genaue Gegenteil zu bemühen. Doch wir stehen alle in der Pflicht, den Ausbruch eines Bürgerkrieges zu verhindern. Nicht nur die DTP, nicht nur die Linken und die Sozialdemokraten, sondern jeder Bürger und jede gesellschaftliche Gruppierung.

Interview: Bülent Özcelik

* Aus: junge Welt, 15. November 2008


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