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CSU-Misstöne zu Erdogans Visite

Grüne: Seehofer trägt sarrazinschen Rassismus in die bundesdeutsche Spitzenpolitik

Während des Deutschland-Besuchs des türkische Regierungschefs Erdogan heizte Bayerns Ministerpräsident Seehofer mit rechtspopulistischen Parolen die Integrationsdebatte an.

Keine Türken und Araber mehr nach Deutschland: Mit der Forderung nach einem Zuwanderungsstopp für Ausländer aus »fremden Kulturkreisen« macht CSU-Chef Horst Seehofer Politik am rechten Rand. Die Grünen warfen dem bayerischen Ministerpräsidenten Populismus vor. Kritik kam auch von FDP, SPD und LINKEN, die CDU zeigte sich irritiert. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan warben derweil für eine bessere Integration.

Seehofer sagte dem Magazin »Focus«: »Es ist doch klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun.« Daraus ziehe er den Schluss, »dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen«. Gleichzeitig forderte er schärfere Sanktionen gegen Integrationsverweigerer. Diese müsse man »härter anpacken«.

Grünen-Chefin Claudia Roth griff Seehofer scharf an. »Mit seiner unsäglichen und skandalösen Unterscheidung von guten und schlechten Migranten je nach Kulturkreis trägt er den sarrazinschen Rassismus und Sozialdarwinismus in die bundesdeutsche Spitzenpolitik«, erklärte Roth. Kritik übte auch der Koalitionspartner FDP: »Seine Äußerungen schaden unserem Land ebenso wie die Äußerungen von Thilo Sarrazin zur Genetik«, erklärte der integrationspolitische Sprecher der Partei im Bundestag, Serkan Tören. Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) meinte: »Eine auf bestimmte Nationalitäten begrenzte Zuwanderungspolitik stigmatisiert hier lebende Menschen und dient nicht dem inneren Frieden.« Petra Pau von der Linkspartei erklärte, was Bundespräsident Wulff zueinanderbringen wollte, treibe Seehofer gegeneinander

Der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach zeigte sich irritiert. Wenn Seehofer hinter geltendes Recht zurückwolle, habe er Zweifel, ob das verfassungsrechtlich und völkerrechtlich überhaupt möglich sei. Als Beispiel nannte er den Ehegattennachzug oder den Schutz politisch Verfolgter. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), erklärte, sie sei »sehr schockiert« über die Äußerungen Seehofers. Menschen aus einem anderen Kulturkreis dürften nicht unter einen Generalverdacht gestellt werden.

Merkel und Erdogan sprachen sich am Samstag in Berlin für eine bessere Integration der etwa zwei Millionen in Deutschland lebenden Türken aus. Oft hätten türkische Mitbürger eine schlechtere Ausbildung und beendeten seltener die Schule mit einem Abschluss, sagte Merkel. »Das möchten wir ändern.« Erdogan sagte, zu einer besseren Integration gehöre neben der Beherrschung der türkischen Muttersprache auch ein »sehr gutes Deutsch«. Der türkische Premier zollte Bundespräsident Christian Wulff für seine jüngste Anmerkung, auch der Islam gehöre zu Deutschland, großes Lob. Damit habe er eine Realität anerkannt – so wie es eine Realität sei, dass auch Christentum und Judentum zur Türkei gehörten.

Bei den EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei sagte Merkel Erdogan Unterstützung zu. »Wo wir hilfreich sein können, werden wir das sein.« Erdogan forderte: »Es darf keine Verlangsamung in diesem Prozess geben.«

* Aus: Neues Deutschland, 11. Oktober 2010


Auf Sarrazins Wegen

Von Christian Klemm **

Diplomatisches Feingefühl ist für ihn ein Fremdwort. Während Kanzlerin Merkel und der türkische Ministerpräsiden Erdogan bemüht sind, die komplizierten Beziehungen der beiden Staaten zu verbessern, wirft Horst Seehofer der deutschen Regierungschefin einen Knüppel zwischen die Beine und fordert einen Zuwanderstopp für Migranten aus der Türkei und den arabischen Ländern. Erdogan – aber auch die Kanzlerin – dürften diese Aussage nicht gerade wohlwollend aufgenommen haben.

Wieder einmal schießt Seehofer quer. Der CSU-Chef scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, gegen das Berliner Regierungskabinett Front zu machen. Berühmt sind die Hiebe aus Bayern gegen Philipp Rösler (FDP) und seine Gesundheitsreform. Auch die Aussetzung der Wehrpflicht und die nur mäßige Verlängerung der AKW-Laufzeiten schmecken Seehofer nicht. Dass die Bundeswehrreform ausgerechnet von einem CSU-Minister durchgedrückt wird, dürfte ihm besonders übel aufstoßen.

Die aktuellen Ausfälle Seehofers erinnern an die Tiraden des »Integrationsexperten« Thilo Sarrazin, der ganz offen gegen Zuwanderer mit muslimischen Migrationshintergrund hetzt – und damit in der Bevölkerung leider viel Zustimmung erfährt. Das politische Kalkül des gerissenen CSU-Politikers ist also klar: Er will diejenigen für sich gewinnen, die Sarrazin beipflichten. Schließlich gilt es im konservativen Bayern 2013 eine Wahl zu gewinnen. Am liebsten mit absoluter Mehrheit.

** Aus: Neues Deutschland, 11. Oktober 2010 (Kommentar)


Schattengefechte

Von Uwe Sattler ***

Es ist das bekannte Ritual. Vor jedem Treffen mit Politikern aus der EU wirft die türkische Staatsspitze Brüssel vor, die seit fünf Jahren laufenden Beitrittsgespräche zur Gemeinschaft zu behindern. Und mit ebensolcher Regelmäßigkeit betonen die Vertreter des Westens, die Aufnahmeverhandlungen würden »ergebnisoffen« geführt – was nichts anderes heißt, als dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei nach wie vor in weiter Ferne liegt.

Nicht anders lief das Spiel bei der Begegnung zwischen den türkischen und deutschen Regierungschefs, Erdogan und Merkel, am Sonnabend in Berlin. Nur war diesmal das Bekenntnis der Kanzlerin, Berlin wolle die Verhandlungen zügig zu Ende bringen, angesichts der Absage aus München an »fremde Kulturkreise« besonders unglaubwürdig.

Erdogan wird mit dem praktischen Stillstand im Verhältnis EU-Türkei leben können. Er weiß, dass Ankara die Hausaufgaben in punkto weiterer Demokratisierungen trotz kleiner Schritte und der Normalisierung der Beziehung zu Zypern seit Jahren vor sich her schiebt. Gerade letzteres hatte Brüssel zur Beitrittsbedingung gemacht – wohlwissend, dass ein Einlenken gegenüber dem Erzrivalen Zypern für jeden türkischen Premier das Aus bedeuten würde. So wollte Erdogan mit seinen deftigen Worten Richtung Westen vor allem zu Hause den starken Mann geben. Mit solchen Motiven liegt er gar nicht so weit weg von jenen seines größten Widersachers in (West-)Europa: Frankreichs Präsident Sarkozy, der mit seiner Ablehnung der Aufnahme der Türkei – und unausgesprochen einer »Islamisierung« Europas – bei seiner Wählerklientel punkten will.

*** Aus: Neues Deutschland, 11. Oktober 2010 (Kommentar)


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