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Mit oder ohne EU?

Mitgliedschaft der Türkei in Europäischer Union wäre kein Fortschritt. Kampf um Demokratie und Gleichberechtigung muß weitergehen

Von Özlem Alev Demirel *

In der deutschen Medienlandschaft ist es um die Demonstrationen in der Türkei etwas ruhiger geworden. Doch die Proteste und vor allem die Angriffe der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gegen die Protestierenden gehen weiter. Erst kürzlich verstarb ein 19jähriger Mann nach einer Lynchattacke von Zivilpolizisten und Erdogan-Anhängern. Selbst die Gedenkdemonstration während seiner Beerdigung wurde brutal von der Polizei angegriffen. Die Gewalt gegen Demonstranten und ihre Unterstützer nimmt kein Ende. In den letzten Wochen gab es unzählige Verletzte und Inhaftierte. Allein 35 Vertreter des Bündnisses »Taksim-Solidarität« wurden verhaftet. Die offizielle Begründung lautete: »Gründung einer illegalen Organisation«.

Auch international wurde die Diskussion um die Situation in der Türkei in der heißen Phase der Proteste lautstark geführt. In den ersten Tagen herrschte zwar auffällige Ruhe. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP) verwies z.B. lediglich darauf, daß die Regierung in der Türkei nicht mit den gestürzten Regimen in Ägypten oder Tunesien vergleichbar sei, da sie demokratisch gewählt worden sei. Doch als Erdogan und sein Staatsapparat immer massiver und skrupelloser gegen die eigene Bevölkerung vorgingen, mußte sich auch die internationale Gemeinschaft äußern. Schließlich kritisierten zahlreiche Regierungs- und Staatschefs europäischer und anderer westlicher Staaten die Polizeigewalt in der Türkei, darunter auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Renommierte Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland zeigten sich schockiert über das Vorgehen des Regimes, viele Medien und Politiker beschrieben Erdogan als einen machttrunkenen Sultan, der nur noch blind vorgehe.

Neuordnung

Dennoch blieb der Eindruck, Erdogan solle nicht völlig fallengelassen werden. Das wäre plausibel. Schließlich gibt es unter anderem geostrategische, militärische und wirtschaftliche Bündnisse und Pläne mit Erdogan und der Türkei.

So soll das Land mit der AKP-Regierung offensichtlich eine bedeutende Rolle bei der Neuordnung des Nahen Ostens spielen. Die Türkei ist ein sehr wichtiger Partner in der NATO und stellt eine ihrer größten Armeen. Hinzu kommt, daß die Türkei einen wachsenden Absatzmarkt mit einem sehr hohen Bevölkerungsanteil junger Leute bietet. Daher ist es kein Zufall, daß der EU-Beitritt der Türkei während der großen Auseinandersetzungen dort zu einem wichtigen Debattenthema hier wurde. Schließlich eröffnet Brüssel derzeit ein neues Kapitel der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.

Viele deutsche Politiker sehen die aktuellen Ereignisse als willkommene Gelegenheit, um altbekannte Argumente zum Für und Wider einer türkischen EU-Mitgliedschaft neu zu erörtern. Konservative Kräfte wie die CSU oder gar die Rechtspopulisten der sogenannten Pro-Bewegung hetzen aus kulturalistischen Gründen, also aus »christlich-abendländischer« Perspektive, so wie schon immer dagegen, ein muslimisches Land aufzunehmen. Gleichzeitig behaupten einige scheinbar linksdemokratisch gesinnte Kräfte, daß die EU den Fortschritt in der Türkei weiter unterstützen und voranbringen könne.

Tatsache ist, daß z.B. die türkische Polizei schon seit Jahren von deutschen und österreichischen Sicherheitskräften ausgebildet wird. Allein seit 2007 sind außerdem im Rahmen der Beitrittsverhandlungen 4,8 Milliarden Euro in die Türkei geflossen. Diese Mittel, die von den EU-Steuerzahlern aufgebracht werden, kommen keineswegs bei der Bevölkerung in der Türkei an. Im Gegenteil, die Kluft zwischen Arm und Reich wird auch in der Türkei immer tiefer.

Für die hiesige Debatte muß zunächst festgehalten werden, daß der EU-Beitritt der Türkei eine Entscheidung ihrer Bevölkerung ist und bleiben sollte. Die Betonung muß auf dem Wort Bevölkerung liegen, denn dieser Schritt ist nicht Sache der Regierung. Im übrigen gibt es für alle Beitrittskandidaten gleichermaßen gültige Kriterien. Sobald ein Land diese erfüllt, hat es das Recht, der EU beizutreten. Kulturalistische Gründe für die Ablehnung der Aufnahme eines Landes sind schon deswegen klar abzulehnen. Doch wenn man mich als EU-Bürgerin fragen sollte, ob es für die Menschen in der Türkei ein Fortschritt wäre, Mitglied der EU zu werden, kann ich das ohne zu zögern mit »Nein« beantworten.

Reaktionär oder Illusion

Letztlich hat die Europäische ­Union auf der derzeit gültigen Rechtsbasis den Bevölkerungen ihrer 28 Mitgliedsländer keine progressive Entwicklung gebracht. Der Beitritt führte zu Aufrüstung sowie Demokratie- und Sozialabbau. Wie schlecht es derzeit den Bevölkerungen in den Ländern im Süden Europas ergeht, ist offensichtlich. Die niedrigen sozialen Standards, die ihnen vor allem von Deutschland und den anderen »starken« Staaten Europas diktiert werden, sind verheerend. Auch in Deutschland selbst sind soziale Rechte nicht zuletzt mit dem Verweis auf den europäischen Wettbewerbsraum geschleift oder zumindest verringert worden.

Zur Debatte um das neueröffnete Beitrittskapitel ist außerdem festzuhalten: Die Verhandlungen werden eben nicht mit den Protestierenden, sondern mit deren Gegner, dem Regierungsoberhaupt Erdogan, geführt werden. Dies bestärkt nicht jene, sondern den Ministerpräsidenten in seinem Vorgehen. Somit agiert das Europaparlament heuchlerisch, wenn es die türkische Regierung auf der einen Seite für ihren Verstoß gegen die Pressefreiheit rügt und ihr gleichzeitig mit der Eröffnung des neuen Beitrittskapitels huldigt.

Diese Entscheidung ist ein Schlag gegen die ungezählten Demokraten, die für ihre Rechte und ihre Zukunft auf den Straßen kämpfen. Ein weiser Mann meinte einmal zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts sinngemäß, daß Europa unter dem gegebenen wirtschaftlichen und politischen System entweder reaktionär oder eine Illusion ist. Dies bestätigt sich derzeit überdeutlich.

Das heißt: Der Kampf um Demokratie, Frieden und soziale Gerechtigkeit wird nicht automatisch mit dem Beitritt zur EU erfolgreich sein. Er muß auf dem Taksim-Platz, den Straßen Madrids, Lissabons, Athens und auch Frankfurts weitergeführt werden.

* Die Autorin ist Bundesvorsitzende der Föderation demokratischer Arbeitervereine (DIDF)

Aus: junge Welt, Freitag, 19. Juli 2013



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