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"Die Luft ist schwer wie Blei!"

Über die aktuelle Kriegspolitik der türkischen Regierung

Von Murat Çakır

Es kam wie von vielen informierten Kreisen vorausgesagt wurde: noch bevor der Ramadan zu Ende war, begannen die Angriffe der türkischen Armee auf mutmaßliche Stellungen der PKK. Berichten zufolge ist vor allem die Zivilbevölkerung das Leidtragende. Das Bombardement der türkischen Kampfjets und Bodeneinheiten trifft Dörfer und zivile Siedlungen.

Dabei hegte man nach den Parlamentswahlen am 12. Juni 2011 noch Hoffnungen auf eine friedliche Lösung des Konflikts. Das Linksbündnis, getragen von der prokurdischen und mehreren linkssozialistischen Parteien, hatte mit 36 Parlamentssitzen einen großen Erfolg erkämpft. Auf der anderen Seite waren Vertreter des Staates dabei, mit dem, in Isolationshaft gehaltenen Kurdenführer Abdullah Öcalan Verhandlungen zu führen. Am 15. Juli 2011 hatte Öcalan deshalb erklärt, dass »die Verhandlungen fortgeführt werden und eine Friedenskommission gegründet werde«.

Doch die Aberkennung des Mandats von Hatip Dicle wenige Tage nach der Wahl, die Nichtfreilassung von gewählten Abgeordneten und der, im Rahmen des KCK-Komplotts inhaftierten BDP-PolitikerInnen sowie weitere Repressalien und Fortführung der militärischen Operationen verhießen nichts Gutes. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der durch den Rücktritt der obersten Generäle und die Unterstützung der USA gestärkt aus dem Machtkampf heraustrat, verschärfte von Tag zu Tag seine Kriegsrhetorik. Obwohl Öcalan vehement sich für eine friedliche Lösung einsetzte und erklärte, den Konflikt binnen einer Woche deeskalieren zu können, blieben seine Appelle unerhört. Just an den Feierlichkeiten zum 10. Gründungsjahr seiner AKP erklärte Erdogan den »totalen Krieg«.

Warum? Was sind die eigentlichen Gründe für diesen Kurs der neuen Staatspartei AKP? Was bedeutet ein solcher Krieg für die Region und wie könnte es weitergehen? Das sind die Fragen, nach deren Antwort in diesem Artikel gesucht werden.

Diktatorisches Regime im Aufbau

Kommentatoren der regierungsnahen Zeitungen, auch zahlreiche liberale Stimmen, vertreten die Auffassung, dass PKK-Angriffe der Grund für diese Kriegserklärung seien. Ein kurzer Rückblick jedoch zeigt, dass die aktuelle Eskalation der militärischen Gewalt von langer Hand geplant war und letztendlich ein Ergebnis der unsäglichen AKP-Politik ist.

Während Erdogan sich damit rühmte, das Kriegsrecht und die Staatssicherheitsgerichte aufgelöst zu haben, scheuen die inzwischen installierten sog. »Gerichte mit Sonderermächtigung« und Willkürjustiz der Sicherheitskräfte keinen Vergleich mit diktatorischen Verhältnissen. Die Gleichschaltung der Justiz und der Medien, die Inhaftierung von über 70 kritischen JournalistInnen, die Verurteilung von minderjährigen Kindern zu hohen Haftstrafen – weil sie Steine geworfen hätten -, von Polizisten und Soldaten erschossenen Kinder sowie tausende Verhaftete sprechen eine andere Sprache. Den Berichten der Menschenrechtsorganisationen zufolge wurden alleine 2010 rund 16 Tausend Personen aus politischen Gründen verhaftet. Und in der ersten Jahreshälfte 2011 wurden in den kurdischen Gebieten 4.015 Personen verhaftet.

Damit nicht genug: obwohl die PKK einseitig Waffenstillstand erklärt hatte, wurden zahlreiche GuerillakämpferInnen gezielt getötet und militärische Operationen in Kurdistan nahmen nicht ab. Gleichzeitig wurden Bestattungen von »gefallenen« Soldaten dazu genutzt, um den Hass der türkischen Bevölkerung gegen KurdInnen aufzustacheln und in gewählten Städten Lynchhysterie zu verbreiten.

Ohne Zweifel: die AKP ist dabei, ihre Hegemonie systematisch für die Errichtung eines autoritären Regimes zu nutzen. Die Rücktritte der obersten Generäle wurden zum Anlass genommen, einen nachweislichen Kriegsverbrecher, General Necdet Özel, zum Oberbefehlshaber der türkischen Streitkräfte zu ernennen. Der von der kurdischen Bevölkerung als »Chemical Necdet« genannter Özel ist als kompromisslos bezüglich der kurdischen Frage bekannt.

Gleichzeitig wird die Neustrukturierung der Armee und der Sicherheitskräfte vorangetrieben. Während die Streitkräfte, professionalisiert und modernisiert zu einer Interventionskraft umgebaut werden, erfolgt die Paramilitarisierung der Polizei. In diesem Zusammenhang erklärte die AKP-Regierung ihren Willen, die Gendarmerie dem Innenministerium zu unterstellen. Zudem werden sog. »Supergouverneure« ernannt, die mit Sondervollmachten ausgestattet werden und die Polizeikräfte sowie die Gendarmerie befehligen sollen. Zusammen mit den sonderermächtigten Gerichten, dem sog. »Gesetz zur Bekämpfung des Terrors«, weiteren Gesetzesverschärfungen und den paramilitärisch hochgerüsteten Sicherheitskräften werden diese »Supergouverneure« das Instrument und die wichtigste Stütze der AKP-Diktatur.

Neoosmanische Imperialismusgelüste

Diese Entwicklung muss in einem engen Zusammenhang mit den Neuordnungsversuchen des Nahen Ostens betrachtet werden. Alle Schritte, die von der AKP-Regierung unternommen werden, geschehen im Einklang mit den USA und der NATO. Entgegen der Unkenrufe einiger Konservativen aus Europa, »die Türkei stehe vor einer Islamisierungsgefahr«, ist die Bindung an den Westen, sprich der USA, Kerneuropa und an die NATO fester denn je.

Im Unterschied zu den früheren Jahren sind die türkischen Machthaber selbstbewusster und fordern, im Bewusstsein über die wachsende geostrategische Bedeutung der Türkei, ihren Anteil an dem zu verteilendem »Kuchen«. Dafür sind sie bereit, als Gendarm der westlichen Mächte in der Region zu agieren und Interventionskriege mit aller Macht zu unterstützen. Mit der Durchsetzung der neuen Rolle der Streitkräfte sind sie auch dafür bestens gerüstet. Im Gegenzug forderten und erhielten sie Unterstützung bei ihrem militärischen Vorgehen gegen die kurdische Bewegung.

Die Kriegserklärung Erdogans ist daher keine innenpolitische Posse und bei weitem kein unkontrollierter Gefühlsausbruch. Im Gegenteil; es ist ein berechneter Schritt, mit dessen Verwirklichung der regionale Machtanspruch untermauert werden soll. Mit den nächtlichen Angriffen, der Nutzung von Drohnen und bunkerbrechenden Bomben soll die militärische Stärke der Armee demonstriert werden. Es ist auch ein unmissverständliches Signal an die syrische Führung.

Die Entwicklung in Syrien ist für Ankara und Washington besonders ärgerlich, da diese Entwicklung für beide Staaten ein unkalkulierbares Risiko beinhaltet. Eine Änderung des Status quo in dem multiethnischen Syrien würde womöglich den gesamten Nahen Osten destabilisieren. Zudem hat die Türkei mit Syrien eine 850 km lange gemeinsame Grenze und ein dickes gemeinsames »Kurdenproblem«. Eine mögliche Emanzipation der syrischen KurdInnen wäre für die Türkei unakzeptabel. So erhöht die AKP-Regierung den Druck auf Syrien, um Assad zu Zugeständnissen zu drängen, die jedoch gleichzeitig die territoriale Einheit Syriens sicherstellen sollen.

Auf der anderen Seite hat die AKP-Regierung eine strategische Kooperation mit dem Molla-Regime in Iran aufgebaut. Daher wurde das massive Vorgehen der iranischen Armee gegen die kurdische Bewegung durch Ankara unterstützt. Umgekehrt erlaubte Iran der türkischen Luftwaffe die Nutzung ihres Luftraums bei den letzten Bombardierungen.

Wie weiter?

Die Tatsache, dass die politisierte kurdische Bevölkerung nicht mehr so leben will, wie bisher, macht immer noch das größte Hindernis für die Regionalmachtphantasien der zum Neoliberalismus konvertierten AKP aus. Sowohl die Regierung und die sie unterstützenden Kräfte, als auch die Militärs scheinen davon überzeugt zu sein, dass die kurdische Bewegung mit massiver militärischer Gewalt zerschlagen werden kann.

Genau dies ist aus der Sitzung des neustrukturierten Nationalen Sicherheitsrates zu hören. In seiner Erklärung vom 18. August 2011 weist der Sicherheitsrat daraufhin, dass »unter den günstigen Bedingungen der internationalen Politik mit aller Härte und einer neuen Strategie der Kampf gegen den Terror mit Erfolg gekrönt« werde.

Wie diese »neue Strategie« aussieht, kann man aus den Interviews der Regierungspolitiker und den Medienkommentaren lesen. Es ist zu erwarten, dass den massiven militärischen Schlägen landesweite Repressionen und Verhaftungswellen folgen werden. Erdogan äußerte sich dazu unmissverständlich: »Alle, die der Terrororganisation nahe stehen, werden die geballte Macht des Staates zu spüren bekommen«. Damit sind auch türkische Linke und Menschenrechtsorganisationen gemeint.

Zeitgleich begann auch die kriegsverherrlichende und Hass erzeugende Propaganda der regierungsnahen Medien. Die Tageszeitung Yeni Safak druckte auf ihrer ersten Seite mit großen Buchstaben »ihr seid die Mörder« und veröffentlichte die Fotos von BDP-PolitikerInnen. Nach Erdogans Drohung wurden mehrere BDP-Büros angegriffen und in verschiedenen Städten sind allabendlich nationalistische Mobs auf den Straßen.

Die Gefahr eines Bürgerkrieges bzw. bürgerkriegsähnlichen Situation ist nicht von der Hand zu weisen. Die Bombardierung kurdischer Dörfer geht unvermindert weiter. Anwälten von Öcalan wird seit mehreren Wochen der Besuch auf der Imrali-Insel verwehrt. Einigen Anwälten wurde sogar ihr Mandat entzogen.

Auf der anderen Seite gehen immer mehr Menschen in Kurdistan protestierend auf die Straßen. Die Regierung antwortet darauf mit massiver Polizeigewalt. Appelle türkischer Intellektuellen, die die Beendigung der militärischen Operationen und zivile Konfliktlösungen einfordern, verhallen in der Leere. Gesprächsangebote der Bündnisabgeordneten zur friedlichen Lösung bleiben unerhört.

All das deutet daraufhin, dass der Konflikt weiter verschärft wird und die Situation eskalieren könnte. Wenn dieser kriegerische Weg weiter vorangeschritten wird, kann ein blutiger Prozess beginnen, an dessen Ende die Türkei, wie wir sie heute kennen, nicht mehr existieren könnte. Denn ein wieder entfachter Krieg wird nicht mehr in den Bergen einzugrenzen sein. Dann würden auch die Städte brennen – und damit auch die Straßen Europas.

Die AKP spielt mit dem Feuer. Hoffen wir, dass sie nur ihre Finger verbrennt und nicht die gesamte Region.

19. August 2011


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