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"Großangriff auf kurdische Stellungen"

Mit der Ernennung von Necdet Özel zum türkischen Generalstabschef stehen die Zeichen auf Sturm. Ein Gespräch mit Murat Çakr *


Murat Çakr ist Kolumnist der türkisch- und kurdischsprachigen Tageszeitung Özgür Gündem sowie Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Frankfurt am Main.

Deutschsprachige Kommentatoren haben sich vom Rücktritt der türkischen Armeeführung eine Demokratisierung erhofft, sie sprachen sogar von einer »Kapitulation« der Armee vor der zivilen Macht. Überrascht Sie die Ernennung Necdet Özels, der für Kriegsverbrechen verantwortlich ist, zum neuen Generalstabschef?

Überrascht war ich nicht. Es gab seit langem einen Machtkampf zwischen der Regierung und den Militärs, in dem die konservative AKP-Regierung von den USA unterstützt wurde. Aber dabei ging es nie um eine strukturelle oder verfassungsmäßige Änderung des Systems.

Galt die Armee nicht bisher als Garant für die Westbindung der Türkei?

Es ist eine Konstante der türkischen Politik, sich an den Westen zu binden. Daran hält sich auch die AKP-Regierung. Die Macht der Generäle wurde zwar beschnitten, aber die Demokratisierung ist auf der Strecke geblieben. Die AKP hat nun als neue Staatspartei die volle Macht. Ein Großteil der türkischen Bevölkerung ist zudem nationalistisch und konservativ eingestellt. Die Wahlergebnisse der AKP, die es geschafft hat, den neoliberalen Kapitalismus islamisch zu legitimieren, bestätigen das. Bei den Parlamentswahlen hat sie knapp 50 Prozent erreicht.

Viele türkische Offiziere sitzen wegen Zugehörigkeit zu der nationalistischen Verschwörergruppe »Ergenekon« in Haft. Was sind die Hintergründe?

Der Ergenekon-Prozeß ist im Endeffekt eine Art Darmreinigung des Systems. An dessen Strategien ändert sich dadurch nichts. In der Außen- und Verteidigungspolitik sowie im Umgang mit der kurdischen Bewegung gibt es einen engen Schulterschluß zwischen Armee und AKP. Im Machtkampf zwischen ihnen ist der Ergenekon-Prozeß ein Hebel.

Erscheint der Rücktritt der Armeeführung nun als Schachzug, wenn man bedenkt, daß ein Großteil der Zurückgetretenen kurz vor der Pensionierung stand und Özel als Hardliner der alten Garde gilt?

Auf jeden Fall. Die Kommandeure der Teilstreitkräfte wären sowieso nächsten Monat in den Ruhestand getreten. Oberbefehlshaber Ik Koaner hätte noch zwei Jahre vor sich gehabt. Mit Necdet Özel hat die Regierung jemanden an der Hand, der verläßlich für ihre Außenpolitik und eine härtere Gangart gegenüber der kurdischen Bewegung einsteht. Kurdische und türkische Linke rechnen in den nächsten Wochen mit einem Großangriff auf kurdische Stellungen. Regierung und Armee sollen sich geeinigt haben, mit einer »kontrollierten Eskalation« die kurdische Bewegung endgültig zu zerschlagen und 5000 bis 10000 Tote in Kauf zu nehmen.

Welche Anhaltspunkte gibt es dafür?

In Kommentaren der türkischen Presse wird in letzter Zeit oft erwähnt, daß die tamilische Widerstandsbewegung in Sri Lanka auch zerschlagen wurde, indem man entsprechend hohe Opferzahlen in Kauf nahm – und daß es durchaus möglich sei, mit militärischer Härte erfolgreich gegen eine »terroristische Organisation« vorzugehen. Man liest es von Chefredakteuren, man hört es von Abgeordneten – und Menschenrechtsorganisationen nehmen das sehr ernst. In den türkischen Massenmedien wird auch über Necdet Özel nur positiv berichtet. Daß er 1999 als Brigadegeneral für den Einsatz international geächteter Chemiewaffen gegen kurdische Guerillakämpfer in der Provinz irnak verantwortlich war, ist kein Thema. Das ist allerdings dokumentiert und sollte weiterverbreitet werden. Der kurdische Fernsehsender Roj TV hat entsprechendes Videomaterial ausgestrahlt. 20 PKK-Guerillas starben damals in einer Höhle, die mit Gasgranaten beschossen wurde. Auf Anfrage der Bundestagsabgeordneten der damaligen PDS, Ulla Jelpke, hat die deutsche Regierung ausweichend geantwortet, die Türkei sei Vertragsstaat des Abkommens über das Verbot Chemischer Waffen von 1997 und unterliege dementsprechend Überwachungsmechanismen.

Sie haben in einer gemeinsamen Erklärung mit Jelpke und anderen Politikern der Linkspartei die Ernennung von Özel verurteilt. Welche Konsequenzen erwarten Sie von der Bundesregierung in deren Türkeipolitik?

Ich denke, die Bundesregierung hält an ihrem Prinzip, das NATO-Mitgliedsland Türkei zu stärken, auch weiterhin fest. Komme, was wolle. Realistisch erwarte ich weder von der Bundesregierung noch von den USA eine Positionierung dagegen.

Interview: Claudia Wangerin

* Aus: junge Welt, 5. August 2011


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