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Ankara setzt auf Repression

90 weitere BDP-Politiker in Haft. Türkischer Premier wirft deutschen Stiftungen Terrorfinanzierung vor. Zeugen nach Schießerei in Batman eingeschüchtert

Von Nick Brauns und Claudia Wangerin *

Antiterroreinheiten der türkischen Polizei nahmen am Dienstag in Istanbul und Diyarbakir rund 90 BDP-Politiker fest. Die islamisch-konservative AKP-Regierung wirft ihnen Mitgliedschaft in der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vor. Im September waren bereits 771 BDP-Mitglieder, Gewerkschafter und Menschenrechtsaktivisten festgenommen worden, von denen 286 weiterhin in Haft sind. Unterdessen beschuldigte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nicht näher genannte »deutsche Stiftungen«, die von türkischer Seite als terroristisch eingestufte PKK zu finanzieren. Über Kredite für Infrastrukturprojekte der kurdischen Lokalverwaltungen – etwa zur Modernisierung von Abwassersystemen –werde auf offiziellem Weg Geld an die PKK geschickt, behauptete Erdogan. Der deutsche Botschafter in Ankara, Erhard Pohl, wies die Vorwürfe zurück. Parteistiftungen hätten nichts mit Infrastrukturprojekten zu tun. Die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GiZ) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) seien mit Erlaubnis der türkischen Regierung im Land aktiv.

Die PKK ließ am Montag (3. Okt.) vier von insgesamt zwölf Lehrern frei, die sie in den letzten Wochen entführt hatte, um gegen die Weigerung der Regierung zu protestieren, kurdischsprachigen Schulunterricht zu genehmigen. Die übrigen Lehrer kämen bald frei, versicherte die Guerilla.

Rund 100 Städte und Gemeinden im Südosten der Türkei werden seit der Kommunalwahl 2009 von der BDP regiert. Unter den Inhaftierten sind mehrere Bürgermeister, die von der kurdischen Bevölkerung gewählt wurden, so auch der Bürgermeister von Batman, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Dort waren in der Nacht zum Dienstag vergangener Woche eine hochschwangere Frau und ihre vierjährige Tochter in einem Zivilfahrzeug erschossen worden. Das ungeborene Baby konnte zunächst per Kaiserschnitt gerettet werden, starb jedoch im Krankenhaus. Während die türkischen Behörden die PKK und deren militärischen Arm HPG beschuldigten, eine Schießerei mit der Polizei angefangen zu haben, bei der das Auto ins Kreuzfeuer geraten sei, sagten Augenzeugen zunächst gegenüber kurdischen Medien, die Polizei habe das Feuer eröffnet. Das Gefecht mit drei mutmaßlichen HPG-Kämpfern habe nicht am selben Ort stattgefunden.

Während der Trauerfeier für Mizgin Doru und ihre Tochter in Örmegöz standen Militärs und Zivilpolizisten auf Dächern und Hügeln sowie vor dem Trauerhaus. Wie die kurdische Nachrichtenagentur Firat meldete, waren die Zeugen später nicht mehr bereit, ihre Aussagen zu wiederholen. Videoaufnahmen, die der Gouverneur als angebliche Beweise für die Täterschaft der Guerilla anführt, zeigen jedoch, wie ein wegfahrendes weißes Auto von der Polizei beschossen wird. Später kam es auf einer 563 Meter entfernten Baustelle zu dem Gefecht, bei dem zwei Guerilleros und ein Polizist getötet wurden und ein Bauarbeiter womöglich hingerichtet wurde. Ein im Internet verbreitetes Handyvideo zeigt, wie zwei Polizisten eine offenbar noch lebende Person von der Baustelle wegschleifen. Auch das Kommando »Schieß ihm in den Kopf«, ist zu hören.

* Aus: junge Welt, 5. Oktober 2011


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