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"Wir lassen uns dadurch nicht einschüchtern"

Türkei: Die falschen Gesprächspartner können Abgeordnete schneller ihre Immunität kosten als Korruption. Ein Gespräch mit Nursel Aydogan *




Gegen zehn Abgeordnete Ihrer Partei läuft in der Türkei ein Verfahren zur Aufhebung der Immunität. Wie kam es dazu?

Es gibt ungefähr 850 Fälle, in denen Abgeordneten der türkischen Nationalversammlung Vergehen vorgeworfen werden. Davon richten sich rund 600 gegen Abgeordnete der BDP, ausschließlich aus politischen Gründen. Die restlichen 250 betreffen Abgeordnete der anderen drei Parteien, und hier sind es Vorwürfe wie Korruption, Amtsmißbrauch sowie sexuelle Übergriffe. Von diesen 850 unbehandelten Fällen sind jetzt zehn aufgegriffen worden. Den BDP-Politikern wird vorgeworfen, bei einer Rundreise durch die Provinz Hakkari in eine Straßensperre der kurdischen Guerilla geraten zu sein und mit den Guerillakämpfern gesprochen zu haben.

Was denken Sie darüber?

Die Aufhebung der Immunität wird von der Regierungspartei AKP wie ein Damoklesschwert benutzt, als ständiges Mittel der Erpressung und Bedrohung. Aber niemand von uns hat sich ins Parlament wählen lassen, um Immunität zu genießen. Wir alle waren auch vor unserer Abgeordnetentätigkeit jahrelang politisch aktiv, im Kampf für Demokratie in der Türkei und die Freiheit der kurdischen Bevölkerung. Wir lassen uns dadurch nicht einschüchtern. Aber wir sind der Meinung, daß es weder ethisch noch juristisch richtig ist, von 850 Fällen lediglich zehn aufzugreifen. Wenn sich auch die anderen Abgeordneten aufgrund der Vorwürfe bezüglich Korruption und sexueller Übergriffe vor Gericht verantworten müssen, sind wir ebenfalls bereit dazu. Ansonsten kann uns nichts dazu bringen, uns vor Gericht zu verantworten. Außerdem sind wir von der Bevölkerung in dieses Amt gewählt worden, und wir sind der Überzeugung, daß nur die uns wieder abwählen kann.

Sie selbst sind Türkin. Wie sind Sie Abgeordnete der prokurdischen BDP geworden?

Das hat nichts mit meiner Herkunft zu tun, sondern mit meiner Weltanschauung. Ich bin Internationalistin. In den siebziger Jahren habe ich die revolutionäre sozialistische Bewegung in der Türkei kennengelernt. Nach dem faschistischen Militärputsch 1980 mußten wir unseren Traum von einem sozialistischen Staat begraben, weil die revolutionäre Bewegung weitgehend vernichtet wurde. Mit der Zeit habe ich begriffen, daß ein freies Leben der Menschen in der Türkei ohne die Befreiung der kurdischen Bevölkerung nicht möglich ist, und mich der kurdischen Befreiungsbewegung angeschlossen. Ich war bis zu meiner Berentung 1999 im Gesundheitsministerium angestellt und habe damals Gewerkschaftsarbeit gemacht. Danach jahrelang Solidaritätsarbeit für politische Gefangene. Seit 1999 widme ich meine gesamte Zeit dem kurdischen Befreiungskampf. Daran änderte sich auch nichts, als ich im Juni 2011 als Abgeordneter gewählt wurde.

Was haben Sie als Frau gemeinsam mit Ihren Genossinnen von der BDP im Parlament erreicht?

Bei diesem Thema ist Bescheidenheit fehl am Platz. Als 2007 die ersten Genossinnen ins Parlament gewählt wurden, herrschten in der Öffentlichkeit in der Türkei große Vorurteile. Es wurde von ihnen erwartet, daß sie die gleiche unscheinbare Haltung einnehmen wie die wenigen weiblichen Abgeordneten der anderen Parteien. Bis zu jener Zeit stammten die Abgeordneten – ob weiblich oder männlich – alle aus einer elitären Schicht. Für Menschen von der Basis, und insbesondere für Frauen von der Basis, war es nicht möglich, Abgeordnete zu werden. Dieses ungeschriebene Gesetz wurde durch unsere Bewegung, durch unseren Kampf gebrochen. Dazu kam die Erwartung, daß die weiblichen Abgeordneten im Schatten ihrer männlichen Kollegen verharren und außerhalb der parlamentarischen Arbeit passiv bleiben. Aber bei uns ist das anders. Wir haben in allen Strukturen unserer Partei die Geschlechterquote von 40 Prozent durchgesetzt. Die Abgeordneten sind schließlich Delegierte der Bevölkerung und müssen den Kampf gemeinsam mit ihr führen. Als wir 1999 in den Wahlkampf gezogen sind, herrschte allgemein die Auffassung, daß die Aufstellung von Kandidatinnen zum Stimmenverlust führen würde. In diesem Punkt hat sich die öffentliche Meinung grundlegend geändert. Jetzt haben alle Parteien erkannt, daß Frauen in der Politik einen Gewinn darstellen. Sogar die CHP hat eine Frauenquote von 33 Prozent festgelegt.

Interview: Agnes Alvensleben

* Nursel Aydogan, geboren 1958 in Bursa, ist Abgeordnete der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) im Parlament der Türkei.

Aus: junge Welt, Mittwoch, 12. Dezember 2012


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