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Erdogans "Marodeure" und "Pestkranke"

Der türkische Regierungschef wird zum Opfer seiner eigenen Polarisierungsstrategie

Von Jan Keetman *

Bevor er am Montag zu einer Nordafrika-Reise aufbrach, hatte der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan den Demonstranten in seinem Lande gedroht: Der Geheimdienst sei in- und ausländischen Gruppen auf der Spur, mit denen noch abgerechnet werde. Und in Marokko erklärte Erdogan, wenn er zurückkehre, seien »die Probleme erledigt«.

Von der umstrittenen Überbauung eines Parks in Istanbul, an der sich ein landesweiter Aufruhr entzündet hat, will Recep Tayyip Erdogan nicht abrücken. Trotzig fragte er in einer Rede: »Soll ich Marodeure um Erlaubnis bitten?« Sind es also Marodeure, die sich ihm widersetzen?

Für Erdogan ist das ganz einfach: Er wurde von nahezu 50 Prozent der Türken demokratisch gewählt, folglich unterdrücken diejenigen, die sich ihm entgegenstellen, die (relative) Mehrheit. Nie und nimmer können sie also recht haben. Außerdem gehören sie einer Minderheit an, die schon immer die Mehrheit in der Türkei unterdrückt habe.

Mit solchen Reden wendet sich der Regierungschef an die religiös-konservativen Massen, die sich von den laizistischen Türken unterdrückt fühlen. Die Demonstrationen sind in Erdogans Augen ein neuerlicher Versuch der Laizisten, ihren Willen mit undemokratischen Mitteln durchzusetzen. Der Premier polarisiert die türkische Bevölkerung entlang einer möglichen ihrer Bruchlinien, nämlich der zwischen der laizistischen und der religiös-konservativen Türkei. In seinen Wahlkämpfen praktiziert er das seit Jahren, und seine Wahlerfolge verdankt er unter anderem dieser Polarisierung.

Doch bisher war Erdogan bemüht, den Bogen nicht zu überspannen. Zum Beispiel griff er Atatürk, den Gründer der türkischen Republik, nie persönlich an. Atatürks Nachfolger Ismet Inönü wurde dafür umso heftiger gescholten. Erst vor Kurzem wich Erdogan von dieser Regel ab und sagte anlässlich der Einführung neuer Einschränkungen für den Alkoholkonsum, Atatürk und Inönü seien »zwei Säufer« gewesen. Darin steckte eine Anspielung darauf, dass Atatürk an Leberzirrhose starb. Aber bekanntlich trank auch Winston Churchill gerne seinen Whisky, sollte er deshalb als »der Säufer« in die britische Geschichte eingehen?

Viele Türken, die mit dem Kult um den Republikgründer Atatürk groß geworden sind, musste das empören. Und nicht nur das: Es musste Ängste hervorrufen. Denn wenn es jemand in der Türkei wagt, Atatürk herabzusetzen, fragen sich viele, wovor er überhaupt noch haltmacht.

Die »andere« Hälfte der Türkei – und vielleicht nicht nur sie – verlangte nach einem Signal, dass Erdogan sie und ihren Lebensstil nicht antasten würde. Aber der »Sultan« sah nur seine Wähler und nutzte den Widerstand gegen sein Bauprojekt am Gezi-Park zur weiteren Polarisierung. Selbst im staatlichen Fernsehen TRT spürte man, dass da etwas schief läuft. Erdogan hatte beim Davoser Weltwirtschaftsforum 2009 verärgert das Podium verlassen, nachdem er mehrfach um »one minute« zusätzlicher Redezeit verlangt hatte. Auf diese Episode anspielend, kommentierte Yavuz Baydar bei TRT jetzt: »Die Jugend der Städte aller Schichten, die es satthat, dass man sie erniedrigt, schilt und auf ihrem Lebensstil herumreitet, hat sich versammelt und dem Ministerpräsidenten gesagt: ›one minute!‹« Aber Erdogan antwortete nur: »Marodeure.«

Hinter dem Aufruhr steht nicht etwa, wie Erdogan jetzt behauptet, die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP). Die chronisch schlecht organisierte CHP ist dem Aufruhr vielmehr hinterhergerannt. Auch das Militär mischt sich nicht ein. Zwar ist verbürgt, dass einzelne Soldaten Gasmasken an Demonstranten verteilt haben, aber das war ebenso eine Einzelaktion, wie sie der Imam unternahm, der seine Moschee in eine Krankenstation für verletzte Demonstranten verwandelte. Die Armee insgesamt rührt sich nicht. Vor ein paar Jahren hätten die Militärs eine solche Revolte vielleicht zum Anlass genommen, ihre Panzer vor dem Parlament auffahren zu lassen. Doch heute sitzen so viele Offiziere hinter Gittern, dass es eines eigenen Gefängnisses nur für Häftlinge im Generalsrang bedarf. Unwahrscheinlich, dass diese Armee in absehbarer Zeit noch einmal einen Putsch anzettelt.

Die Bändigung der Armee gehört zu den Verdiensten Erdogans. Doch wie Atatürk, der auch große Verdienste hatte, ist er nun schon seit Jahren dabei, der Türkei sein autoritäres Regime aufzudrücken. Spürbar ist das seit Langem, etwa in der Knebelung der Presse. Im gigantischen neuen Justizpalast von Istanbul, auf den Erdogan stolz ist, gehört das siebte und oberste Stockwerk allein der Abteilung der Staatsanwaltschaft, die sich mit »Pressevergehen« beschäftigt. Noch wirkungsvoller als das Strafrecht war ökonomischer Druck auf die Medien.

Doch die so geebnete Medienlandschaft ist plötzlich ein Problem geworden, weil die Menschen nun selbst oder via Internet erfahren, was auf den Straßen geschieht und dass die Fernsehkanäle das nicht annähernd wiedergeben. 50 Prozent mögen bei passendem Wahlgesetz zu einer satten Parlamentsmehrheit reichen. Sie genügen aber nicht, ein Land dauerhaft zu beherrschen, wenn diese Mehrheit durch Angriffe auf die Werte und den Lebensstil der anderen 50 Prozent gewonnen wurde. Es ist eine groteske Situation: Erdogan ist demokratisch gewählt und würde wahrscheinlich morgen wieder gewählt werden, und doch hat er an Legitimität verloren, denn eine Hälfte des Landes kann nicht einfach beschließen, dass die andere aus »Marodeuren« besteht. Am Montag fügte Erdogan sogar noch eine Bezeichnung für die Demonstranten hinzu: »Pestkranke.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 5. Juni 2013


Risse im Regierungslager

Zweites Todesopfer bei Protesten in der Türkei. Richtungsstreit zwischen Ministerpräsident Erdogan und Vize Arinc. Streik im öffentlichen Dienst

Von Nick Brauns **


Der Tod eines 22jährigen hat die Lage in der Türkei weiter verschärft. Abdullah Cömert war in der Nacht zum Dienstag während Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei in der Provinz Hatay von Unbekannten erschossen worden, meldete der Fernsehsender NTV. Die kurdische Agentur Firat berichtete dagegen, der Aktivist der Jugendorganisation der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) sei von einer Gasgranate der Polizei tödlich am Kopf getroffen worden. Mehr als 50000 Menschen gingen daraufhin in der Provinzhauptstadt Antakya auf die Straße und forderten den Rücktritt der Regierung. Bereits am Sonntag war in Istanbul ein Demonstrant getötet worden, als mutmaßliche Zivilpolizisten mit ihrem Auto in die Menge rasten. Der Ärzteverband TTB sprach am Dienstag morgen von landesweit 2300 Verletzten, mehrere sollen noch in Lebensgefahr schweben.

Im Istanbuler Stadtteil Besiktas setzte die Polizei erneut Reizgas ein, in Ankara wurden zudem Geschosse auf Demonstranten abgefeuert. In Antalya verweigerte die von der oppositionellen CHP gestellte Stadtverwaltung der Polizei die Auffüllung der Wasserwerfer, während aus Istanbul berichtet wird, daß Soldaten Gasmasken an Demonstranten verteilt haben. Am Dienstag begann zudem im öffentlichen Dienst ein zweitägiger Streik »gegen den AKP-Faschismus und für eine demokratische Türkei«. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der sich am Montag zu einem Staatsbesuch nach Marokko aufgemacht hat, beschuldigte unterdessen neben »Extremisten« auch nicht näher benannte »ausländische Kräfte«, hinter den Protesten zu stecken. Sein Vize Bülent Arinc bezeichnete hingegen am Dienstag die ursprünglichen Proteste gegen die Zerstörung des Gezi-Parks am Taksim-Platz als »legitim und patriotisch«, warnte jedoch vor »marginalen und illegalen Gruppen«.

»Die Regierung ist angeschlagen, aber nicht am Ende«, dämpfte der Kolumnist der Tageszeitung Today’s ­Zaman, Abdullah Bozkurt, die Hoffnungen auf einen »türkischen Frühling«. So hätten die Proteste zwar Liberale, Kemalisten und Linksradikale sowie unzufriedene Jugendliche vereint. Die vor zwei Jahren mit fast 50 Prozent der Stimmen gewählte AKP wisse allerdings weiterhin die Masse der konservativen Muslime des Landes hinter sich. Innerhalb der Regierungspartei zeichnen sich jedoch Brüche ab. Erdogan habe sein Image der »Allmacht« eingebüßt, schrieb der bekannte liberale Kolumnist Murat Yetkin in Hürriyet Daily News. Der parteiinterne Gewinner in dieser Situation ist der zu Besonnenheit mahnende Staatspräsident Abdullah Gül, auf dessen Intervention hin sich bereits am Samstag die Polizei vom Taksim-Platz zurückgezogen hatte. Demokratie beschränke sich nicht auf die Stimmabgabe alle vier Jahre, widersprach Gül dem Ministerpräsidenten, der sich seines Wählerauftrages rühmte. Da der seit rund zehn Jahren regierende Erdogan nicht noch einmal für das Amt kandidieren darf, will er sich im kommenden Jahr zum Staatspräsidenten küren lassen. Doch Erdogans Ambitionen stoßen auf den Widerstand der im Staatsapparat einflußreichen islamisch-nationalistischen Fethullah-Gülen-Gemeinde. Erdogans Anhänger in der AKP und die unter Polizei und Justiz stark vertretenen Gülen-Anhänger hatten zunächst gemeinsam ihre laizistischen Gegner verdrängt. Seit anderthalb Jahren findet nun jedoch im Lager des politischen Islams ein Machtkampf statt.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 5. Juni 2013

UN rights office calls on Turkish government to ensure freedom of assembly

4 June 2013 – The United Nations human rights office urged the Government of Turkey to guarantee that its citizens have the right to assemble freely and in a peaceful manner, following days of violent clashes between protestors and police.

“We are concerned about reports of excessive use of force by law enforcement officers against protestors who initially gathered to express their dissatisfaction with the redevelopment of the historic Taksim square – an important venue for political protests – and Gezi Park, and against others who joined demonstrations to support them throughout Turkey,” the spokesperson for the Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR), Cécile Pouilly, told reporters in Geneva.

Since the protests began on Friday in Istanbul before spreading to Ankara, the capital, a high number of people have reportedly been arrested and hundreds have been injured throughout Turkey.

Riot police also used tear gas, pepper spray and water cannons against peaceful protesters, which prompted attacks on authorities. Government officials later conceded that a disproportionate amount of force was used during the demonstrations.

“We welcome the acknowledgment on the part of authorities that disproportionate force may have been used and their call for an investigation of law enforcement officers who are alleged to have broken the law and violated international human rights standards,” Ms. Pouilly said. “Such investigations should be prompt, thorough, independent and impartial, and perpetrators should be brought to justice.”

Ms. Pouilly stressed that all those injured must have prompt access to medical care, and human rights safeguards must be upheld to avoid unlawful or arbitrary detentions.

“We call on the Government of Turkey to ensure that the right to freedom of peaceful assembly is fully respected and urge protestors to ensure that demonstrations remain peaceful,” she said. “We encourage the authorities to enter into a genuine dialogue with the civil society, including neighbourhood associations, on the urban projects in the Taksim square and Gezi Park.”

* Source: UN News Centre, 4 June 2013; http://www.un.org




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