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Tränengas gegen Schulkinder

Schwerpunkt der Unruhen in der Türkei verlagert sich nach Ankara / Hunderte Verletzte und 1700 Festnahmen

Von Jürgen Gottschlich, Istanbul *

Der Aufruhr gegen die türkische Regierung hält auch nach einer Woche unvermindert an. Der Schwerpunkt verlagert sich von Istanbul in die Hauptstadt Ankara. Aber noch immer ist keine steuernde Hand erkennbar.

Das Zentrum des Aufruhrs in der Türkei lag gestern in Ankara. Während es in Istanbul tagsüber zunächst relativ ruhig blieb, herrschte in der Hauptstadt auf dem zentralen Kizelay Platz Aufruhr seit dem frühen Morgen. Vor allem Schüler und Studenten versammelten sich hier. Sie lieferten sich heftige Straßenschlachten mit der Polizei. Entsetzte Anwohner berichteten im türkischen Fernsehen, wie die Polizei Schulkinder mit Tränengas angriff und brutaler Härte verfolgte.

Allein in Ankara gab es bis Montagnachmittag 1700 Festnahmen. Zudem berichteten die Medien von 700 teilweise schwer verletzten Demonstranten in Ankara. Einer von ihnen ist laut einem Reporter von Al Dschasira lebensgefährlich verletzt. Die Menschenrechtsorganisation IHD in Ankara berichtete über Twitter, es handele sich um eines ihrer Mitglieder. Der Verletzte werde nur noch künstlich am Leben gehalten. Nach Angaben der Vereinigung der türkischen Ärzte starb ein weiterer Demonstrant in einem Istanbuler Krankenhaus, nachdem er am Sonntagabend von einem Auto angefahren und schwer verletzt worden war.

In der Nacht von Sonntag auf Montag fanden die härtesten Auseinandersetzungen dagegen im Istanbuler Stadtteil Besiktas statt. Der überwiegend säkular bewohnte Stadtteil am Bosporus grenzt an den alten Sultanspalast Dolmabahce, in dem sich Ministerpräsident Erdogan vor einigen Jahren ein Büro hat einrichten lassen. Demonstranten marschierten deshalb zum Dolmabahce Palast, wo sie von der Polizei mit einem Hagel von Gasgranaten empfangen wurden. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei erreichten einen Höhepunkt, als Demonstranten einen Bulldozer und einen abgestellten Baulastwagen kaperten, damit die Linien der Polizei durchbrachen und den Dolmabahce Palast ansteuerten. Nur mit Gewalt konnte die Polizei die Demonstranten stoppen.

Es gab so viele Verletzte, dass eine angrenzende Moschee ihre Pforten öffnete und Ärzte eines nahe gelegenen Krankenhauses dort eine Erste Hilfe Station einrichten ließen. Nach wenigen Stunden war der gesamte Boden der Moschee mit Tränengasopfern belegt. Ganz entgegen den Behauptungen von Ministerpräsident Tayyip Erdogan ist auch nach sieben Tagen anhaltender Proteste keine zentrale Steuerung der Revolte erkennbar. Die Menschen demonstrieren in ihren Vierteln, Studenten, Fan-Clubs von Fußballvereinen, Schüler einer Schule verabreden sich zur Demo auf den zentralen Plätzen. Aber nirgendwo gibt es Anführer, die den Takt vorgeben. In insgesamt 67 türkischen Städten war am Wochenende gegen Erdogan demonstriert worden.

Die Oppositionspartei CHP unterstützt zwar die Demonstrationen, läuft aber wie die Regierung auch den Ereignissen nur hinterher. Kleine linke Gruppen hängen sich fahnenschwingend an die Demos an, aber sie haben keinerlei prägenden Einfluss auf die Geschehnisse.

Für heute Mittag hat allerdings die Gewerkschaftskonföderation des öffentliches Dienstes KESK zu einem Streik zur Unterstützung der Demonstranten aufgerufen und auch der Dachverband der linken Gewerkschaften DISK diskutiert über einen Generalstreik. Das würde der Revolte ein zusätzliches Gewicht verleihen und den bereits über sieben Prozent abgestürzten Börsenkurs wohl weiter in die Tiefe stürzen.

Derweil hat Erdogan noch einmal weiteren Unmut geschürt, indem er am Sonntagabend plötzlich verkündete, man könne anstelle des Einkaufszentrums, das eigentlich in den Gezi Park gebaut werden sollte, auch eine Moschee stellen. Kommentatoren deuteten das als Versuch zur Mobilisierung seiner eigenen Basis, die sich für eine Moschee eher engagieren würde als für ein Einkaufszentrum.

Den bemerkenswertesten Protest gab es am Montagmittag im Istanbuler Bankenviertel Maslak. In ihrer Mittagspause demonstrierten hunderte Banker vor dem Gebäude des dort ebenfalls ansässigen Nachrichtensenders NTV, um gegen die schlechte Berichterstattung zu protestieren. Sowohl NTV als auch CNN-Türk sind seitdem besser am Ball.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 4. Juni 2013


Erdogan stellt sich taub

Protestwelle in der Türkei reißt nicht ab. Erstes Todesopfer offiziell bestätigt. Polizei stürmt Kulturzentrum in Ankara. Gewerkschaften rufen zum Streik auf

Von André Scheer **


In der Türkei reißen die Proteste gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nicht ab. In Ankara kam es einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters zufolge am Montag erneut zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und rund 1000 Demonstranten, die zum zentralen Kizilay-Platz marschierten. In der Hauptstadt wurden die Zufahrtswege zum Amtssitz des Regierungschefs abgeriegelt, nachdem es bis in die Nacht zum Montag hinein in mehreren Städten der Türkei zu Straßenschlachten gekommen war. In Izmir gingen Büros der regierenden islamisch-konservativen AKP in Flammen auf, in Istanbul errichteten Demonstranten Barrikaden. Für Montag abend waren in mehreren Städten erneut Kundgebungen angekündigt worden.

Die Zahl der Verhafteten ist Angaben der Oppositionspolitikerin Aylin Nazliaka zufolge auf mehr als 1500 gestiegen. Inzwischen wurde auch das erste Todesopfer offiziell bestätigt. Die türkische Ärztevereinigung TTB teilte mit, daß Mehmet Ayvaltas seinen schweren Verletzungen erlegen sei. Der Aktivist der sozialistischen Organisa­tion ­SODAP war am Sonntag in Istanbul von einem Fahrzeug überrollt worden, das ohne ersichtlichen Grund in die Menge der Demonstrierenden gerast war. Bei den Insassen soll es sich der kurdischen Nachrichtenagentur Firat zufolge um Zivilpolizisten gehandelt haben. Die TTB machte die Regierung für den Tod des 20jährigen verantwortlich. Die provokative Haltung Erdogans habe die Lage zusätzlich verschärft.

Der Regierungschef setzt unterdessen weiter auf Härte. Am Montag wies er Journalisten zurecht, die ihn gefragt hatten, ob die Regierung die »Botschaft der Demonstranten« verstanden« habe. »Wie lautet die Botschaft?« stellte er sich taub und wetterte weiter, wieso er denn seinen Ton mäßigen solle: »Dieser Protest ist von extremistischen Elementen organisiert worden«, die »Arm in Arm mit Terroristen« marschieren würden.

Am Montag jährte sich der Tod des Dichters Nazim Hikmet, der 15 Jahre im Gefängnis saß und 20 Jahre im Exil leben mußte, zum 50. Mal. Am Vorabend stürmte die Polizei in Ankara ein Kulturzentrum, das dessen Namen trägt. Sprecher der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP), deren Zentrale im selben Gebäude untergebracht ist, informierten, daß die Polizei Tränengasgranaten in das Café des Kulturzentrums geschossen habe. Mehrere Besucher seien verletzt worden. In Iskenderun habe die Polizei zudem das Feuer auf mehrere Mitglieder der Partei eröffnet. Bei deren Flucht sei einer von ihnen schwer verletzt worden und schwebe in Lebensgefahr. Das Volk werde der Gewalt jedoch nicht weichen, zeigte sich die Partei überzeugt und forderte erneut den Rücktritt Erdogans.

Für den heutigen Dienstag haben die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes in der Türkei zum Streik gegen die gewaltsame Unterdrückung der Proteste aufgerufen. Der Dachverband KESK verurteilte den »AKP-Faschismus«, der das gesamte Land mit Staatsterror überzogen und die Städte einer Belagerung unterworfen habe. Auch in mehreren deutschen Städten demonstrierten am Wochenende Tausende gegen die Unterdrückung in der Türkei. So beteiligten sich am Sonnabend in Mannheim rund 2500 Menschen an einer spontanen Kundgebung, zu der türkische Verbände aufgerufen hatten. Das deutsche Generalkonsulat in Istanbul rief Touristen auf, Menschenansammlungen zu meiden, während die syrische Regierung ihren Bürgern wegen der verschlechterten Sicherheitslage ganz von Reisen in die Türkei abrät.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 4. Juni 2013


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