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Erdogans "Ende der Toleranz"

Türkischer Premier lässt Taksim-Platz räumen / Für heute Dialog angekündigt

Von Fabian Köhler, Istanbul *

Am zwölften Tag der Massenproteste in der Türkei haben die Sicherheitskräfte gewaltsam den Taksim-Platz in Istanbul gestürmt. Von Regierungsseite gibt es sowohl eine Dialogankündigung als auch neue Drohungen.

Unterstützt von Wasserwerfern und schwerem Räumgerät, sind am Freitag mehrere Hundertschaften der Istanbuler Polizei gegen die Demonstranten im Gezi-Park vorgegangen. Den ganzen Tag über lieferten sich Tausende Demonstranten heftige Straßenschlachten mit der Polizei. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sprach vom »Ende der Toleranz«.

Seit knapp zwei Wochen halten Hunderte Demonstranten den Gezi-Park nahe des zentralen Taksim-Platzes besetzt. Der Protest, der als Widerstand gegen geplante Baumfällungen begonnen hatte, weitete sich mittlerweile zum landesweiten Aufstand gegen Polizeigewalt und die Einschränkung von Bürgerrechten aus.

»Ihr Anblick verärgert die Bevölkerung (...) und besudelt den Ruf des Landes in der Welt«, sagte Istanbuls Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu am Dienstag laut AFP mit Blick auf die seit Tagen im Stadtzentrum ausharrenden Demonstranten. Die Verantwortung für die Zusammenstöße beim Polizeieinsatz hätten allein »gesellschaftliche Außenseiter« zu tragen.

Erdogan erklärte, das Ende der »Toleranz« sei erreicht. »Diese Episode ist nun vorbei«, sagte er vor Abgeordneten der Regierungspartei AKP in Ankara. Die Demonstranten im Gezi-Park forderte er zum Abzug auf. Der Park sei »keine Besatzungszone«. Den Sicherheitskräften dankte der Regierungschef für ihren Einsatz. Zugleich sprach er von einer »illegalen Revolte gegen die Demokratie« mit dem Ziel, der türkischen Wirtschaft zu schaden.

Noch am Montag hatte Erdogan in einer ersten Geste der Beschwichtigung Gesprächsbereitschaft angedeutet. Über seinen Stellvertreter Bülent Arinc ließ er erklären, dass er sich am heutigen Mittwoch mit Vertretern der Demonstranten treffen wolle. Arinc warnte zugleich jedoch, dass »illegale Demonstrationen in der Türkei nicht mehr toleriert werden«.

Die EU will »neuen Schwung« in die stockenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei bringen. »Wir arbeiten darauf hin, noch in diesem Monat ein neues Verhandlungskapitel zu eröffnen«, sagte eine Sprecherin der irischen Ratspräsidentschaft am Dienstag gegenüber AFP in Brüssel. Die Auseinandersetzungen in der Türkei und das massive Vorgehen der Polizei gegen Regierungsgegner könnten in der EU aber den Widerstand gegen eine Annäherung wachsen lassen. Manche Staaten seien möglicherweise derzeit »nicht besonders enthusiastisch«, was die Eröffnung eines weiteren Verhandlungskapitels angehe, sagte ein EU-Diplomat.

Die Bundestagsabgeordnete der LINKEN Sevim Dagdelen forderte im RBB-Inforadio einen Stopp der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei. Voraussetzung dafür müssten Fortschritte im Bereich Menschenrechte sein.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 12. Juni 2013


Erdogan im Dialog

Polizei stürmt Taksim-Platz in Istanbul. Widerstand gegen Tränengas und Wasserwerfer. Massenverhaftungen von Anwälten und Linken

Von Nick Brauns und Thomas Eipeldauer, Istanbul **


Spezialeinheiten der türkischen Polizei haben ab dem frühen Dienstag morgen den von Demonstranten besetzten Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls gestürmt. Die Aktivisten, die in einem nahegelegenen Kulturzentrum oder in dem am Platz gelegenen Gezi-Park übernachtet hatten, wurden von der Attacke überrascht. Für den heutigen Mittwoch waren eigentlich Gespräche zwischen der Regierung und der Taksim-Solidaritätsplattform vereinbart worden, so daß kaum noch jemand mit einem solchen Vorgehen der Polizei gerechnet hatte. Trotzdem stellten sich Tausende an den Barrikaden der Übermacht gut ausgerüsteter Polizei entgegen. Diese trieb die Demonstranten auch mit Geschossen zurück, die schwere Verbrennungen auslösen. Tränengasschwaden hingen über dem Platz und den umliegenden Straßen. Die Beamten zielten mit den Gasgranaten teilweise auf die Köpfe derer, die den Taksim verteidigten. Dort war in den vergangenen Tagen nicht nur gegen die AKP-Regierung protestiert worden, die Menschen lebten auch solidarisch miteinander, diskutierten und feierten – Türken, Armenier, Kurden und Aleviten gemeinsam.

Der Widerstand auf dem Platz war nicht nur symbolisch. An einigen Orten gelang es zeitweilig, Blockaden zu stabilisieren und Angriffe zurückzuschlagen. Molotowcocktails und Steine flogen auf die Panzer der Polizei. Doch gegen 13 Uhr Ortszeit war nicht mehr viel von der »Taksim Komünü«, der Kommune, übrig. Viele Menschen mußten mit teilweise schweren Verletzungen behandelt werden. Aber die Aktivisten kämpften mutig mit viel Erfahrung und wichen der Übermacht nicht. Ein Angriff der Polizei auf den Gezi-Park konnten von Tausenden Demonstranten zurückgeschlagen werden, bei jW-Redaktionsschluß nahm die Zahl der Menschen, die gegen die Polizeigewalt protestierten, weiter zu. »Taksim wird das Grab des Faschismus werden«, riefen viele.

Für den Abend wurde erwartet, daß Tausende auf den Platz zurückkehren werden, um den Widerstand gegen die Regierung fortzusetzen. Auch 20 Parlamentsabgeordnete kündigten an, die Nacht zum Mittwoch im Park zu verbringen. Am Wochenende hatte rund eine Million Menschen im Zentrum Istanbuls demonstriert. »Nicht eine ›Handvoll Terroristen‹, wie Erdogan meint, werden diesen Platz verteidigen, sondern Millionen«, hatte dort Figen Yüksedag, die Vorsitzende der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP), gewarnt.

Die Auseinandersetzungen hatten sich bereits zuvor nicht auf das Stadtzentrum beschränkt. Sondereinsatzkräfte der Polizei nahmen im Caglayan-Gerichtsgebäude von Istanbul nach Angaben der »Progressiven Anwaltsvereinigung« (CHD) mehr als 70 Rechtsanwälte fest. Diese hatten mit einer Sitzblockade gegen die Verhaftung von zwei Kollegen protestiert. Bei einer Razzia in der Zentrale der Partei der Sozialistischen Demokratie (SDP) wurden 70 Mitglieder dieser legalen marxistischen Organisation festgenommen. Zuvor waren im Fernsehen Aufnahmen von Vermummten zu sehen gewesen, die eine Fahne der Partei trugen und Molotowcocktails auf einen Polizeipanzer warfen. SDP-Vorstandsmitglied Aziz Kücük bestritt, daß es sich dabei um Parteimitglieder gehandelt habe. Auch Gezi-Park-Besetzer vermuteten, daß es sich um Provokateure gehandelt habe.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 12. Juni 2013


Utopie erstickt im Tränengas

Istanbuler Polizei ging massiv gegen Demonstranten im Gezi-Park vor

Von Fabian Köhler, Istanbul ***


Im Istanbuler Gezi-Park leben seit zwei Wochen Hunderte Menschen ihre Utopie einer lebenswerten Türkei. Am Dienstag wurden sie in die Realität zurückgeholt: durch Tränengasgranaten der Istanbuler Polizei.

Eifrig hatten die Bewohner des Istanbuler Gezi-Parks an einem Frühwarnsystem gegen Polizeieinsätze gearbeitet. Doch das braucht es am Dienstagmorgen um 8.00 Uhr nicht: Der Geruch von Tränengas kündet vom Anmarsch der türkischen Polizei. Zwanzig Mannschaftsbusse drängen sich durch die Gassen der Millionenstadt. Fünf Wasserwerfer folgen ihnen. Ein Hubschrauber kreist am Himmel. Von allen Seiten riegeln Polizeihundertschaften den Istanbuler Taksim-Platz ab. Deren Auftreten kann martialischer nicht sein: Gasmasken auf den Köpfen, Schilde vor und über den Körpern, gepanzerte Wasserwerfer im Rücken.

Seit Tagen haben die Besetzer Barrikaden vorbereitet. Die ersten zwei Demonstranten stoßen mit Wellblechschutzschilden bis auf wenige Meter auf die Polizisten vor. Molotowcocktails fliegen gegen die gepanzerten Uniformen.

Die Straße westlich des Gezi-Parks wird für die nächsten Stunden zum Hauptschlachtfeld. Hunderte Tränengasgranaten schießen durch die Luft. Von der anderen Seite folgen Flaschen und Steine. Ein vielleicht 15-jähriger Junge stellt sich todesmutig mit ausgebreiteten Armen vor die Polizei. Gummigeschosse strecken ihn nieder. Ein Mann fängt knapp daneben Feuer, nachdem ein Molotowcocktail sein Ziel verfehlt hat.

Der Anarchist Kamil ist einer der Demonstranten, die sich der Räumung des Taksim-Platzes widersetzen: »Wenn sie es schaffen, die Barrikaden zu räumen, hält sie nichts mehr davon ab, den Park zu stürmen«, schreit er.

Hunderte andere rufen zurück. Unter ihnen türkische Nationalisten, kurdische Separatisten und ein älteres Ehepaar, das gerade noch schockiert am U-Bahn-Ausgang von Demonstranten aus der Tränengaswolke gerissen werden muss. Nur das Sirenengeheul der Krankenwagen. übertönt sie.

Im Park werden unterdessen eilig Gasmasken und Schwimmbrillen verteilt. Andere sprühen sich Milch in die geröteten Augen. Manche kauern am Boden und schluchzen nicht nur wegen des Tränengases: »Nicht einmal in diesem Park lässt uns Tayyip unseren Traum leben.« Tayyip das ist Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.

»Lasst ihnen doch die Barrikaden, wir haben den Park«, ruft einer. Viele sind schockiert von der Gewaltanwendung ihrer Mitdemonstranten. »Freunde, wir wollen nur den Platz sauber machen, ihr könnt in eurem Park bleiben«, dröhnt es im Minutentakt aus dem Lautsprecherwagen der Polizei. Dennoch schießt sie später mit Wasserwerfern und Tränengasgranaten den Zugang zum Park sturmreif. Hunderte Uniformierte reißen die Zelte und Stände ab.

Doch zumindest in einigen Fällen hat der Widerstand Erfolg: Mal sind es einige Dutzend, mal Hunderte Demonstranten, die sich vor die Mündungen der Polizeigranatwerfer oder in die Schussbahn der Wasserwerfer stellen. Von den Hängen der verwüsteten Baustelle am Gezi-Park beklatschen Zuschauer jeden Meter, den die Polizei zurückweicht. Bis erneut ein übermutiger Junge mit Guy-Fawkes-(Occupy)-Maske einen Stein wirft und der gesamte Platz in Tränengasschwaden versinkt. Auch am Abend brennen noch Barikaden, sticht im ganzen Stadtteil das Tränengas in die Nase. Es scheint, als ob die Demonstranten im GeziPark mit demselben Geruch einschlafen müssen, mit dem sie aufgewacht sind.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 12. Juni 2013


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