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Armenisch-türkische Versöhnung eingefroren

Jerewan stoppt Ratifizierung der "Zürcher Protokolle"

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Als Armenien und die Türkei am 10. Oktober vergangenen Jahres unter Schweizer Vermittlung die »Zürcher Protokolle« über die Normalisierung ihrer Beziehungen unterzeichneten, warnten Beobachter vor überzogenen Hoffnungen: Die Kuh sei erst vom Eis, wenn beide Parlamente die Abmachungen ratifizieren.

Am Donnerstagabend (22. April) verkündete Armeniens Präsident Sersch Sargsjan (im Russischen: Sarkisjan) in einer Fernsehansprache, seine regierende Republikanische Partei habe das Ratifizierungsgesetz aus dem Parlament zurückgerufen. Da die Türkei ihrerseits Vorbedingungen für eine Ratifizierung der Abkommen stelle, habe es in »überschaubaren Zeiträumen« keinen Sinn, den Prozess im eigenen Parlament fortzuführen. Armenien lasse nicht »in der Sprache eines Ultimatums« mit sich verhandeln. Eben diesen Ton aber hatte seiner Meinung nach der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan bei einer Begegnung am Rande des Nukleargipfels letzte Woche in Washington angeschlagen.

Der Türke hatte zum einen die Kampagne kritisiert, mit der Jerewan sich international um die Anerkennung der Massaker an Armeniern im Jahre 1915 als Völkermord bemüht. Dem Morden, das am 24. April vor 95 Jahren begann, fielen seinerzeit bis zu zwei Millionen Menschen zum Opfer. Außerdem hatte Erdogan seinen armenischen Kollegen zu mehr Flexibilität bei den Verhandlungen zur Beilegung des Konflikts um Berg-Karabach gedrängt. Die von Armeniern bewohnte Region sagte sich 1988 von Aserbaidshan - einem der engsten Verbündeten der Türkei - los. Aus Solidarität mit den blutsverwandten Aseri schloss Ankara 1993 auch die türkisch-armenische Grenze. Damals hatte die Republik Armenien an Berg-Karabach angrenzende aserbai-dshanische Gebiete besetzt, um einen Korridor in die international nicht anerkannte »Republik Berg-Karabach« zu öffnen. Vor allem von der Rückgabe dieser Gebiete - 15 Prozent des aserbaidshanischen Territoriums - macht die Türkei die Normalisierung der Beziehungen zu Armenien einschließlich der Grenzöffnung abhängig.

Gewinner wäre vor allem Armenien selbst, das mangels anderer Wege derzeit nahezu seinen gesamten Außenhandel, einschließlich Energielieferungen, über Iran abwickeln muss. Das und der andauernde Konflikt um Berg-Karabach schrecken auch ausländisches Kapital ab, das die kleine, rohstoffarme Republik dringend braucht.

Schon gleich nach Unterzeichnung der Abkommen war Sargsjan jedoch im eigenen Land und mehr noch von der starken armenischen Diaspora in aller Welt heftig kritisiert worden. Er war nämlich auf den türkischen Vorschlag eingegangen, eine Historikerkommission mit der Untersuchung der Massaker im Endstadium des Osmanischen Reiches zu beauftragen. Damit wolle Ankara, so hieß es, lediglich die Anerkennung der türkischen Schuld hinauszögern. Das armenische Verfassungsgericht, das mit den »Zürcher Protokollen« befasst wurde, versah sie denn auch mit einer Präambel, in der die Forderung nach internationaler Anerkennung des Genozids von 1915 enthalten ist.

Von der Isolation Armeniens profitierte bisher neben Iran vor allem Moskau. Russische Unternehmen kontrollieren die armenische Wirtschaft, auf der Militärbasis in Gümry sind rund 5000 russische Soldaten stationiert. Ungeachtet dessen bemühte sich Russlands Präsident Dmitri Medwedjew um eine Lösung des armenisch-aserbaidshanischen Konflikts. Er bewegte Sargsjan und dessen aserbaidshanischen Kollegen Ilham Alijew im November 2008 zu einer Gewaltverzichtserklärung. Substanzielle Zugeständnisse einer der beiden Seiten erreichte er jedoch bisher nicht.

Sargsjan schwebte erst am Dienstag (20. April) wieder zu einem Arbeitsbesuch in Moskau ein. Erneut soll es dabei um Berg-Karabach gegangen sein. Eine friedliche Lösung ist durchaus im russischen Interesse, denn bei aller Sympathie für die Armenier ist auch für Russland das öl- und gasreiche Aserbaidshan langfristig der attraktivere Partner. Bei den Moskauer Bemühungen, im südlichen Kaukasus Einfluss zu bewahren, bringt Baku erheblich mehr auf die Waage als Jerewan.

In der Türkei wiederum scheint man Armeniens Rückzieher vorerst nicht besonders tragisch zu nehmen. Sargsjan habe ja lediglich die Ratifizierung der Protokolle gestoppt, nicht aber die armenische Unterschrift zurückgezogen, hieß es in Ankara.

* Aus: Neues Deutschland, 24. April 2010


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