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Türkei: Lange Haft für angebliche Verschwörer

Opposition sieht Missbrauch des Falls durch Regierung *

Wegen Vorbereitung eines Staatsstreichs in der Türkei sind der frühere Armeechef Ilker Basbug und mehrere andere Angeklagte zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Der »Ergenekon« genannte Geheimbund soll versucht haben, die islamisch-konservative Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zu stürzen. Viele der 275 Beschuldigten – darunter Militärs, Abgeordnete, Politiker, Journalisten und Akademiker – müssen für Jahrzehnte ins Gefängnis. 21 Angeklagte sprach das Gericht am Montag in Silivri westlich von Istanbul frei. Der Prozess dauerte insgesamt fünf Jahre.

Die Opposition warf der Regierung vor, den »Ergenekon«-Fall zur Abrechnung mit politischen Gegnern zu missbrauchen. Basbug war der ranghöchste Angeklagte aus den Reihen der Militärs. Er war 2010 in den Ruhestand gegangen und Anfang vergangenen Jahres festgenommen worden. Der ehemalige Generalstabschef wurde beschuldigt, als Anführer einer Terrororganisation einen Putsch geplant zu haben und für Propaganda gegen die Regierung im Internet verantwortlich zu sein. Er hatte die Vorwürfe als ehrenrührig zurückgewiesen. »Ergenekon« ist ein Ort aus der türkischen Mythologie.

Der »Ergenekon«-Prozess geht auf die Entdeckung eines Lagers von Handgranaten 2007 in Istanbul zurück. Aussagen der Hintermänner führten dazu, dass der Staatsanwalt Anklage gegen eine Gruppe erhob, die das Land in »Chaos, Dunkelheit und Unsicherheit« stürzen wolle, um ein Eingreifen des Militärs zu provozieren. Die Veröffentlichung von Tagebüchern eines pensionierten Admirals galt als weiterer Beweis für Putschumtriebe des Militärs. Konkrete Ausgangspunkte für die Beschuldigungen bildeten ein Anschlag auf die regierungskritische Zeitung »Cumhuriyet« und der Mord an einem hohen Richter in Ankara. Drahtzieher sollen auch hier ehemalige Militärs gewesen sein.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 6. August, 2013


Fragwürdiges Ende einer Verschwörung

Im türkischen Mammutprozess gegen 275 Angeklagte wirkten viele Beweise nicht überzeugend

Von Jan Keetman **


In einem hermetisch abgeriegelten Sicherheitsgefängnis in der Nähe von Istanbul hat ein Strafgericht die »Ergenekon«-Verschwörer abgeurteilt.

»Ergenekon« soll eine regierungsfeindliche Geheimorganisation gewesen sein, die durch Terrorakte die Atmosphäre für einen Putsch gegen die gemäßigt islamische Regierung Erdogan vorbereiten wollte. In dem Hauptprozess gegen 275 Angeklagte wurde die Mehrzahl zu hohen Freiheitsstrafen oder zu »erschwerter« lebenslanger Haft verurteilt. Dies bedeutet, dass sie unter keinen Umständen begnadigt werden können. Nur 21 Angeklagte wurden freigesprochen. Zu den »Lebenslänglichen« gehören der ehemalige Generalstabschef Ilker Basbug, der Journalist Tuncay Özkan und der Vorsitzende der maoistischen Arbeiterpartei, Dogu Perincek. Zu 34 Jahren und 8 Monaten wurde der Ankara-Korrespondent der regierungskritischen Zeitung »Cumhuriyet«, Mustafa Balbay, verurteilt. Balbay war während seiner Zeit als Untersuchungshäftling ins türkische Parlament gewählt worden, durfte aber keinen Eid als Abgeordneter leisten. Seine Verwicklung in die Putschpläne wurde mit Dateien auf seinem Computer begründet. Balbay behauptete, er kenne diese Dateien nicht, sie könnten durch einen Virus platziert worden sein.

Ebenfalls im Gefängnis zum Abgeordneten gewählt worden war der ehemalige Rektor der Universität Ankara, Mehmet Haberal. Der Mediziner erhielt zwölfeinhalb Jahre Gefängnis, wurde aber nun nach gut vier Jahren Untersuchungshaft freigelassen.

Etliche der Verurteilten sind im Rentenalter, darunter eine größere Zahl pensionierter Offiziere. Viele haben zudem einen Ruf als stramme Nationalisten. So leugnete der nun zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilte Vorsitzende der Arbeiterpartei, Dogu Perincek, in der Schweiz den Völkermord an den Armeniern und wurde dort deshalb zu einer Geld- und Bewährungsstrafe verurteilt. Allerdings wirkten viele Beweise in dem Verfahren nicht gerade überzeugend.

So erhielt der pensionierte General der Gendarmerie zweimal lebenslänglich plus 99 Jahre Haft. Veli Kücük hatte den später ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink bedroht. Der Mord an Dink wird als Tat von »Ergenekon« gewertet, obwohl der verurteilte jugendliche Mörder Dinks nicht wegen »Ergenekon« verurteilt wurde. Der ehemalige Gouverneur von Istanbul, Muammer Güler, in dessen Amtszimmer Hrant Dink ebenfalls bedroht wurde, ist heute Innenminister.

Der ehemalige Generalstabschef Basbug, der lange mit der Regierung gut zusammengearbeitet hatte, erklärte zu seiner Verteidigung, dass er als Chef von 700 000 Soldaten es doch nicht nötig gehabt habe, auch noch eine bewaffnete Bande zu bilden.

Anlässlich der Urteile hat sich die türkische Armee erstmals seit Langem wieder einmal politisch geäußert. Der Hohe Militärrat erklärte, dass die behauptete Verbindung einiger Ereignisse »in keiner Weise« die Wirklichkeit widerspiegele. Zugleich betonte der Rat, dass die Armee zu ihrer Pflicht stehe. Mit dieser Aussage wollte der Militärrat wohl der Erklärung das Rebellische nehmen.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 6. August, 2013


Erdogan rechnet ab

Teils drakonische Urteile im »Ergenekon«-Prozeß. Opposition spricht von Hexenjagd

Von Nick Brauns ***


In der Türkei sind die Urteile gegen 275 Angeklagte im »Ergenekon«-Prozeß ergangen. Damit sollte nach Meinung der islamisch-konservativen AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ein Schlußstrich unter die jahrzehntelange innenpolitische Einmischung des für drei Putsche und einen erzwungenen Regierungsrücktritt verantwortlichen Militärs gezogen werden. Doch das kafkaeske Schauspiel, das sich nach 600 Verhandlungstagen am Montag im Justizkomplex von Silivri bei Istanbul bot, stellte die Massenprozesse nach dem Militärputsch von 1980 glatt in den Schatten.

Wegen angeblicher Putschpläne eines nach der mythologischen Urheimat der Türkvölker »Ergenekon« benannten Geheimbundes gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung wurde der 2010 in den Ruhestand versetzte und 2012 verhaftete Generalstabschef Ilker Basbug als »Führer einer terroristischen Vereinigung« ebenso zu lebenslanger Haft verurteilt wie der Journalist Tuncay Özkan, der pensionierte General Veli Kücük und weitere Militärs. Der Vorsitzende der linksnationalistischen Arbeiterpartei (IP) Dogu Perincek soll für 117 Jahre und der verschwörungstheoretische Bestsellerautor Yalcin Kücük für 22,5 Jahre hinter Gitter. Der Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP), Mustafa Balbay, erhielt 34 Jahre Haft. 21 Angeklagte wurden freigesprochen. Einige der Beschuldigten saßen seit über fünf Jahren in Untersuchungshaft.

Ausgelöst wurden die Ermittlungen durch den Fund eines Handgranatenlagers im Haus eines pensionierten Offiziers im Jahr 2007. Seitdem waren rund 400 Militärs, Journalisten, Hochschuldozenten, Juristen, Geschäftsleute und Mafia-Angehörige festgenommen worden. Laut der 4000-seitigen Anklageschrift, die sich wie eine irre Verschwörungstheorie liest, soll »Ergenekon« zugleich hinter Anschlägen linker Stadtguerillaaktivisten, der kurdischen PKK, rechter Nationalisten und islamistischer Gruppen gesteckt oder solche geplant haben, um das Land zu destabilisieren. Teile der Anklage beruhen auf digitalen Dokumenten, deren Urheberschaft nicht zuzuordnen war. Die Beschuldigten bestreiten die Existenz von »Ergenekon« und werfen der AKP-Regierung vor, mit diesem Konstrukt das Ansehen der Armee im Volk zerstören zu wollen. Tatsächliche Kriegsverbrechen, derer sich einige der Militärs während der 90er Jahre in Kurdistan schuldig gemacht hatten, kamen nicht zur Anklage. Die CHP wirft der AKP-Regierung eine Hexenjagd auf ihre laizistischen Kritiker vor. Auch die Europäische Kommission hatte wegen der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens Bedenken geäußert.

Das US-Magazin Foreign Policy benannte bereits im Februar 2010 die pantürkisch-islamische Gemeinde des pensionierten Imam Fethullah Gülen, dessen Anhänger Schlüsselpositionen bei der Polizei und im Justizapparat besetzen, als treibende Kraft bei den Massenverhaftungen hochrangiger Militärs. Der alte laizistische »tiefe Staat«, mit dem das »Ergenekon«-Verfahren abrechnen sollte, sei durch einen neuen »tiefen Staat« der Gülen-Gemeinde abgelöst worden. Angeklagt wurden auch bekannte militärkritische Journalisten wie Ahmet Sik und Nedim Sener, die die Unterwanderung der Polizei durch die Gülen-Kader enthüllt hatten. Die Urteilsverkündigung fand unter scharfen Sicherheitsmaßnahmen statt. Alle Zufahrtsstraßen nach Silivri waren von Militär und Polizei abgeriegelt, auch der Luftraum über dem Justizkomplex wurde gesperrt. Im Zusammenhang mit den erwarteten Protesten hatte die Polizei bei Razzien am Wochenende zwei Dutzend Mitglieder der Arbeiterpartei und der Türkischen Jugendunion (TGB) sowie Mitarbeiter des Fernsehsenders Ulusal festgenommen. Mit Reizgas und Wasserwerfern ging die Polizei gegen rund 1000 Demonstranten vor, die es am Montag trotz Versammlungsverbots bis vor das Gerichtsgebäude geschafft hatten.

Im Vorfeld der Urteilsverkündung hatte der von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geleitete Oberste Militärrat am Freitag die Kommandanten der Teilstreitkräfte durch Vertraute des Regierungschefs ersetzen lassen. Offenbar wollte Erdogan so verhindern, daß es aus der Militärführung zu Protesten gegen das »Ergenekon«-Urteil kommt.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 6. August, 2013


Mystische Urteile

Von Katja Herzberg ****

Das Ende des Mammutprozesses gegen den sogenannten Geheimbund Ergenekon lässt viele Türkei-Beobachter so klug wie zuvor zurück. Und das nicht nur, weil es schon schwer genug ist, ein Verfahren gegen 275 Angeklagte auf fast 40 000 Seiten Gerichtsakten zeitlich zu verfolgen. Nach wie vor bleibt unklar, was genau an den Putsch-Vorwürfen zum Sturz der islamisch-konservativen Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan dran ist.

Waren zunächst vor allem Militärs angeklagt worden, verlängerte sich die Liste von Verdächtigen mit den Jahren um Politiker, Akademiker und Journalisten, die vom Verfahren berichteten. Dass einige von ihnen über Jahre in Untersuchungshaft saßen und immer wieder Ungereimtheiten im Beweismaterial bekannt wurden, lässt Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz aufkommen und schürt Verschwörungstheorien – als wäre der Bezug zur Ergenekon-Legende bei der Bezeichnung des vermeintlichen Putsch-Netzwerks der Rätselhaftigkeit nicht genug.

Die Durchsetzung transparenter, rascher und zielgerichteter Gerichtsverfahren ist der einzige Weg, wie Erdogan wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen könnte. Chancen dafür gibt es derzeit genügend. Zahlreiche Journalisten, Oppositionelle und deren Anwälte stehen wegen Terrorverdacht vor Gericht. Doch das Vorgehen der Regierung gegen ihre seit Ende Mai vor allem um den Gezi-Park in Istanbul protestierenden Kritiker lässt kein Ende solch mystischer Urteile erahnen.

**** Aus: neues deutschland, Dienstag, 6. August, 2013 (Kommentar)


Grünes Ergenekon

Urteile gegen angebliche Putschisten

Nick Brauns *****


Unter dem Vorwurf der Bildung einer bewaffneten Bande, die mit Anschlägen einen Militärputsch gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vorbereiten wollte, wurden am Montag in Istanbul rund 250 Angeklagte im fragwürdigen Ergenekon-Prozeß zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Höchstrangiger Angeklagter war der frühere Generalstabschef Ilker Basbug, der ebenso wie 18 weitere Militärs, Journalisten, Politiker und Akademiker in dem von der kemalistischen Opposition als »illegal« bezeichneten Prozeß lebenslängliche Haft erhielt.

Erdogan und die seiner Regierung nahestehenden Medien feiern den »historischen Prozeß« als Meilenstein bei der Demokratisierung des Landes, in dem die Armee zwischen 1960 und 1997 vier gewählte Regierungen gestürzt hat. Auffällig ist das Schweigen der US-Regierung zu den Urteilen, die auch hohe NATO-Offiziere betrafen. Die von der AKP betriebene Säuberung der Armeeführung ist in der Tat kaum denkbar ohne Zustimmung Washingtons. Doch in der US-Führung hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, daß die durch Militarismus, Staatsfixiertheit und engstirnigen Nationalismus verknöcherten kemalistischen Staatsbürokraten die der Türkei zugedachte Rolle als Trojanisches Pferd der NATO im Nahen Osten nicht mehr erfüllen konnten. Vor dem Hintergrund des von den USA vorangetriebenen »Größeren-Mittleren-Osten-Projektes« wurde eine neue Kraft gebraucht, die die Masse der gläubigen Bevölkerung für den neoliberalen Umbau der Türkei gewinnen und gleichzeitig als Vorbild in die islamische Welt ausstrahlen konnte. Dieser neue Agent des Westens wurde die 2002 an die Macht gewählte AKP mit der von ihr vertretenen Ideologie einer türkisch-islamischen Synthese.

Unter der AKP wurde die zweitgrößte NATO-Armee als innenpolitischer Faktor ausgeschaltet. Doch anstelle einer Demokratisierung der Türkei fand ein Wandel vom kemalistischen Militärstaat zum neoliberalen Polizeistaat mit reli­giöser Fassade statt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß die von den nun verurteilten Militärs begangenen Kriegsverbrechen in Kurdistan während des Ergenekon-Prozesses nicht zur Sprache kamen. Schließlich hat die AKP bei der Aufstandsbekämpfung noch vor drei Jahren eng mit dem jetzt verurteilten General Basbug kooperiert.

Mit dem Ergenekon-Verfahren wurden zwar einige berüchtigte Exponenten des »tiefen Staates« – Hüter des Laizismus verstehenden Militärs, kemalistische Bürokraten, nationalistische Ideologen – ausgeschaltet. Doch gleichzeitig ist der Prozeß der beste Beweis für die Weiterexistenz eines nunmehr religiös gewandelten »tiefen Staates«. Denn die für die juristischen Hexenjagden auf Opponenten verantwortlichen Kader der AKP und der pantürkisch-islamischen Gülen-Gemeinde haben längst ein »grünes Ergenekon« gebildet.

***** Aus: junge Welt, Mittwoch, 7. August 2013


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