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Anzeige zum Staatsbesuch

Deutsche Rechtsanwälte stellen Strafantrag wegen Kriegsverbrechen gegen türkischen Premier Erdogan und ranghohe Militärs

Von Claudia Wangerin *

Pünktlich zum Besuch des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdogan in Deutschland liegt eine Anzeige auf Grundlage des Völkerstrafgesetzbuchs gegen den Staatsgast vor. Die Rechtsanwälte Britta Eder und Heinz-Jürgen Schneider stellten am Dienstag in Berlin zehn exemplarische Fälle von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen durch Einsatz verbotener Waffen vor, die türkische Armee- und Polizeikräfte von 2003 bis 2011 im Konflikt mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begangen hätten. Die 108 Seiten starke Anzeige richtet sich auch gegen zwei ehemalige und den amtierenden Verteidigungsminister der Türkischen Republik sowie Generalstabschef Necdet Özel, seinen Vorgänger Isik Kosaner und weitere ranghohe Militärs.

Die Opfer sind sowohl kurdische Zivilisten wie der 12jährige Ugur Kaymaz und sein Vater Ahmet, die im November 2004 beim Entladen eines Lasters in Mardin von der Polizei erschossen wurden, als auch Guerillakämpfer, die mit international geächteten Chemiewaffen getötet oder nach der Gefangennahme extralegal hingerichtet wurden. Darüber hinaus geht es um die Verstümmelung und entwürdigende Zurschaustellung von Leichen – denn das Völkerstrafgesetzbuch schützt auch die Totenehre. Laut Anzeige posierten türkische Soldaten wie Großwildjäger neben einer gefallenen Guerillakämpferin und überfuhren die Opfer eines mutmaßlichen Giftgasangriffs mit Militärfahrzeugen.

Nur wenige der Beweisfotos grauenvoll zugerichteter Körper präsentierten die Anzeigeerstatter am Dienstag vor Medienvertretern. Bei Interesse könne weiteres Bildmaterial eingesehen werden, sagte der Soziologe Martin Dolzer, in einigen Fällen sei aber eine Veröffentlichung ethisch nicht vertretbar. In der Türkei gebe es eine »systematische Straflosigkeit« für derartige Verbrechen. Der Bundestagsabgeordnete Harald Weinberg (Die Linke) konnte nicht persönlich anwesend sein, schilderte aber in einer Videobotschaft einen Bombenanschlag auf eine Wahlparty der prokurdischen BDP, dessen Zeuge er 2011 bei einer Wahlbeobachterdelegation in Sirnak geworden war. Türkische »Sicherheitskräfte« hätten anschließend eine Spurensicherung verhindert.

»Ich möchte, daß schon morgen die Bundesanwaltschaft mit der Arbeit an dieser Strafanzeige beginnt«, sagte Rechtsanwalt Heinz-Jürgen Schneider am Dienstag. Rein juristisch gesehen habe die Anzeige Aussicht auf Erfolg. Aufgrund der politischen Großwetterlage rechnen die Anzeigeerstatter jedoch nicht allzu fest mit einer Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung für Erdogan und türkische Militärs, die sich bei Gelegenheiten wie der »Münchner Sicherheitskonferenz« in Deutschland aufhalten. Rechtsanwältin Britta Eder gab am Dienstag bekannt, sie habe wegen der Anzeige bereits eine Morddrohung von türkischstämmigen Personen in einem Fahrzeug mit dunkel getönten Scheiben erhalten.

Die Anwälte handeln im Auftrag von Opfern sowie der Menschenrechtsorganisation MAF-DAD, Verein für Demokratie und internationales Recht e.V. Neben Harald Weinberg, Martin Dolzer und dem Völkerrechtsprofessor Norman Paech gehören weitere engagierte Einzelpersonen zu den Anzeigeerstattern, so auch die durch die Krimireihe »Bella Block« bekannte Schriftstellerin Doris Gercke. Erdogan will heute in Berlin mit Bundeskanzlerin Angela Merkel das 50. Jubiläum der türkischen Arbeitsmigration nach Deutschland feiern.

* Aus: junge Welt, 2. November 2011


Dokumentiert: Die Pressemitteilung der Anwälte:

Strafanzeige gegen Ministerpräsident Erdogan und die Generalstabschefs der Türkei auf Grundlage des Völkerstrafgesetzbuches in Deutschland

„Ich möchte, dass die Bundesanwaltschaft unvoreingenommen, professionell und engagiert Ermittlungen zu dieser Anzeige führt“, so Heinz-Jürgen Schneider, Rechtsanwalt aus Hamburg auf einer Pressekonferenz am 01. November im Haus der Demokratie in Berlin.

Rechtsanwältin Britta Eder und Rechtsanwalt Dr. Jürgen Schneider hatten bei der zuständigen Bundesanwaltschaft (BAW) in Karlsruhe am Montag den 31.10. eine Strafanzeige gegen Ministerpräsident Erdogan, der sich zur Zeit auf Staatsbesuch in Berlin aufhält, sowie mehrere Verteidigungsminister und Generalstabschefs der türkischen Armee wegen schwerer Straftaten im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung eingereicht. Angezeigt werden vom Kriegsvölkerrecht geächtete Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Zeit zwischen 2003 und heute.

„Die Strafanzeige beruht auf dem seit 2002 bestehenden deutschen Völkerstrafgesetzbuch. Es ermöglicht eine internationale Strafverfolgung von geächteten Kriegsverbrechen, für die militärische Befehlshaber und politische Vorgesetzte verantwortlich sind,“ skizzierte Rechtsanwältin Britta Eder die Grundlage der Anzeige. „Inhalt sind 10 exemplarische Fälle aus den letzten Jahren, die auf Grundlage eigener umfangreicher Recherche, der Auswertung türkischer Justizmaterialien und Berichten renommierter Menschenrechtsorganisationen zusammengestellt wurden.“

Es handelt sich unter anderem um Fälle von extralegalen Hinrichtungen, Tötung von Kämpferinnen und Kämpfern nach Gefangenennahme, Folter, postmortalen Verstümmelungen bis zum Einsatz verbotener chemischer Waffen. Die Strafanzeige wird im Namen von Angehörigen der Opfer der Kriegsverbrechen erstattet.

Die Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation MAF-DAD – Verein für Demokratie und internationales Recht e.V., Heike Geisweid erklärte: „MAF DAD hat ein großes Interesse daran die systematischen Verstöße gegen Völkerrecht und Menschenrechte in der Türkei aufzuarbeiten.“ Die Autorin Doris Gercke (Bella Block), der Völkerrechtsprofessor Norman Paech, der Bundestagsabgeordnete Harald Weinberg (DIE LINKE), Dr. med. Gisela Penteker (IPPNW), die Stadträtin von Nürnberg Marion Padua sowie der Soziologe Martin Dolzer gehören ebenfalls zu den Anzeigenden.

Der Bundestagsabgeordnete Harald Weinberg war bei einem der angezeigten Fälle selbst Geschädigter und Zeuge. In einer Videobotschaft schilderte er einen Bombenanschlag „unbekannter Täter“ in Sirnak. „Mit dem Anschlag sollte das positive Wahlergebnis der BDP weggebombt werden. Die Sicherheitskräfte haben direkt nach dem Anschlag jegliche Spurensicherung verhindert. Das Fenster zum Frieden wurde mit dem Anschlag und neuer Repression gegen die kurdische Bevölkerung seitens der Regierung Erdogan geschlossen. Wir fordern die BAW auf in Bezug auf die 10 angezeigten Fälle zu ermitteln, “ so Weinberg.

„Die Logik, dass Menschenleben unterschiedlich viel Wert sind und diejenigen, die als Feinde oder Terroristen deklariert werden, vernichtet oder durch Racheaktionen getötet werden dürfen - diese Logik, die die türkische Regierung erneut vertritt, ist aus politischer, juristischer und menschenrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar,“ erklärte der Soziologe Martin Dolzer. „Gerade in Bezug auf den Verdacht über einen erneuten Chemiewaffeneinsatz in Hakkari/Cukurca bei dem 35 PKK RebellInnen starben sowie die Ankündigung einer tamilischen Lösung der kurdischen Frage, ist diese Anzeige sehr wichtig. Frieden kann nur durch einen Dialog aller Beteiligten und die Aufarbeitung von geschehenem Unrecht erreicht werden.“

In einigen Wochen wird im Pahl-Rugenstein Verlag ein Buch zur Anzeige erscheinen. Der Anzeigentext, Dokumente und Fotos sind unter www.kriegsverbrechen-tuerkei.info oder www.kriegsverbrechen-tuerkei.org abrufbar.



Bei Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch hat die Generalbundesanwaltschaft unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, das Verfahren aus Opportunitätsgesichtspunkten einzustellen, wie sie es z.B. im Fall Donald Rumsfeld getan hat, ohne in der Sache überhaupt Ermittlungen aufzunehmen.

Aus folgenden Gründen sei dies, so Britta Eder, bei der vorliegenden Anzeige nicht so leicht möglich.
Eine Einstellung nach § 153f Abs. 2 StPO kommt in Betracht, wenn
  • kein Tatverdacht gegen einen Deutschen besteht,
  • die Tat nicht gegen einen Deutschen begangen wurde,
  • kein Tatverdächtiger sich im Inland aufhält und ein solcher Aufenthalt auch nicht zu erwarten ist und
  • die Tat vor einem Gerichtshof oder durch einen Staat, auf dessen Gebiet die Tat begangen wurde, dessen Angehöriger der Tat verdächtigt ist oder dessen Angehöriger durch die Tat verletzt wurde, verfolgt wird.
Diese Möglichkeit besteht nach Überzeugung der Anwälte bei ihrer Anzeige nicht, da in einem der zur Anzeige gebrachten Fälle, bei dem eine Handgranate gegen eine Wahlbeobachterdelegation geschleudert wurde, die deutschen Staatsangehörigen (MdB Harald Weinberg und Stadträtin Marion Padua) zu den Betroffenen gehörten.




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