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Drei Tote bei Bombenexplosion in Ankara

Polizei und Politiker sprechen von Terroranschlag / Urheber noch unklar / PKK unter Verdacht

Von Jan Keetman, Istanbul *

Das Zentrum der türkischen Hauptstadt Ankara wurde am Dienstag von einer Bombenexplosion erschüttert. Nach Aussagen von Innenminister Idris Naim Sahin wurden drei Personen getötet und 15 verletzt.

Offenbar befand sich die Bombe in oder unter einem Kleinbus, der vor dem Landratsamt in Ankara abgestellt worden war. In der Nähe befinden sich mehrere Ministerien, darunter das Justiz- und das Verteidigungsressort, sowie der Sitz des Generalstabs der Streitkräfte. Fernsehbilder zeigten eine schwarze Rauchsäule über der Stadt. Mehrere Fahrzeuge standen in Flammen. In umliegenden Gebäuden gingen Fensterscheiben zu Bruch.

Die Polizei nahm kurz nach der Explosion eine Frau und später noch zwei weitere Verdächtige fest. In einer Aufnahme vom Abtransport der verdächtigen Frau waren Bruchstücke von Parolen zu hören. Satzfetzen wie »unser Kampf gegen den Faschismus«, »Pflicht« und »Ehre« waren zu verstehen, bevor die Frau in einen Polizeiwagen geschoben wurde. Die Polizei riegelte die Umgebung ab und suchte mit Spürhunden nach einer möglichen zweiten Bombe.

Zur gleichen Zeit wurde in einem Zug auf der Strecke zwischen Adana und Istanbul Bombenalarm ausgelöst. Der Zug wurde gestoppt, nachdem ein verdächtiges Gepäckstück gemeldet worden war.

Nach ersten Ermittlungen ging die Polizei im Falle der Explosion in Ankara von einem Terroranschlag aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Autogastank explodierte, sei sehr gering, sagte Innenminister Idris Naim Sahin vor Journalisten. Unklar war zunächst, wer die Bombe gelegt hat und ob ein Zusammenhang mit der Bombendrohung besteht, durch die am Montag (19. Sept.) der Auftritt des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül an der Berliner Humboldt-Universität verzögert wurde. Auch Gül, der am Dienstag gemeinsam mit Bundespräsident Christian Wulff dessen Heimatstadt Osnabrück besuchte, bezeichnete die Explosion in Ankara als Terroranschlag, sprach den Angehörigen der Opfer sein Bedauern aus und verurteilte den Terror auf das Schärfste.

Da andere Gruppen in der Türkei zur Zeit kaum aktiv sind, fällt ein Verdacht vor allem auf die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Nachdem sich die PKK fast ein Jahr lang ruhig verhalten hatte, begann sie nach den Parlamentswahlen im Juni erneut mit einer Serie von Anschlägen vor allem gegen Militär und Polizei im Osten der Türkei. Zu Anschlägen gegen türkische Zivilisten oder ausländische Touristen im Westen des Landes bekennt sich die Guerillatruppe seit Jahren nicht mehr. Die Verantwortung dafür übernimmt allenfalls die Gruppe Freiheitsfalken Kurdistans (TAK). Es ist strittig, ob es sich dabei um eine Abspaltung oder um eine Unterabteilung der PKK handelt.

Einiges über die Motive für die neuerliche Konfrontation zwischen der PKK und dem Staat ist jüngst bekannt geworden. Im Internet tauchten Tonaufnahmen von Geheimverhandlungen zwischen beiden Seiten auf, die in Oslo stattgefunden hatten. Wahrscheinlich wurden diese Aufnahmen von der PKK ins Netz gestellt, was dafür spricht, dass die Rebellen nicht auf eine baldige Wiederaufnahme der Gespräche hoffen. Daraus erklärt sich ihre Radikalisierung. Derweil denkt Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan offenbar, er könne das Problem militärisch lösen, insbesondere durch Bombenangriffe auf PKK-Lager in Nordirak. Offiziellen Angaben zufolge kamen dabei seit 17. August mehr als 100 Rebellen ums Leben.

* Aus: Neues Deutschland, 21. September 2011


Kurdische Partei verurteilt Anschläge **

Die Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans PKK hat am Mittwoch (21. Sept.) jede Verantwortung für einen Anschlag zurückgewiesen, bei dem am Dienstag in Ankara drei Menschen getötet und 15 weitere verletzt wurden. Bei zwei Angriffen von Unbekannten auf türkische Polizeischulen in den kurdischen Städten Siirt und Bitlis wurden unterdessen vier Zivilistinnen und ein Polizeischüler getötet. Guerillakämpfer der PKK hätten in Siirt in der Nacht zu Mittwoch einen mit Frauen besetzten Kleinbus für einen Zivilpolizeiwagen gehalten, mutmaßt die Tageszeitung Hürriyet Daily News. Die Vorsitzenden der prokurdische Partei für Frieden und Demokratie BDP, Selahattin Demirtas und Gultan Kisanak, verurteilten am Mittwoch die »Anschläge in Ankara und Siirt auf das Recht auf Leben« und forderten von den dafür Verantwortlichen zu ermitteln. Notwendig sei ein verstärkter Einsatz für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage.

In der Nacht zum Mittwoch (21. Sept.) wurden auch zwei deutsche Menschenrechtsaktivisten in ihrem Hotel in der kurdischen Stadt Van vorübergehend festgenommen und stundenlang verhört. Der Mitarbeiter einer linken Bundestagsabgeordneten Martin D. und medico-international-Mitarbeiter Martin G. gehören zu einer Delegation, die Ende letzter Woche Anzeige wegen der Tötung der deutschen Internationalistin Andrea Wolf durch die türkische Armee in Jahr 1998 erstattet hatte. Ihnen wurden Redebeiträge auf einer Pressekonferenz vorgeworfen. Die Feststellung, das kurdische Volk werde unterdrückt, ist in den Augen der Polizei Propaganda für eine terroristische Vereinigung. Darauf stehen zwischen drei und 12 Jahren Haft.

Inzwischen befinden sich die Verhafteten wieder auf freiem Fuß.

Nick Brauns

** Aus: junge Welt, 22. September 2011


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