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Erdogans Zukunft steht auf dem Spiel

Türkisches Verfassungsgericht eröffnete Verbotsverfahren gegen regierende AKP

Von Jan Keetman, Istanbul *

Das Verbotsverfahren gegen die regierende gemäßigt islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in der Türkei wegen angeblicher Verstöße gegen die laizistische Ordnung ist zugelassen. Das Verfassungsgericht entschied, das Verfahren zu eröffnen.

»Wenn das doch alles nur ein Aprilscherz wäre«, titelte gestern die türkische Wirtschaftszeitung »Referans«. Damit traf das Blatt die allgemeine Stimmung der Besorgnis und der Ungewissheit. Im Regierungslager hatten einige gehofft, das Gericht würde die Klageschrift des Oberstaatsanwalts Abdurrahman Yalcinkaya als unbegründet ablehnen. Der vom Verfassungsgericht zur Begutachtung gebetene liberale Jurist Osman Can hatte diese Hoffnung durchaus genährt. Auch deshalb kam der einstimmige Beschluss der Richter wie ein Paukenschlag, obwohl er über den Ausgang des Verfahrens nichts aussagt.

Nur in einem Punkt wichen einige Richter voneinander ab, nämlich in der Frage, ob auch Staatspräsident Abdullah Gül in das Verfahren einbezogen werden soll. Letztendlich entschied sich eine Mehrheit der Richter auch dafür. Allerdings kann das Verfassungsgericht Gül ohnehin nicht seines Amtes entheben.

Die AKP könnte verboten werden, ihre Mitglieder könnten sich aber nach altem türkischen Brauch unter neuem Namen wieder versammeln. In Gefahr ist vor allem die politische Zukunft des Führers der AKP, des jetzigen Premierministers Recep Tayyip Erdogan. Wenn das Gericht sein Abgeordnetenmandat aufhebt, verliert Erdogan auch das Amt des Regierungschefs. In diesem Fall würde ihm wahrscheinlich jegliche parteipolitische Tätigkeit verboten. Erdogan könnte eine Partei weder gründen noch ihr angehören.

Erdogan selbst war gestern sichtlich bemüht, nicht noch mehr Öl ins Feuer zu schütten. Statt wie nach der Einreichung des Verbotsantrags aus dem Koran zu zitieren, wählte er diesmal ein Zitat von Nazim Hikmet: »Wir sind auf einem langen, schmalen Weg, wir gehen bei Tag und bei Nacht!« Nach dieser Rede sah es so aus, als hätte die AKP den in den letzten Tagen diskutierten Plan aufgegeben, dem Parteiverbot durch eine Verfassungsänderung zuvorzukommen. Die Chancen, dem Verbot auf diese Weise zu entgehen, stehen ohnehin nicht gut. Im Parlament ist höchstens die ebenfalls von einem Verbotsverfahren bedrohte prokurdische DTP bereit, die AKP bei einer Verfassungsänderung zu unterstützen. Sie will als Gegenleistung aber ein Demokratisierungspaket. Erdogan hat sich auf die Ausgrenzung der DTP bereits ziemlich festgelegt und außerdem reichen die Stimmen der AKP und der DTP noch nicht zu einer Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung.

Von den übrigen Parteien ist derzeit keine Hilfe zu erwarten. Mit dem Hinweis darauf, dass nicht nur die AKP, sondern auch die ultranationalistische MHP die Aufhebung des Kopftuchverbots an den Universitäten befürwortet hat, aber nur die AKP nun verboten werden soll, brachte Erdogan die MHP endgültig gegen sich auf. Führende MHP-Politiker sprachen von einem Versuch, ihre Partei zu denunzieren, um mit Hilfe einer Art Kronzeugenregelung davonzukommen. Das ist zwar juristisch albern, hilft der MHP aber sich von der AKP abzugrenzen und eigene Sünden vergessen zu machen.

Es bleibt für eine Verfassungsänderung die Möglichkeit eines Referendums, doch meinen selbst Stimmen aus den eigenen Reihen, dass dies nur zu einer Polarisierung führen würde, die der AKP letztendlich nicht hilft. Die Verfassungsrichter könnten das Verfahren nach altem Recht fortsetzen

* Aus: Neues Deutschland, 2. April 2008


Panik am Bosporus

Türkische Regierungspartei sucht drohendem Verbot zu entgehen

Von Nico Sandfuchs, Ankara ** Panik macht sich in der Türkei breit, seitdem das Verbotsverfahren gegen die islamisch-konservative Regierungspartei AKP formal eröffnet worden ist. Das Verfassungsgericht entschied am Montag, daß die Klage gegen die Partei von Ministerpräsident Tayyip Erdogan zulässig sei. Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalcinkaya wirft der AKP vor, eine »geheime Agenda« zur Errichtung eines islamischen Gottesstaates zu verfolgen.

»An sich war der Beschluß alles andere als eine Überraschung«, meint Ismet Berkan von der linksliberalen Radikal. Schließlich habe das Gericht lediglich geprüft, ob die Anklageschrift auch alle formalen Kriterien erfülle. Dennoch hat sich das Klima mit der Eröffnung des Verfahrens auf einen Schlag spürbar gewandelt. Dazu beigetragen hat vor allem die AKP selbst, die in den Tagen zuvor noch die Ansicht verbreitete, daß das Verfahren bereits bei der ersten Sitzung am Montag scheitern würde.

Doch das genaue Gegenteil ist nun eingetreten. Einstimmig haben die Richter für die Eröffnung des Prozesses votiert. Und auch die Rechenspiele, die in jeder Zeitung und in jedem Fernsehkanal nun durchgeführt werden, fallen für die AKP nicht gerade günstig aus. Elf Verfassungsrichter werden über das Urteil befinden, mindestens sieben müßten für ein Verbot stimmen, um die Partei zu verbieten. Acht der Richter sind ausgewiesene Kemalisten, der Regierung Erdogan also feindlich gesonnen – keine guten Aussichten für den Ministerpräsidenten.

»Die AKP wird nun in die Offensive gehen müssen«, faßt der Journalist Rusen Cakir die brenzlige Situation zusammen. Doch wie könnte dies aussehen? Stellt sich die AKP dem Verfahren, wäre das Risiko unkalkulierbar hoch. Für problematisch halten Beobachter dabei gar nicht einmal die drohende Schließung. Dutzende Parteienverbote wurden in der Türkei bereits verhängt, umgehende Neugründungen sind längst eingespielte Routine. Gefährlich ist vielmehr das mehrjährige Politikverbot, das Generalstaatsanwalt Yalcinkaya für Erdogan und 70 weitere AKP-Spitzenfunktionäre zusätzlich fordert. Konkret bedeutet dies, daß der politische Islam in der Türkei auf einen Schlag seiner gesamten Führungsspitze beraubt würde. Die Ära Erdogan könnte sich also einem abrupten Ende zuneigen, das Wort vom »Justizputsch« macht bereits die Runde. Nicht nur die konservative Klientel der AKP, sondern zum Beispiel auch die Wirtschaft, die sich mit der neoliberalen Politik Erdogans in den vergangenen fünf Jahren bestens arrangiert hat, ist aus diesem Grunde alarmiert.

Einen letzten Ausweg könnte nun ein Referendum über eine Verfassungsänderung bilden, um das gerichtliche Verfahren zum Parteienverbot deutlich zu erschweren. »Ohnehin haben wir das bereits seit langem vor«, verkündete Erdogan kürzlich scheinheilig und stellte ein »umfassendes demokratisches Reformpaket« in Aussicht. Um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, besinnt sich der Ministerpräsident plötzlich wieder der »notwendigen demokratischen Erneuerung des Landes«, die er seit Monaten zugunsten der Kopftuchreform und des Krieges gegen die Kurden zurückgestellt hat. Ob er damit bei einer Volksabstimmung durchdringen kann, ist allerdings ungewiß.

*+ Aus: junge Welt, 2. April 2008


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