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Erdogan zeigt reaktionäres Gesicht

Türkische Regierung will Schwangerschaftsabbruch erschweren. Ministerpräsident kriminalisiert Frauen

Von Jana Frielinghaus *

»Für mich macht es keinen Unterschied, ob man das Baby im Mutterleib tötet oder nach der Geburt.« Mit dieser Äußerung hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die erste große Debatte um das Thema Schwangerschaftsabbruch in der Türkei losgetreten. Für ihn ist jede Abtreibung ein »Anschlag auf das Land«. Dies ist nicht nur eine Meinungsäußerung des Regierungschefs: Sein Kabinett plant, das seit 1983 existierende Recht auf Schwangerschaftsabbruch stark einzuschränken, wie Tagesspiegel.de am Mittwoch berichtete. Demnach sollen Abtreibungen in der Türkei künftig nur noch bis zur vierten Schwangerschaftswoche und nur noch in medizinischen Notfällen erlaubt sein. Erdogan kündigte die Abschaffung der bisherigen Regelung an, die Abbrüche ohne Einschränkungen generell bis zur zehnten Schwangerschaftswoche erlaubt. Gleichzeitig will er offenbar auch gegen die steigende Zahl von Kaiserschnittgeburten administrativ vorgehen. Die seien wie die jährlich rund 70000 Schwangerschaftsabbrüche ein Hindernis für das nötige Bevölkerungswachstum im Land und Teil einer »Verschwörung«, mit der ein »gesundes Bevölkerungswachstum in der Türkei« verhindert werden solle. Denn Frauen könnten auf diese Weise nur zwei oder drei Kinder bekommen, wußte der Chef der regierenden konservativ-muslimischen AKP-Partei zu berichten.

Gesundheitsminister Recep Akdag kündigte an, ein Entwurf für das neue Abtreibungsgesetz solle noch vor der am 1. Juli beginnenden Sommerpause ins Parlament eingebracht werden. Bis dahin will die Regierung von Wissenschaftlern feststellen lassen, ab welcher Schwangerschaftswoche das menschliche Leben beginnt. Offen blieb zunächst, ob die geplante Vierwochenregel selbst für Schwangerschaften nach Vergewaltigungen gelten soll.

Der Vorstoß vom vergangenen Wochenende sorgte für Empörung unter Frauenrechtlerinnen und -politikerinnen. Die Opposition im Parlament betonte, die Zahl der Kinder in einer Familie sei allein Sache von Mann und Frau und nicht die des Ministerpräsidenten. Die Abgeordnete Aylin Nazliaka forderte, Erdogan solle aufhören, »Vagina-Wächter zu sein«. Er habe »die Türkei an einen Punkt gebracht, an dem sich ein totalitäres Regime ins Privatleben der Menschen einmischt«.

Unmittelbar nach Erdogans Äußerungen fand am Sonntag einem Bericht der tageszeitung zufolge eine spontane Demonstration vor dem Amtssitz des Ministerpräsidenten in Istanbul statt. Mehrere hundert Frauen forderten, ihre Entscheidungsfreiheit in der Frage des Abbruchs dürfe nicht angetastet werden. Demonstrantinnen erinnerten mit Transparenten daran, daß in der Türkei jeden Tag mindestens eine Frau durch häusliche Gewalt getötet wird: »Was tun Sie dagegen, Herr Erdogan?«

Der Schwangerschaftsabbruch gilt unterdessen in vielen muslimisch geprägten Ländern nicht als großes moralisches Problem. Denn viele islamische Gelehrte sind der Ansicht, daß ein ungeborenes Kind erst etwa im vierten Monat eine Seele erhält und damit zum Menschen wird – zugleich ein Beleg dafür, wie willkürlich sämtliche Festlegungen zu diesem Thema sind. Erdogan machte derweil klar, daß ihm diese Auslegung zu lasch ist. Auch das staatliche Religionsamt, offizielle Leit­instanz des Islam in der Türkei, liegt auf Erdogans Linie.

Die Zahl der Kaiserschnittgeburten ist in der Türkei indes tatsächlich extrem hoch: Im Landesdurchschnitt liegt sie bei 50 Prozent, in manchen Krankenhäusern sogar bei 90 Prozent. In Deutschland wird etwa ein Drittel der Kinder auf diesem Weg geboren, im EU-Durchschnitt sind es 20 Prozent. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, daß ein Kaiserschnitt bei maximal 15 Prozent aller Geburten aus medizinischen Gründen erforderlich ist.

Während etliche Abgeordnete Partei für Erdogan ergriffen, verwies der Chef des Verbandes der türkischen Gynäkologie und Geburtshilfe, Ismail Mete Etil, darauf, daß die Abtreibungsraten in Ländern Asiens und Lateinamerikas am höchsten sind, in denen der Eingriff verboten ist. Die türkische Ärztekammer veröffentlichte einem Bericht der Deutsch-türkischen Nachrichten zufolge erst kürzlich eine Erklärung, in der der Schwangerschaftsabbruch als »integraler Bestandteil« des Rechts der Frau angesehen wird, »über ihren eigenen Körper und ihre Fruchtbarkeit zu bestimmen«.

* Aus: junge Welt, Freitag, 1. Juni 2012


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