Manifestation in einem etwas normaleren Land
Erstmals fand in Istanbul die Mai-Kundgebung wieder auf dem Taksim-Platz statt
Von Jan Keetman, Istanbul *
Der 1. Mai beginnt wie in den Jahren zuvor recht früh. Doch diesmal
sind es keine Hubschrauber, die im Tiefflug über die Häuser donnern, und nicht der Geruch von
Tränengas, der durch die Ritzen dringt, die mich um halb sechs Uhr wecken, sondern das Lied Bella
Ciao, das durchs Viertel klingt. Blechtrommeln, Pauken und das wilde Pfeifen von Oboen folgen.
Unten vor dem Haus steht die Frau des Hausmeisters. Eine etwas in de Breite gegangene türkische
Mutter mit Kopftuch und freundlichem Lächeln. »Wo wollen Sie hin?«, fragt sie besorgt. »Taksim!« -
»Gehen Sie nicht!« - »Warum?« - »Gut, aber machen Sie keine Ungezogenheiten!«
Eine Demonstration am 1. Mai an Istanbuls zentralem Taksim-Platz ist noch immer ein Politikum.
Seit am 1. Mai 1977 Unbekannte auf die Demonstranten auf dem Platz das Feuer eröffneten und 34
Menschen töteten, waren Manifestationen am Taksim immer verboten. Regelmäßig »wusste« die
Polizei aus irgendwelchen Quellen, dass eine Provokation am Taksim-Platz (und nirgendwo sonst)
geplant war. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wies ebenso beharrlich darauf hin, dass es
schon verkehrstechnisch unmöglich wäre, am 1. Mai am Taksim zu demonstrieren.
Doch dieses Jahr geht es plötzlich, zwischen 150 000 und 500 000 Menschen treffen sich friedlich
am Taksim und die Welt geht nicht unter. Vielleicht hätte man ja auch all die Jahre davor etwas an
Tränengas und Handschellen sparen können.
Es ist eine Heerschau der türkischen Linken. Auf vielen Postern sieht man das Konterfei von Che
Guevara, Karl Marx ist zu sehen, dazu Mustafa Suphi, der 1921 ermordete Gründer der ersten
Kommunistischen Partei der Türkei, ein paar Bilder von Lenin und Stalin und in einer Ecke auch von
Atatürk. Der mächtige kurdische Block lässt den gefangenen PKK-Führer Abdullah Öcalan
hochleben, ein Frauenblock in Lila demonstriert für kostenlose Kinderkrippen. Dazwischen
Gewerkschafter mit ihren roten oder weißen Kappen. Und immer wieder Menschen, Menschen,
Menschen. Während die einen nach Stunden ihre Transparente längst wieder zusammengerollt
haben und auf dem halben Weg nach Hause sind, haben es andere wegen der Menschenmengen
noch nicht einmal bis zum Taksim geschafft.
Den ganzen Tag kommt nur einmal etwas Spannung auf, als Arbeiter und Arbeiterinnen vom
privatisierten Unternehmen Tekel einen Gewerkschaftsführer vom Rednerpult vertreiben, dem sie
vorwerfen, sie im Stich gelassen zu haben. Doch das bleibt eine kleine Episode in einer riesigen
Veranstaltung.
Wird diese so mächtig aufgetretene Linke in der Türkei künftig eine größere beziehungsweise seit
langem überhaupt wieder eine Rolle spielen? Der grauhaarige, linke Kolumnist Oral Calislar
antwortet: »Ja und nein«. Die Linke hätte ein großes Potenzial, sie sei aber zu sehr in kleine
Gruppen gespalten und oft zu »nostalgisch«.
Und die Frau des Hausmeisters, kommt sie nächstes Jahr mit zum Taksim? Nein, das wohl nicht,
aber zumindest hat sie, nachdem wider Erwarten alles friedlich verlaufen ist, ihre Angst verloren. Am
Abend ist die Türkei ein etwas normaleres Land geworden.
* Aus: Neues Deutschland, 3. Mai 2010
Den Taksim zurückerobert
Türkei: Gewaltige Maikundgebung mit Hunderttausenden Teilnehmern
Von Nick Brauns, Istanbul **
Mit einer gewaltigen Mai-Kundgebung von bis zu 300000 Teilnehmern hat die türkische Arbeiterbewegung nach 33 Jahren Verbot ihre Rückkehr auf den Istanbuler Taksim-Platz gefeiert. In einem dreiarmigen Sternmarsch strömten die Mitglieder der sechs aufrufenden Gewerkschaftsdachverbände, der kemalistischen Oppositionspartei CHP, der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie BDP sowie zahlreicher sozialistischer Organisationen auf den Platz. Arbeiter des staatlichen Tabakmonopols Tekel, die im Winter monatelang gegen ihre privatisierungsbedingte Entlassung gekämpft hatten, führten den Zug des Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is an. Neben Vertretern internationaler Gewerkschaftsverbände waren insbesondere aus Deutschland Dutzende Gewerkschaftsaktivisten und Mitglieder der Linkspartei angereist.
Auf Transparenten waren Losungen zu lesen wie: »Ihr Mörder, euer 12.-September-Putsch kann uns nicht aufhalten. Wir sind nach 33 Jahren immer noch da«. 1977 hatten Scharfschützen der Konterguerilla das Feuer auf die Maikundgebung der Föderation Revolutionäre Arbeitergewerkschaften DISK auf dem Taksim eröffnet. 37 Menschen wurden damals getötet. Mit solchen Massakern wurde dem Militärputsch von 12. September 1980 der Weg bereitet. Seitdem war der Taksim für die Arbeiterbewegung gesperrt. In den letzten Jahren hatte es Straßenschlachten gegeben, als Gewerkschafter versuchten, auf den Platz zu gelangen. Die Polizei hatte auch dieses Jahr mit mehr als 22000 Beamten die Innenstadt von Istanbul in eine Festung verwandelt. Kilometerlange Sperrzäune säumten die Wege zur Kundgebung, jeder einzelne Teilnehmer wurde durchsucht.
Als Mustafa Kumlu, der Vorsitzende des größten türkischen Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is, die Eröffnungsrede halten wollte, begannen wütende Arbeiter Flaschen und Steine zu werfen. Kumlu, ein Mitbegründer der islamisch-konservativen AK-Regierungspartei und Vertrauter des Staatspräsidenten, hatte die Tekel-Arbeiter immer wieder im Regen stehen lassen, in dem er eine Ausweitung des Kampfes verhinderte. Tabakarbeiter, Feuerwehrmänner und andere aufgrund der staatlichen Privatisierungspolitik entlassene Staatsangestellte stürmten die Bühne und vertrieben Kumlu und weitere Türk-Is-Bürokraten, die sich über einen Sperrzaun in Sicherheit bringen mußten.
Als die Lage zu eskalieren drohte, ergriff Sami Evren, der Vorsitzende der Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KESK das Wort. In einer kämpferischen Rede beschwor er das Erbe der in den 70er Jahren ermordeten türkischen Revolutionäre Ibrahim Kaypakkaya und Mahir Cayan ebenso wie des im Gefängnis gestorbenen Mitbegründers der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, Mazlum Dogan. Evren forderte die vollständige Aufklärung des Taksim-Massakers von 1977 und aller anderen staatlichen Morde sowie eine friedliche Lösung der kurdischen Frage. Viel Applaus bekam auch der DISK-Vorsitzende Suleyman Celebi für seinen Vorschlag: »Dieser Platz sollte 1.-Mai-Platz heißen, weil ihn die Arbeiterklasse trotz Verbots am 1.Mai nie vergessen hat.«
** Aus: junge Welt, 3. Mai 2010
Zurück zur Türkei-Seite
Zur Gewerkschafts-Seite
Zurück zur Homepage