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Einfach Z - nicht Zatzita

Tausende Tschetschenen sollen bis zum 1. März aus Flüchtlingscamps in Inguschetien vertrieben werden

Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag, den die kritische Wochenzeitung "Freitag" am 13. Februar 2004 veröffentlichte.


Von Andrea Strunk

Der Mann hieß Ruslan und wohnte in Grosny in einer Gasse, deren Häuser heute nicht mehr existieren. Er wohnte zur Untermiete bei einer alten Russin, die nach Tschetschenien gekommen war, als die Tschetschenen im Zweiten Weltkrieg nach Kasachstan deportiert wurden und Tschetschenien neue Bewohner brauchte. Dass die Alte Russin war, hat Ruslan nicht gestört. Er sorgte trotzdem für sie, sie selbst konnte es nicht mehr.

Als 1994 der erste Krieg ausbrach und die Frau nicht wusste wohin, blieb Ruslan bei ihr. Eines Morgens wurde das Haus bombardiert. Ruslan starb in den Trümmern, die Frau überlebte. Von Ruslan blieb ein verschwommenes Foto, das seine Schwester auf ihren Altar in einer Unterkunft für Flüchtlinge in Inguschetien stellte. "Wir hassen die Russen nicht. Sie sind nicht unsere Feinde. Unsere Feinde sind die Soldaten. Wir sind gütige Menschen. Sagen Sie das weiter. Wir sind gütig und sorgen für unsere Nächsten."

Abdulla Gapajew will nicht fotografiert werden. Er habe keine Zähne mehr im Mund, er könne seine Beine nicht aus dem Rollstuhl bewegen, seine Augen nicht mehr gebrauchen - die Hände zittern. Für ihn, der das tschetschenische Staatstheater mit begründet hat und einst als umschwärmter junger Held auf der Bühne stand, der dann Kultusminister seines Landes wurde und voller Kraft an ein neues Tschetschenien glaubte, ist der körperliche Verfall schrecklich. Nur der Geist versagt Gapajew nicht den Dienst, so schreibt er Bücher über die tschetschenische Geschichte. "Wir brauchen jemanden, der die Clans vereinigen kann. Stark muss er sein, aber nicht aus der Kriegsgeneration kommen. Jung muss er sein. Wir brauchen nicht nur Freiheit, sondern vor allem Wiederaufbau, Wohlstand, Bildung für unsere Kinder. Die Welt hält uns ohne Prüfung für schuldig, ein ganzes Volk wurde zum Terroristen erklärt. Nun überlässt man uns dem Sterben. Wir können nur den jüdischen Weg gehen: durch Intelligenz und Bildung überzeugen."

Die Frau wurde Nadja genannt, ein Kosename aus der Kindheit. Sie war schwanger, als die ersten Bomben auf Grosny fielen. Im eigenen Wagen erreichte sie mit ihrem Mann das benachbarte Inguschetien, wo sie in einem Lager unterkam. Dort fand sie auch ihre Schwester wieder. Nadja brachte einen Sohn zur Welt, ein schwächliches Kind mit ungesunder Gesichtsfarbe. Nach einem Jahr sagten ihr die Ärzte, der Kleine müsse am Herzen operiert werden, nur in Inguschetien sei das unmöglich. "Sie müssen nach Moskau gehen." Nadja wollte nicht nach Moskau - sie hörte, in Deutschland gäbe es gute Ärzte. Im Frühjahr 2003 machte sie sich mit ihrem Mann und dem Kind auf den Weg. Zuletzt rief sie ihre Schwester im Sommer aus Polen an: sie hätten für die Weiterreise kein Geld mehr, auch habe man ihnen gesagt, Deutschland nehme keine Tschetschenen auf. Seitdem hat die Schwester nichts mehr gehört.

"Kein Leben", summen die Wagenräder

Klagelieder, und sie alle haben einen Refrain. Kein Leben. Das ist kein Leben, kein Leben, tönt es aus tausend Mündern, dringt durch die dünnen Wände der Zelte, ächzt aus dunklen Ecken, in denen Menschen leben, die man nicht sieht. Kein Leben, weint die alte Frau, kein Leben, sagt der Vater und verachtet sich, weil er kein anderes Leben finden kann. Kein Leben, sagt die junge Frau. Ohne einen Ofen. Ohne einen Mantel, der mich und meine Kinder durch den Winter bringt. Ohne Medikamente für meine Söhne, die auf der Lunge husten, als hätten sie die Schwindsucht. Ohne Ehre für unsere Männer, die nur herumsitzen und sich schämen. Ohne eine anständige Schulbildung, die es meinen Kindern ermöglicht, ein Leben zu führen, das ein Leben ist.

"Kein Leben", summen sogar die Räder des Wagens, der die Menschen von Lager zu Lager, von Elend zu Elend bringt. Kein Leben, scheint es von den Gipfeln des Kaukasus widerzuhallen, deren Schönheit eine Lästerung ist.

Die Frau ist 30 und sieht aus wie 50. Sie lebt in einer leeren Kiesfabrik voller surrealer Behausungen unter stillgelegten Förderbändern und Rampen, wo Kinder graue Seelen und Männer stumpfe Augen haben. Die Frau lebt zusammen mit ihrer Mutter, ihrem Mann und fünf Kindern in einer Halle im ersten Stock der Fabrik. Mit Hilfe von Vorhängen und Spannplatten ist das Refugium abgeteilt. Aus Latten entstand ein Bett, darin schlafen alle acht. So ist es wärmer. Die Halle darunter ist nur über eine Feuerleiter zu erreichen, die ist steil und vereist, deshalb kann die alte Mutter nicht mehr heraus. Die Gesichter der Kinder sind bleich vom entbehrten Tageslicht, die Haare dünn, die Lungen rasseln. An manchen Stellen ist der Zementfußboden weg gebrochen, über meterbreite Löcher hat der Vater Holzplanken gelegt. Der Jüngste ist trotzdem durchgefallen. Er landete auf einem Deckenbalken des darunter liegenden Geschosses und zerquetschte seine Hoden. Seitdem liegt er meist im Bett, weil die Schmerzen unerträglich sind.

"Für Alina", spielt der Wind sein Lied

Das Mädchen heißt Lenka. Seit die Eltern bei einem Bombenangriff starben, lebt es in einem Heim für tschetschenische Waisenkinder außerhalb von Nasran. An ein anderes Leben kann sie sich kaum noch erinnern, sogar die Eltern sind Schattengestalten. Was schlimmer wiegt, ist die Gegenwart, ein weiterer kalter Winter in zu dünner Kleidung. Für Lenka scheint es wie ein Wunder, dass an einem dieser Wintertage Menschen kommen, die an sie und die anderen Kinder Daunenjacken und Stiefel verteilen. Lenka sucht sich eine weiße Jacke und rote Schuhe aus, beides ist neu. Sie habe noch nie neue Sachen getragen, sagt sie und fragt scheu, wer ihr diese schenke. Aus Deutschland sei er, sagt einer der Männer. Von einer Hilfsorganisation.

Instead of my dreams, I see my way home. As long time ago, I´m on my way home, hat das Mädchen auf einen Zettel geschrieben. Das Mädchen ist eigentlich längst eine Frau, doch als sie keinen Mann zum Heiraten fand - die in Frage kommenden Männer sind tot oder kämpfen -, beschloss sie, erst dann erwachsen zu werden, wenn eine Zeit für Zukunft gekommen ist. Neben ihrem Schreibtisch hängt ein Poster von Amnesty International. Darauf ist das Foto eines zerstörten Hauses, vor dessen Tür eine alte Frau steht. Durch das zerschossene Obergeschoss schimmert ein grüner Baum. Daneben lachen die Beatles von der Wand. Seit sie vier sei, sagt das Mädchen, liebe sie deren Musik. "Imagine all the people living in peace".

"Für Alina", spielt der Wind sein seltsam seelenloses Totenlied. Er streicht singend über den frisch gepflügten Boden, in dessen Furchen sich Regenwasser sammelt. Durch von Bulldozern zu Klumpen zusammengeschobene Hütten bläst er hohl und tief, singt in den Rohren, durch die das Trinkwasser floss. Vor einer Woche noch lebten hier 700 Menschen in Zelten, auf denen stand UNHCR (*). Allerdings waren die Buchstaben schon verwaschen, aber das machte nichts, die Zelte standen seit vier Jahren dort. UNHCR hätte gern neue gebracht, aber die russische Regierung erklärte, Tschetschenien müsse wieder aufgebaut werden. Die Flüchtlinge sollten zurück.

Ein Mann gräbt im verlassenen Camp den Boden um. Widerwillig gibt die Erde Reste von Sachen her, die einmal Teil eines Menschenlebens waren. Ein Schulbuch, einen Männerschuh, einen Topfdeckel. Wer mag jetzt ohne Buch zur Schule gehen?

Über die Frauennamen, die man den tschetschenischen Lagern gab, wurde unter den Flüchtlingen viel gestritten. Der Wohlklang der Namen - sagten viele - verniedliche alles unerträglich. Man gäbe ihnen dadurch Würde - sagten andere. Auch die Behörden sahen die Personifizierung der Lager nicht gern und bevorzugten sachliche Buchstaben. A - nicht Alina, B - nicht Bela, Z - nicht Zatzita.

Natürlich trifft die prosaisch-behördliche Art die Atmosphäre der Lager besser. Feuchte Zelte, schlammige Wege, Mütter, denen die Erschöpfung zu vieler Monate im Exil ins Gesicht geschrieben steht. Die Mädchennamen dagegen zeigten an, dass die Camps trotzdem Heimat sind. Die ungeliebte Heimat, eine andere gibt es nicht.

Die Angst, die in Kellerlöcher kriecht

Wer weiß schon, wo die Legenden aufhören, alle Geschichten wiederholen sich, handeln von kranken Kindern, die auch der Arzt nicht wieder zum Lachen bringt, von Schuhen, die zu dünn sind für die Winter, von Krankheiten, die kein Medikament heilt. Manche sind wie Requiems, in denen verlorenes Land betrauert wird.

Kein Leben, kein Leben.

Und dann gibt es die Geschichten, die gar nicht erzählt werden. Besser, man fragt nicht, wo die Söhne sind. Warum so junge Frauen schon als Witwen herumlaufen. Manche Geschichten hört man dreimal an einem Tag, und es ist egal, ob sie wahr sind. Was zählt ist, dass sie verzweifelt wiederholt werden, als ließe sich damit etwas beweisen. Nur was? Dass die Tschetschenen keine Terroristen sind? Dass Grosny mit seiner Shakespeare-Straße und seiner Universität nicht die Hauptstadt eines wilden, unzivilisierten Bergvolkes war?

Ginge es doch nur um Beweise, um Rechthaberei - aber es geht um Leben. Und sind sie nicht schon alle erzählt, diese Geschichten. Von 200.000 Toten? Von Todesschwadronen? Von Folterungen? Erzählt und vergessen? Kennen Sie Tschetschenien? Erzählt man bei Ihnen die Wahrheit über dieses Land, erzählt man Ihnen von der Angst, die jede Nacht in die Kellerlöcher kriecht, in denen unsere Leute leben? Zählt bei Ihnen noch jemand unsere Toten und weint um unsere Kinder?

* UN-Hilfswerk für Flüchtlinge

siehe auch:
www.iwpr.net (Institut of War and Peace Reporting),
www.memo.ru/deutsch/index.htm (Menschenrechtsorganisation Memorial),
www.themoscowtimes.com (Moskow Times)

Spendenkonto: WORLD VISION Deutschland / Postbank Frankfurt / BLZ 500 100 60 / Konto 66601 / Stichwort: Nothilfe Tschetschenien.


Stichtag: 1. März 2004

Die Kaukasusrepublik Inguschetien ist Teil der Russischen Föderation. Bis zum Ende der Sowjetzeit bildete sie mit dem benachbarten Tschetschenien die Tschetscheno-Inguschische Autonome Sowjetrepublik (ASSR), die sich auflöste, als Tschetschenien 1991 seine Unabhängigkeit erklärte. Der 1999 begonnene zweite Tschetschenienkrieges brachte mindestens 200.000 Flüchtlinge nach Inguschetien - 70.000, wahrscheinlich aber mehr, leben noch immer dort. Im Winter 2002 begannen die Behörden, die Camps aufzulösen, zunächst wurde das Lager Bela geschlossen, im Winter 2003 dann Alina. Die drei verbliebenen - Sputnik, Zatzita und Bart sowie alle nicht-offiziellen Unterkünfte - sollen bis zum 1. März 2004, also rechtzeitig zur Präsidentenwahl in Russland, abgebaut sein. Die russischen und inguschischen Behörden behaupten, niemand werde gegen seinen Willen zurückgeschickt, tatsächlich aber sehen sich die Betroffene massiv unter Druck gesetzt. Mitte Januar war der Menschenrechtsbeauftragte der russischen Regierung für Tschetschenien entlassen worden. Begründung: Dessen Mission werde nun durch den tschetschenischen Präsidenten Achmed Kadyrow erfüllt. Die Regierung in Grosny versprach den Flüchtlingen Kompensationszahlungen von 10.000 Dollar, sollten sie freiwillig in ihre vom Krieg zerstörte Heimat zurückgehen.



Aus: Freitag 08, 13. Februar 2004


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