Tschetschenien: Befreiungskampf oder Terrorismus?
Drei Beiträge, die der Position Russlands gerecht zu werden versuchen
Im Folgenden dokumentieren wir drei Beiträge, die es sich mit der Verurteilung der russischen Gewaltpolitik gegenüber Tschetschenien nicht so leicht machen. Die Beiträge haben wir der kritischen Wochenzeitung "Freitag" (Berlin) und der österreichischen Wochenzeitung "Die Furche" (Wien) entnommen.
Wir dokumentieren -
einen Artikel eines russischen Jornalisten, Boris Kaimakow,
-
einen Beitrag der deutschen Sozialwissenschaftlerin Sabine Kebir und
eine Leitartikel von Wolfgang Machreich.
Und was kommt noch?
Von Boris Kaimakow*
Januar 1996. Der tschetschenische Terrorist Salman Radujew und eine 20-köpfige Bande überfallen ein Krankenhaus in der dagestanischen Stadt Kisljar. Damals Free Lancer des deutschen Magazins Stern, kämpfe ich mich durch Blockposten nahe Kisljars, um möglichst schnell in die Nähe des besetzten Gebäudes zu kommen. Doch vergeblich. Die Stadt ist von russischen Soldaten abgesperrt. Ich übernachte in einer Siedlung bei Kisljar. Der Gastgeber schläft auf dem Fußboden, die bekannte kaukasische Gastfreundschaft. Die Übernachtung kostet mich nichts.
Als ich am nächsten Tag gegen Mittag doch zum Schauplatz des Anschlags vordringe, fährt gerade eine Buskolonne mit den Radujew-Leuten, Geiseln und Vertretern der lokalen Behörden in Richtung Tschetschenien ab. Präsident Boris Jelzin hat im Fernsehen erklärt: "Die tschetschenischen Banditen haben das befreundete kaukasische Volk Dagestans überfallen. Mögen sie dort selber miteinander klar kommen."
Ich hole die Kolonne bei Perwomajskoje an der Grenze zwischen Dagestan und Tschetschenien ein und schaffe es gerade noch, ein paar Bilder von der Übergabe der Geiseln an die Regierung Dagestans zu machen. In diesem Moment nehmen Hubschrauber die Buskolonne unter Beschuss. Jelzin hat sein Wort nicht gehalten. Die Terroristen und Geiseln flüchten in den Ort Perwomajskoje. Was dann passiert, ist bekannt: Die Siedlung wird fast zwei Wochen lang von russischen Truppen belagert und beschossen. Dutzende von Menschen finden den Tod. Man kann nur rätseln, weshalb ausgerechnet Radujew aus diesem Schlamassel entkommt.
Als ich vor etwa zehn Jahren begann, als Journalist aus dem Kaukasus zu berichten, wunderte ich mich immer wieder, wie weit Moskau von allem entfernt schien. In Tschetschenien floss Blut, in Tschetschenien wurde der Tod gesät, aber in der Hauptstadt stiegen Oligarchen und Banker auf und ab, zerriss sich alle Welt das Maul über Wladimir Schirinowski oder feierte die letzten Mode-Präsentationen. - Auch die Kisljar-Geschichte fiel allmählich dem Vergessen anheim, wie so vieles, was die Schlacht um den Kaukasus immer unerbittlicher werden ließ.
Vor genau einer Woche fand dieser Krieg buchstäblich vor meiner Haustür, mitten in Moskau, statt: Nicht weit von meiner Wohnung entfernt zündete eine Selbstmord-Attentäterin ihre Höllenmaschine und riss zehn Menschen in den Tod. 50 Passanten erlitten zum Teil schwere Verletzungen.
Der Schock ist noch nicht vorbei, da folgt am 1. September die Geiselnahme von Beslan - gibt es nach zwei Tagen ein apokalyptisches Ende des Dramas. Kinder fliehen in Todesangst vom Ort des Grauens, Tote liegen auf der Erde, Verletzte sterben vor dem Schultor. Die Schreckensbilder sorgen für lähmendes Entsetzen, das Gehirn weigert sich, diese Realität wahrzunehmen. Menschen rufen in Moskau einander an und fragen, was tun, als ob jemand wüsste, was zu tun ist
Man versucht, die Logik der Terroristen, die Logik der Macht und die Logik des einfachen Bürgers zu ergründen. Der Moskowski Komsomolez titelt am 3. September, dem Tag des Entsetzens, mit der Schlagzeile: "Putin und Maschadow müssen die Kinder retten. Das andere kommt später."
Doch was kommt später? Und was kommt noch?
Der verdammte Tschetschenien-Krieg, der Tausende von Menschenleben ausgelöscht hat, zwingt Millionen Russen daran zu glauben, dass diese Menschen nicht umsonst, sondern im Interesse der Einheit und staatlichen Integrität des Landes sterben mussten. Wladimir Putin ist Adressat und Auslöser dieser patriotischen Stimmung. Er hat seine erste Präsidentenwahl am 26. März 2000 klar gewonnen, weil er so nachdrücklich auf den Erhalt der Einheit Russlands und die Vernichtung der Terroristen pochte. Im Sommer 1999, nach der Sprengung mehrerer Wohnhäuser in Moskau mit Hunderten von Toten, hatte schließlich fast jeder das Gefühl, schutzlos barbarischer Gewalt ausgeliefert zu sein. Putins durch nichts zu erschütternder Vorsatz, den Terrorismus auszumerzen und "Terroristen auch auf dem Klo kalt zu machen", wie er sich umgangssprachlich ausdrückte, sicherte ihm - dem neuen Präsidenten - viel Rückhalt. Es waren diese Explosionen damals, direkt in Moskau, die bei einer Mehrheit in Russland jede Rücksicht gegenüber den Tschetschenen schwinden ließen.
Erstmals seit Jahren geistert jetzt wieder der Name des letzten Tschetschenen-Präsidenten Aslan Maschadow durch die Zeitungen. Im Westen gilt dieser Mann als moderat, als einer, mit dem der Kreml unbedingt verhandeln sollte. Ich habe ihn seinerzeit in Grosny interviewt und hegte danach keinerlei Illusionen mehr: Maschadow war ein hartgesottener Separatist.
Ob er heute noch Einfluss auf die neue Generation der Extremisten hat und bei diesen Leuten Ansehen genießt, weiß niemand. Sicher ist nur, dass der Krieg längst von Feldkommandeuren geführt wird, von denen für Moskau kein Einziger als Unterhändler in Frage kommt, schon gar nicht Shamil Bassajew, der ein halbes Jahr vor dem Radujew-Attentat in Kisljar ein Hospital in Budjonnowsk (am 14. Juni 1995) gestürmt und über tausend Geiseln genommen hatte.
Präsident Jelzin zeigte sich seinerzeit außerstande, etwas zu unternehmen, um die dramatische Lage zu entschärfen und unterzog sich stattdessen der Behandlung eines Otolaryngologen - "Jelzin hat sich hinter der Nasentrennwand versteckt", höhnte das Volk. Die gesamte Last des Geschehens wurde auf den damaligen Premierminister Viktor Tschernomyrdin abgewälzt, der eine seltsame Mixtur aus mangelnder Bildung und - objektiv gesehen - außergewöhnlichen Eigenschaften war. Dieser notorische Apparatschik, Bürokrat und Streber legte einen erstaunlichen Mut an den Tag, nahm den Hörer ab und stellte die Frage, die ich nie vergessen werde: "Bassajew, sagen Sie, was Sie wollen?" Ein paar Stunden später zeigte das Fernsehen, wie in Budjonnowsk Mütter mit ihren Säuglingen die von den Terroristen besetzte Entbindungsstation verließen. Nur mit dieser einen Frage an Bassajew hat sich Tschernomyrdin einen Platz in der Geschichte verdient.
Natürlich schienen Verhandlungen mit dem Erpresser und Kidnapper von Budjonnowsk seinerzeit für Tschernomyrdin nicht übermäßig kompliziert. Der Krieg war noch nicht so grausam wie jetzt, man sprach eher von einer Militäroperation, die seit Ende 1994 dazu führen sollte, "die verfassungsmäßige Ordnung im Kaukasus wiederherzustellen".
Heute befindet sich Wladimir Putin in einer gänzlich anderen Situation, auch wenn es heißt, er habe gegenüber dem Terrorkommando von Beslan Konzessionen machen wollen. Er steht mitten im Krieg, was Verteidigungsminister Sergej Iwanow am Tag der Geiselnahme in aller Verzweiflung zum ersten Mal zugegeben hat. Ein Krieg, in dem die Armee machtlos ist, weil es keinen realen Gegner und keine klaren Fronten gibt - weil nicht vorhersehbar ist, was geschieht. Flugzeuge explodieren in der Luft, ein Theater in Moskau wird gestürmt, eine Schule in Beslan wird überfallen, besetzt, gesprengt - und Hunderte von Kindern überleben das nicht.
Die Terroristen sind zu allem bereit - gilt das auch für die Macht in Russland?
* Boris Kaimakow ist Korrespondent und Kommentator der Agentur RIA Nowosti.
Aus: Freitag 38, 10. September 2004
Von Sabine Kebir
Das monatelang vorbereitete Abschlachten Hunderter Kinder in der Schule von Beslan, die in Uniformen staatlicher Ordnungskräfte begonnene Aktion selbst - das alles trägt die Handschrift jenes nebulösen Netzwerks, das wir mangels genauerer Information al-Qaida nennen. Es ist nicht wahr, dass die Tat singulär wäre. Mitte der neunziger Jahre haben ähnliche Terrorgruppen in Algerien - oft ebenfalls in der Uniform von Ordnungskräften - Hunderte von Schulen überfallen und Lehrer und Kinder öffentlich gefoltert und getötet. Hintergrund war, dass die Bevölkerung den von der Guerilla verordneten Schulstreik nicht befolgte. Die Kinder sollten nicht mehr zum Lernen geschickt werden bis der Schleier für Mädchen und Lehrerinnen durchgesetzt und der Musik- und Französischunterricht für alle abgeschafft sein würde. 600 Schulen, vorwiegend in ländlichen Gebieten, gingen in Flammen auf.
Damals war freilich kein Kameraauge einer interessierten Weltöffentlichkeit dabei. Auch schien es sich um einen Konflikt zwischen bestenfalls halb zivilisierten Muslimen zu handeln. Andere Beobachter - selbst Menschenrechtsorganisationen - hielten die islamistische Guerilla für eine durch den Wahlsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) 1991 legitimierte Widerstandskraft im Sinne von Kants Notrecht. Der Philosoph hatte es einst für den Fall reflektiert, dass eine im Höchstmaße despotisch handelnde Regierung die Souveränität des Volkes fortdauernd missachtet. Da es nach Kant jedoch keine Not geben konnte, die Unrecht - zum Beispiel Schaden für Unschuldige - rechtfertigt, gab es in seinen Augen keine positivrechtliche Definition solcher Gewalt.
Das Urteil über die algerische Gewaltszenerie hat sich nach dem 11. September 2001 geändert. Wäre dies nicht nur stillschweigend geschehen, hätte man aus diesen Erfahrungen lernen können. Durch die Eskalation des Terrorismus insgesamt - Bushs und Sharons Staatsterrorismus inbegriffen - fällt es nun um so schwerer, Gewalttaten nichtstaatlicher Milizen zu beurteilen.
Manche Kommentatoren versuchen, Putins Tschetschenien-Krieg mit Bushs Krieg im Irak auf eine Stufe zu stellen. Hier wird die offenkundige Sinnlosigkeit eines neokolonialen Projekts mit Russlands kolonialer Vergangenheit gleichgesetzt, die von der Sowjetunion angeblich ungebrochen fortgesetzt worden sei. Allerdings ist der Irak kein völkerrechtlich anerkannter Teil der USA, gegen dessen Abspaltung die sich zur Wehr setzen müssten. Zweitens ist der angebliche Kolonialismus der Sowjetunion zwar zu diskutieren, aber weder im Hinblick auf Ausplünderung und Menschenrechte noch Entwicklungspolitik mit dem alten Kolonialismus Englands, Frankreichs und Portugals vergleichbar. Selbst die Deportation der Tschetschenen im Zweiten Weltkrieg muss nicht nur Stalin, sondern zunächst einmal Hitler angelastet werden. Die Deportation von Bevölkerungsteilen, die einer angegriffenen Nation in den Rücken fallen könnten, war auch in Demokratien üblich. So ließen etwa die USA nach dem Angriff auf Pearl Harbor 1941 sofort Tausende an der Westküste lebende Japaner bis Kriegsende internieren.
Seit dem Zweiten Weltkrieg verfolgte die UNO eine Politik, wonach die durch Gewalt oder auf friedlichem Wege erreichte Unabhängigkeit der alten Kolonien sanktioniert wurde. Dahinter stand ein Denken, das sich auf die von Kant und Hegel, Fanon und Sartre entwickelten Konzeptionen des Not- und Widerstandsrechts bezog. Um große Flächenbrände zu vermeiden, galt zugleich das Prinzip, dass alle bestehenden Grenzen, Staatsgebilde und Föderationen auch im Konfliktfall erhalten bleiben sollten. Die Zerstörung dieses, ein halbes Jahrhundert lang bewährten Prinzips des Völkerrechts - an der die bundesdeutsche Außenpolitik (siehe Jugoslawien) stark beteiligt war - hat die Welt wesentlich unsicherer gemacht. Bestärkt wurde dadurch auch die neoliberale Auffassung, dass Souveränitätsrechte im Namen einer schwammig definierten "Freiheit" einfach niedergerissen gehören. Das bedeutet in der Praxis, dass jeder, der die nötigen Mittel hat - so auch Osama bin Laden - jedweden Landstrich einfach in Besitz nehmen kann. Die Mittel heißen: Wirtschaftsmacht und - wo diese allein nicht zum Zuge kommt - Waffengewalt. Osama bin Laden ist einer der konkurrierenden neoliberalen Tiger dieser Welt. Er trägt nur keine Maske.
Seltsamerweise wird jetzt entgegen den im Irak gemachten Erfahrungen die Internationalisierung des Tschetschenienkonflikts gefordert. Angeblich könne die Europäische Union dabei eine wichtige Rolle spielen. Hier ist jene Lobby am Werk, die für eine robuste Aufrüstung der EU zur globalen Interventionsmacht plädiert. Deren Nutzen ist, wie Afghanistan zeigt, längst nicht erwiesen. Die dort geplanten Wahlen werden nicht weniger eine Farce sein als die gerade in Tschetschenien abgehaltenen. Die westliche Militärpräsenz am Hindukusch hat bislang nur erreicht, Hamid Karzais Macht in Kabul zu sichern. Warum also sollte ihn eine Bevölkerung in weit entfernten Regionen wählen, die in der Regel tut, was die lokalen Feudalherren - nach westlichem Jargon "Stammesführer" - von ihr verlangen?
Die algerische Erfahrung zeigt, dass in Gebieten, in denen staatliche Ordnungskräfte und Privatmilizen um die Macht kämpfen, die Bevölkerung nur unter Lebensgefahr Wahlbüros aufsuchen kann.
Viele im Westen haben inzwischen begriffen, dass es sich vorerst erledigt hat, hinter Leuten wie den Attentätern von Beslan noch länger eine unterstützenswerte Befreiungsfront zu vermuten. Auf das, was derartige Kräfte wie auch al-Qaida zu verantworten haben, kann die Formel von Kants Notrecht nicht zutreffen. Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass al-Qaida daran aktiv beteiligt ist, muss dem Widerstand im Irak allerdings das Recht zugestanden werden, die Souveränität des Landes zu verteidigen.
Europa sollte nun dem tschetschenischen Volk und Russland gleichermaßen helfen, den Konflikt zu lösen, sowohl in geheimer als auch in offener Diplomatie. Auch müsste endlich der Hintergedanke aufgegeben werden, dass letztlich alles gut ist, was Russland schwächt. Zunächst wäre zu hoffen, dass von einem Programm der tschetschenischen Autonomie (oder Unabhängigkeit) nicht nur geredet, sondern dies von legitimierten Vertretern der Tschetschenen einer internationalen Öffentlichkeit auch vorgestellt wird.
*Aus: Freitag 38, 10. September 2004
Bush und Putin haben viel gemeinsam: den Glauben an ihre Größe, das Wissen um einen Feind, gegen den nur Härte hilft – und die Sturheit, nicht zu sehen, dass sie falsch liegen.
Von Wolfgang Machreich
E s sei eine Eigenschaft großer Männer, hat der spanische Jesuit Balthasar Gracian im 17. Jahrhundert geschrieben, sich großen Männern nahe zu fühlen: „Hierin liegt ein Wunder der Natur, sowohl wegen des Geheimnisvollen darin als auch wegen des Nützlichen.“
Dieses nützliche Wunder war zwischen George W. Bush und Wladimir Putin immer wieder und so auch jetzt während des Geiseldramas von Beslan zu bestaunen. Beide wissen sich zu den ganz Großen gehörig: „Ich bin kein Historiker, ich bin der Typ, der Geschichte schreibt“, hat Bush kürzlich einem Reporter des Nachrichtenmagazins Time verraten. Und in Putins offizieller Biographie werden Prophezeihungen von Nostradamus als versteckte Hinweise auf die Regierungszeit des russischen Präsidenten gedeutet.
Soweit zur Größe; dass beide sich nahe sind, zeigen Bushs Gästebucheintragungen in Putins Datscha und Putins Gegenbesuche auf Bushs Ranch. Und worin besteht die Nützlichkeit dieser Männerfreundschaft? Beide sind sich absolut einig darin, wer der Feind ist: der internationale Terrorismus. Und beide sind sich einig, wie darauf zu reagieren ist: „Wenn Amerika in diesem Jahrzehnt Unentschlossenheit und Schwäche zeigt, wird die Welt in eine Tragödie abgleiten“, sagt Bush. Wir haben Schwäche gezeigt, und Schwache werden geschlagen“, sagt Putin.
Dass das erste Zitat inmitten Tausender Zustimmung klatschender Bush-Wähler auf dem republikanischen Parteikonvent gefallen ist, und Putin seine Worte angesichts einer traumatisierten Nation, angesichts Tausender trauernder Frauen und Männer in Beslan wählte, spielt keine Rolle: Härte zeigen passt immer, passt überall.
So wie die Lüge passt – in Washington und in Moskau: „Ständig lügt man uns an. Die letzten fünf Terroranschläge sind eine unaufhörliche Lügenchronik“, klagte die Zeitung Moskowski Komsomolez. Und die Zeitung Iswestija schrieb sogar von einer „nationalen Schande“, weil westliche Sender direkt vom Ort der Geiselnahme berichteten, während das russische Staatsfernsehen die informationshungrigen Zuschauer mit Romantik- und Abenteuerfilmen abspeiste. Kein Wunder, dass nach all der Mischung aus wahren, halb wahren und erdachten Informationen Russen und Welt jener Meldung wenig Glauben schenken, wonach Putin „zu beispiellosen Zugeständnissen an die Terroristen“ bereit gewesen wäre: zwar nicht der russische Abzug aus Tschetschenien, wohl aber die von den Geiselnehmern geforderte Freilassung inhaftierter tschetschenischer Rebellen.
Zugeständnisse an Terroristen? – Das will nicht zu Wladimir Putin passen, der sich in seiner Amtszeit stets als konsequenter Bestrafer gezeigt hat. Aber wen bestrafen? Tschetschenien noch mehr als bisher mit marodierenden russischen Truppen überziehen? George W. Bush hat es da leichter gehabt: Er konnte noch zwei Kriege als Vergeltungsschläge tarnen. Bei einem neuerlichen Terrorangriff würde aber auch er sich schwer tun – wen dann bestrafen, gegen wen dann in den Krieg ziehen?
Zunächst herrscht einmal große Ratlosigkeit, was in Tschetschenien jetzt geschehen soll – auch international und auch bei Putin-Kritikern. Mit wem verhandeln? Wer hat den Willen und die Macht, einen Ausweg aus diesem kaukasischen Teufelskreis zu finden? Wie bei Bushs Anti-Terror-Krieg lässt sich auch hier leichter Einigkeit darüber herstellen, dass alles besser ist als Putins Härte-Demonstrationen, die nicht als Zeichen von Stärke missverstanden werden dürfen.
Warum aber nicht Putin so wie Bush beim Wort nehmen? Wenn die zwei den internationalen Terror als Feind erkannt haben, dann ist es legitim, international gegen diesen Feind vorzugehen. Wenn die Geiselnahme in Beslan und die in einem Moskauer Theater vor zwei Jahren und die Flugzeugabstürze der letzten Wochen Angriffe des internationalen Terrors waren, dann ist der Tschetschenien-Konflikt keine innere Angelegenheit mehr, wie Moskau bei jeder Kritik an seinem Vorgehen betont. Dann darf Russland internationale Organisationen nicht mehr aus Tschetschenien hinauszwingen, sondern muss deren Hilfe suchen. Putin muss sich entscheiden: Stärke statt Härte zeigen. Leider spricht viel dafür, dass er für so ein Zeichen der Stärke zu schwach ist.
Aus: Die Furche (Wien), 10. September 2004
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