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Dem Attentat folgt der Politpoker

Tschetscheniens Präsident Kadyrow sieht die Untergrundkämpfer in "letzten Zuckungen"

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Sieben Tote - darunter vier Polizeibeamte - forderte der Anschlag eines Selbstmordattentäters in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny am Sonntagabend (26. Juli).

Es hätten sehr viel mehr Opfer werden können, wäre es dem Terroristen gelungen, die Kontrollen vor dem Konzertsaal zu passieren, in dem sich etwa 800 Zuschauer befanden. Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow sprach dennoch von »letzten Zuckungen« der Untergrundkämpfer.

Ähnlich sehen das russische Medien. Sie machten am Montag (27. Juli) mit einer Meldung auf, wonach die Führung der Separatisten den bewaffneten Widerstand auf dem Territorium Tschetscheniens per 1. August einstellen will.

Einer der Rebellenführer bestätigte dies am selben Tag gegenüber der in Moskau erscheinenden Tageszeitung »Kommersant«. Er, so Ahmed Sakajew, der in London lebende Chef der tschetschenischen Untergrundregierung, habe vergangene Woche in Oslo mit Dukwacha Abdurachmanow, dem Chef des moskautreuen tschetschenischen Parlaments, über die Einstellung der Kampfhandlungen und einen friedlichen Dialog verhandelt. Gleich danach habe er das Untergrundparlament auf dessen Tagung in Berlin darüber informiert und das Mandat erhalten, die Konsultationen in London fortzuführen.

»Endlich«, so zitierte »Kommersant« Sakajew, »hat ein Prozess begonnen, der, wie ich hoffe, zur lang ersehnten politischen Stabilität in Tschetschenien führt.«

Über Sakajews Verhandlungen mit Emissären von Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow hatten russische Medien erstmals am Freitag berichtet. Demzufolge ging die Initiative dazu von Kadyrow aus, der Sakajew angeblich auch die Rückkehr und ein hohes Amt in der Regierung der Republik angeboten hat. Letzteres dementierte Sakajew bei »Kommersant« jedoch. Bei einem Telefonat mit Radio »Echo Moskwy« wollte er eine Rückkehr jedoch nicht gänzlich ausschließen. Gegenwärtig droht ihm in Russland ein Verfahren wegen Extremismus. Die über Interpol weltweit ausgeschriebene Fahndung nach Sakajew, sagte ein Vertreter der Staatsanwaltschaft in Moskau, sei nicht aufgehoben.

Das indes halten hiesige Experten für eine bloße Zeitfrage. Der ehemalige Schauspieler und Kulturminister der Separatisten, der die Terroranschläge des radikalen Flügels stets verurteilte, ist der einzige Rebellenführer von Rang mit gutem Ruf. Auch im Westen. Sein Frontenwechsel hätte daher hohen Symbolwert. Umso fraglicher ist der Nutzwert.

Mitte der Neunziger im ersten Tschetschenienkrieg hatte der säkulare, nationale Flügel - ihm gehörten damals neben Sakajew auch Ramsan Kadyrow und dessen Vater Ahmad an - das Sagen bei den Separatisten. Schon vor Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges 1999 hatten jedoch islamische Fundamentalisten die Führung an sich gerissen. Für die Kadyrows war das bereits damals ein guter Grund, sich mit Moskau zu arrangieren. Das aber verringert die ohnehin geringen Chancen Ramsans, »unversöhnliche« Feldkommandeure wie Doku Umarow - gegenwärtig Chef der Separatisten und Emir eines imaginären nordkaukasischen Gottesstaates - zur Kapitulation zu bewegen.

Ein Übertritt Sakajews, der über keine eigene Hausmacht mehr verfügt, ändert die Mehrheitsverhältnisse nicht.

* Aus: Neues Deutschland, 28. Juli 2009


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