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"Russland ist groß, und der Zar ist weit"

Karl Grobe über das "System Putin" und den russischen Krieg gegen das tschetschenische Volk

Der im Untergrund lebende Präsident Tschetscheniens, Aslan Maschadow, hat sich Ende September 2004 in einer Botschaft vom Terroranschlag von Beslan distanziert und gefordert, dass "nach Kriegsende" ein internationales Tribunal über die Verbrechen beider Seiten des Bürgerkriegs zu Gericht sitzen sollten. Die Erklärung zeugt davon, dass die bisher vorgenommenen einseitigen Schuldzuweisungen in diesem Konflikt nicht viel weiter führen. Tschetschenien ist auch nicht mit dem Totschlagargument des "Terrorismus" beizukommen. Der Bürgerkrieg lebt auch von der verfehlten und grausamen Politik Moskaus.

Karl Grobe analysiert in einem Kommentar, den er für die Frankfurter Rundschau verfasste und den wir im Folgenden dokumentieren, das "System Putin" und fördert interessante Parallelen zur Bush-Politik zutage. Weiter unten dokumentieren wir außerdem einen Bericht über die erwähnte Erklärung von Maschdow, der ebenfalls in der Frankfurter Rundschau erschien (Verfasser: Karl Grobe).


Das System Putin

Von Karl Grobe

Einen anderen Präsidenten als Wladimir Putin hat Russland nicht, und auch kein anderes Parlament als die Duma, deren Zweidrittelmehrheit ihm vorauseilend gehorcht. Die macht sich nun daran, den Bürgerrechten Handschellen anzulegen. Sie will die Bewegungsfreiheit der Bürger von polizeilicher Registrierung abhängig machen, also weitgehend aufheben. Das ohnehin restriktive Mediengesetz verschärft sie weiter. Und den präsidialen Plänen, die politische Ordnung der Russländischen Föderation umzustülpen, wird sie nicht widersprechen.

Die Verfassung von 1993, zu deren Verteidigung die ehemaligen Präsidenten Michail Gorbatschow und Boris Jelzin vor einigen Tagen aufgerufen haben, wird auf einen anderen Inhalt getrimmt. Auf das starke Präsidentenamt war sie ohnehin ausgerichtet; nun verlieren die in ihr festgeschriebene Gewaltenteilung und die zu ihrer Wahrung bestimmten Institutionen allmählich ihre Wirkungskraft und ihren Sinn.

Diesen Prozess kann man als schleichenden Staatsstreich begreifen. Putin, der Urheber, mag Anregungen dafür in der einschlägigen Gesetzgebung der USA ("Patriot Act") gefunden haben, wie er auch der Washingtoner Doktrin vom Präventivkrieg fast aufs Wort folgt.

Über die militärische Macht, wie die USA entfernte Staaten mit Krieg zu überziehen, verfügt Russland freilich nicht. Die Lektionen von Afghanistan und Tschetschenien sind der russischen Generalität nicht entgangen. Zur vorsorglichen Legitimierung, vermeintliche tschetschenische Terroristen und womöglich andere missliebige Exilanten auch jenseits der Grenzen Russlands zu "neutralisieren", ist das Präventiv-Argument aber allemal geeignet.

Putin begründet die Umwandlung der demokratischen Instanzen in präsidiale Instrumente denn auch ausdrücklich mit der Notwendigkeit, den Terrorismus zu bekämpfen. Es ist aber nicht ersichtlich, wie die Gängelung der Provinzen durch ernannte statt gewählte Gouverneure, die Beseitigung parlamentarischer Direktmandate oder etwa die Zähmung von Nichtregierungsorganisationen mittels Steuerrecht antiterroristische Wirkung haben können.

Das Terror-Syndrom ist ein Aspekt der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die sich gegenwärtig in Russland beschleunigt abspielen, und gewiss auch ein sie verstärkender Faktor. Die Wandlungen reichen weit. Zunehmende Fremdenfeindlichkeit ist ein erster Hinweis. Razzien gegen Ausländer - die aus früheren Sowjetrepubliken stammen - werden beifällig hingenommen, Ausschreitungen gegen "Kaukasier" keineswegs einhellig missbilligt.

Verschwörungstheorien kommen auf. Putin selbst hat ihnen mit dem unbelegten Satz, fremde Mächte nutzten den Terrorismus, um Russland klein zu halten, einige Nahrung gegeben. Abstruse Ideologen, die russische oder eurasische Sonderwege abseits der demokratischen Pfade proklamieren, kommen davon, ohne dass ihnen die Narrenkappe aufgesetzt wird. Rechtsextreme Gruppen, die sonderbare Allianzen mit altstalinistischen Rest-Verbänden eingehen, verbreiten ohne sonderlichen Widerspruch aggressiven Antisemitismus. Bürgerbewegungen, zumal ökologische und demokratische, werden als heimliche oder offene Handlanger des Auslands diskriminiert.

Eine offene, selbstbewusste, demokratische Gesellschaft könnte mit den Exzessen ideologisch verklemmter Randgruppen politisch umgehen, wenngleich nicht immer ohne Mühe. Russlands Gesellschaft kommt der demokratische Konsens jedoch abhanden, ohne dass sie einen anderen findet.

Es sei denn, der Konsens bestünde in der Putin-Ordnung. Doch auch das ist kaum der Fall, "Russland ist groß, und der Zar ist weit". Die Nichtteilnahme an Wahlen, die Abkehr von politischen Aktivitäten ist zur Massenbewegung geworden. Die Gesellschaft verlässt den Staat.

Die neue herrschende Klasse, die aus geheimdienstlichen und militärischen Gehorsamsstrukturen hervorgeht und willige Bürokraten, Oligarchen und Funktionäre an sich bindet, steht über dem Volk. Sie betrachtet es als Objekt ihres Willens, sie ist ihm keine Rechenschaft schuldig. Sie dehnt die autokratische Macht auf die Konzerne aus, so dass korrigierender Widerspruch einer bürgerlich-kapitalistischen Klasse ebenso erstickt wird wie der von ganz unten. In der früheren Theorie hieß das: Bonapartismus. Der Name Putins anstelle jenes des Korsen wäre dafür freilich angemessener. Der Putinismus stammt nicht aus dem 18. Jahrhundert, sondern aus der russischen Gegenwart.

Aus: Frankfurter Rundschau, 27. September 2004 (Leitartikel)

Ein Fall für ein Tribunal?

Einen Kriegsverbrecherprozess gegen den Warlord Schamil Bassajew fordert der im Untergrund lebende Präsident Tschetscheniens, Aslan Maschadow. Nach Kriegsende solle ein internationales Tribunal über Verbrechen beider Seiten zu Gericht sitzen.

Von Karl Grobe

Maschadow distanzierte sich nochmals nachdrücklich von dem Geiselverbrechen in Beslan, das er ausdrücklich als Terrorakt bezeichnete. Bassajew hatte vor einer Woche behauptet, für die Aktion verantwortlich gewesen zu sein, bei der mehr als 1500 Schulkinder und Angehörige zu Geiseln genommen und mehr als 300 - auch im Zusammenhang mit einer schlecht vorbereiteten Befreiungsaktion - getötet worden waren.

Maschadow erklärte über den Pressedienst der "Tschetschenischen Republik Itschkeria", unter Kriegsbedingungen sei es "unglücklicherweise praktisch unmöglich", die Schuldigen solcher Verbrechen vor Gericht zu stellen. Das müsse nach Kriegsende unverzüglich geschehen. Dabei nannte er Bassajew bei Namen. Als Ursache der anwachsenden Zahl der Terrorakte bezeichnete Maschadow den "russischen Völkermordkrieg gegen das tschetschenische Volk", dem 250 000 Menschen zum Opfer gefallen seien, darunter 42 000 Kinder. Ein internationales Tribunal müsse die Kriegsverbrechen beider Konfliktparteien umfassend untersuchen.

Maschadow forderte eine politische Lösung des Konflikts, die internationale Garantien gegen Völkermord biete. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte bis zur Geiselnahme in einem Moskauer Musical-Theater im Oktober 2002 indirekte Kontakte zu Maschadow gehalten. Seither bezeichnet er Maschadow öffentlich als Terroristen, mit dem nicht verhandelt werden könne. Für die Moskauer Geiselnahme hatte allerdings ebenfalls Bassajew die Verantwortung übernommen.

Während der jüngsten Geiselnahme in Beslan suchte Moskau am 3. September erneut Kontakt zu Maschadows. Der tschetschenische Politiker vereinbarte mit Putins Regionalbeauftragtem Aslanbek Aslachanow, sich als Vermittler zur Verfügung zu stellen. Bevor es dazu kommen konnte, eskalierte die Situation in der Schule aber.

In der tschetschenischen Hauptstadt Grosny trat am Wochenende eine Konferenz über "die Wiedergeburt nach dem Krieg" zusammen. Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Alvaro Gil-Robles, sagte als Schirmherr, die Konferenz sei "sehr fruchtbar" und werde "an höchster Stelle in Moskau" gut geheißen. Teilnehmer sind außer russischen Regime-Vertretern die Bürgerrechtsbewegung Memorial, die Helsinki-Gruppe und tschetschenische Menschenrechtsgruppen sowie die Moskauer Menschenrechts-Beauftragten Ella Pamfilowa und Wladimir Lukin. Ein Repräsentant Maschadows ist nicht dabei.

Aus: Frankfurter Rundschau, 27. September 2004


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