Prag zog die Notbremse
Keine Abstimmung im Parlament über Raketenabwehr der USA
Von Olaf Standke *
In letzter Minute hat die tschechische Regierung die für gestern angesetzte Abstimmung über die
Verträge mit Washington zur geplanten USA-Radaranlage in Mittelböhmen abgesetzt.
Ministerpräsident Mirek Topolanek hat die Notbremse gezogen. Eigentlich sollte die erste Kammer
des Prager Parlaments gestern über den Vertrag mit den USA über ein Raketenabwehrsystem
abstimmen. Washington will in Mittelböhmen eine in der Bevölkerung höchst umstrittene
Radaranlage installieren. In Polen sollen zehn Abfangraketen stationiert werden. Laut Umfragen
lehnen zwei Drittel der tschechischen Bürger das Vorhaben ab. Trotzdem hat der Senat, das Prager
Oberhaus, dem Projekt zugestimmt, nachdem im vergangenen Juli die bilateralen Verträge
unterzeichnet worden sind.
Im Abgeordnetenhaus ist die Sitzverteilung für das von der konservativen ODS geführte
Regierungsbündnis weitaus ungünstiger, und in diesen Tagen fehlt sogar eine ausreichende
Mehrheit – drei Minister halten sich in EU-Angelegenheiten in Brüssel auf, zwei
Koalitionsabgeordnete liegen im Krankenhaus. So witterten die oppositionellen Sozialdemokraten
(CSSD) und Kommunisten, die die Militarisierungspläne strikt ablehnen, ihre Chance und drückten
das Votum trotz eines »Gentlemen-Agreements« im Unterhaus auf die Tagesordnung. Oft werden
angesichts des dortigen Stimmenpatts fehlende Abgeordnete des eines Lagers durch freiwillige
Abwesenheit auf der anderen Seite kompensiert. Nicht so in dieser Frage, die Parteien und Bürger
so tief spaltet. Der CSSD-Vorsitzende Jiri Paroubek nannte die Entscheidung der Koalition, die
Verträge in letzter Minute zurückzuziehen, »feige«.
Wie Regierungschef Topolanek betont, verzichte man damit aber nicht auf das Radar. Die bereits
erfolgte Ratifizierung der tschechisch-amerikanischen Verträge im Senat bleibe gültig. Ein neuer
Abstimmungstermin könnte nun für die Zeit nach dem NATO-Jubiläumsgipfel und dem geplanten
Obama-Besuch in Prag Anfang April angesetzt werden.
Doch das ist nicht nur von Prag abhängig. Topolanek zeigte sich jetzt in einem Interview mit dem
privaten Fernsehsender »Prima« zwar überzeugt, dass auch der neue Präsident Barack Obama
hinter dem Projekt eines Raketenabwehrschilds in Mitteleuropa stehe. Höchstens seien vor dem
Hintergrund der weltweiten Wirtschaftskrise Verzögerungen möglich. Aber ausgemacht ist diese
USA-Position nicht. Neben möglichen finanziellen Erwägungen scheint die letztliche Entscheidung
vor allem vom Fortgang des Atomstreits mit Iran abzuhängen, wie man bei Außenministerin Hillary
Clinton heraushören konnte – sehr zum Missfallen ihres tschechischen Amtskollegen Karel
Schwarzenberg. Und dann ist da ja auch noch Moskau, das den Raketenschild vor der eigenen
Haustür von Anfang an als Bedrohung empfunden hat. Nach dem möglichen Ende der jüngsten
Eiszeit in den amerikanisch-russischen Beziehungen und den angekündigten
Abrüstungsgesprächen könnte auch dieses Rüstungsprojekt zur Disposition stehen – oder zu einem
gemeinsamen werden. Die »New York Times« hatte berichtet, Obama wolle auf das Vorhaben
verzichten, wenn im Gegenzug Russland dabei helfen werde, die Entwicklung von iranischen
Langstreckenraketen zu stoppen.
Schwarzenberg betont deshalb immer wieder, dass momentan zwar keine akute Gefahr bestehe,
das geplante Radar aber auch perspektivisch für den Schutz des europäischen wie des
nordamerikanischen Kontinents notwendig sei. So gewann man zuletzt den Eindruck, es seien jetzt
die Tschechen, die den US-Amerikanern das US-amerikanische Radar schmackhaft machen.
* Aus: Neues Deutschland, 19. März 2009
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