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Tadschikistan: Der schnelle gesellschaftliche Abstieg der Frauen

Die verlorene Emanzipation

Von Judith Huber

Den nachfolgenden Artikel, den wir hier gekürzt dokumentieren, haben wir in der Schweizer Wochenzeitung WoZ gefunden. Er handelt von der Stellung der Frau in einer Gesellschaft, die sich seit dem Ende der Sowjetunion rasant entwickelt hat - nicht immer zum Guten.


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Frunse, Distrikt Kolchosabad, Tadschikistan. Das Dorf im Süden des zentralasiatischen Landes macht einen desolaten Eindruck. Der Sitz der lokalen Verwaltung, wo die Frauengruppe ihre Sitzungen abhalten muss, ist kaum geeignet, diesen Eindruck zu verbessern: Es ist ein billig gebautes und schnell gealtertes Betongebäude mit einem Platz davor, der diese Bezeichnung kaum mehr verdient. Zwischen zerbrochenen Betonplatten wuchert hüfthohes Unkraut, aus dessen Mitte ein Lenindenkmal ragt. Im Inneren des zweistöckigen Gebäudes sieht es nicht besser aus – das wenige noch vorhandene Mobiliar ist zerbrochen. Die Frauen müssen mit kaputten alten Schulbänken vorlieb nehmen – sie dürfen sich für den von der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) organisierten und der Schweizer Deza (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) finanzierten Kurs über Hygiene und Schwangerschaftsverhütung nicht in einem Privathaus treffen. Eine Kochgelegenheit gibt es nicht; den Tee müssen sie mitbringen. ...

Schachri ist Kolchosnitsa, Kolchosarbeiterin. Die lernbegierige Sechzehnjährige wäre gerne Ärztin geworden, doch nach der achten Klasse wurde sie aus der Schule genommen. Es sei nicht so sehr ihre Familie als vielmehr der Nachbar gewesen, der darauf bestanden habe, dass es sich für ein Mädchen nicht gehöre, länger zur Schule zu gehen, erzählt sie. Andere Mädchen können nicht einmal mehr die Grundschule besuchen. Das hat mehrere Gründe. Seit dem Bürgerkrieg (1992–1997) haben viele Eltern Angst um die Sicherheit ihrer Töchter und lassen sie nicht aus dem Haus – oder sie haben weder Zeit noch die Möglichkeit, sie in die Schule zu begleiten. Vielfach dient die «Sicherheit» der Mädchen wohl einfach auch als Vorwand. Mädchen werden nicht unbeaufsichtigt aus dem Haus gelassen, weil dies Gerüchte «provozieren» würde. Ausserdem wird auf den Feldern jede Arbeitskraft benötigt: Im Gegensatz zu früher sind kaum noch Maschinen und Dünger vorhanden, was bedeutet, dass die Landwirtschaft viel arbeitsintensiver geworden ist. Und wer eignet sich besser für die Arbeit auf dem Feld als junge Frauen und Mädchen? Viele arme Familien können sich die Schule – also auch Schulmaterial und anständige Kleidung – nicht für alle ihre Kinder leisten. Dass die Eltern dabei den Knaben den Vortritt lassen, versteht sich von selbst. Denn die Investition in den Sohn, der später berufliche Karriere machen kann, lohnt sich, da er dieses Geld später vielleicht einmal der Familie «zurückgibt». Geld in die Ausbildung eines Mädchens zu stecken, dem heutzutage beinahe jegliches berufliche Fortkommen verwehrt ist und das so oder so heiratet, wäre sinnlos. ...

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag die Zahl der Analphabetinnen in Zentralasien bei fast hundert Prozent. Nach der Revolution machten die Sowjets die Alphabetisierung der gesamten Bevölkerung, auch der Frauen, zu einer ihrer Prioritäten. In Zelten, Eisenbahnwaggons, Fabriken, an jedem möglichen und unmöglichen Ort wurden Abc-Kurse abgehalten. Anfang der dreissiger Jahre wurde die Schulpflicht für Mädchen und Knaben eingeführt. Zehn Jahre später begann sich der Anteil der Frauen im tertiären Sektor langsam zu erhöhen; bevorzugte Berufsgebiete der gebildeten Frauen waren Recht, Medizin oder Pädagogik. Allerdings blieb der Anteil der Frauen mit höherer Bildung in den zentralasiatischen Republiken immer geringer als in anderen Sowjetrepubliken; die Tendenz, früh zu heiraten, liess sich nicht verändern. Obwohl die Frauen im usbekischen und tadschikischen Raum, die sich bis zur sowjetischen Machtübernahme ausser Haus nur tief verschleiert gezeigt hatten, während der Sowjetzeit eine grosse Präsenz im öffentlichen Leben – in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kunst und auch Sport – erlangten, gelang es nicht, auch die Privatsphäre der zentralasiatischen Frauen zu verändern. Das Leben in der Familie und der Dorfgemeinschaft blieb allen emanzipatorischen Versuchen von aussen gegenüber erstaunlich resistent.

... Die Situation der Frau habe sich seit Ende der Sowjetunion enorm verändert, sagt die tadschikische Soziologin Saodat Olimowa. Es habe grosse Rückschritte gegeben. Olimowa wehrt sich aber dagegen, die emanzipatorischen Errungenschaften der Sowjetzeit nur positiv zu werten. Für die Sowjets seien die Frauen Manipuliermasse gewesen und hätten zum Erreichen der Ziele des Staates gedient. Frauen mussten das Haus verlassen können, um auf Baumwollfeldern und in Fabriken zu arbeiten – sonst wären die ehrgeizigen Fünfjahrespläne nicht erreicht worden. Im Kampf gegen die Religion wurden die Frauen an vorderster Front eingesetzt: Sie galten als die am stärksten von der Religion Unterdrückten. Und für eine Erziehung im Sinne des sozialistischen Ideals war es notwendig, dass die Mädchen die Schule besuchten und die Frauen ausserhalb des eigenen Heims arbeiteten. «Als sich der Staat in Nichts auflöste, wurden die Frauen nicht mehr benötigt», sagt Olimowa. Neue, wertkonservative Ideologien traten im Kampf um Macht und eine neue Staatsform nach dem plötzlichen Zusammenbruch der Sowjetunion in den Vordergrund. «Aus der Politik wurden die Frauen sofort hinausgeworfen. Auf dem Arbeitsmarkt verloren sie die Unterstützung des Staates und wurden als Erste entlassen», sagt die Soziologin. ...

Eine bereits drei Jahre anhaltende Dürre, die Nachwirkungen des Bürgerkrieges und die Isolation des Landes setzen der Wirtschaft Tadschikistans schwer zu. Die zentralasiatische Republik, die bis 1991 die Hälfte des Haushaltsbudgets direkt aus Moskau erhielt, hat den Zusammenbruch des zentralisierten Wirtschaftsraumes Sowjetunion noch nicht verkraftet. Arbeitslosigkeit und Armut sind enorm hoch. Nach offiziellen Schätzungen leben rund eine Million Tadschiken – bei einer Bevölkerung von sechs Millionen in Tadschikistan – als Fremdarbeiter im Ausland, zumeist in Russland. Es gibt ganze Dörfer in Tadschikistan, in denen kaum mehr Männer leben. Das hat grosse Auswirkungen auf die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft: Die Frauen werden wieder zu wichtigen wirtschaftlichen Akteurinnen. Sie pflügen, säen, ernten und verkaufen das selbst Produzierte auf dem Markt. Das bedeutet neben der gestiegenen Bedeutung als Ernährerin auch eine grössere Eigenständigkeit. In einer Grossfamilie, zu der mehrere Dutzend Menschen gehören können, versucht jedoch der übrig gebliebene Schwager, Onkel oder Bruder, weiterhin über die Frauen zu bestimmen und die angestammte Rolle als Vermittler zur Aussenwelt zu spielen. «Die stark aufgewertete Rolle der Frauen führt zu ernsthaften Konflikten», sagt Olimowa. Die Männer versuchten, ihre schwindende Macht zu behalten. So entstünden Situationen wie im Karategin-Tal nördlich der Hauptstadt oder im Gebiet von Kurghon-Teppa im Süden; dort ist den Frauen, die voll unter Aufsicht eines männlichen Familienmitgliedes stehen, verboten, ihre Häuser zu verlassen und auf den Markt zu gehen. In anderen Gebieten, vor allem in Städten und grösseren Siedlungen, begannen Frauen, Geschäfte zu machen. Sie betätigen sich vor allem als Zwischenhändlerinnen, verkaufen Lebensmittel oder Kleider. So hat sich eine kleine Gruppe von «Businessfrauen» gebildet. Der Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen werde gar von den Frauen dominiert, so Olimowa. Doch: «Es gibt eine gewisse Schwelle, die zu überschreiten ihnen die Männer nicht erlauben.»

... Die Arbeitsmigration hat aber noch andere Auswirkungen auf die Familien: Viele der zurückgebliebenen Frauen wollen nicht allein bleiben und lassen sich auf eine neue Ehe mit einem der wenigen zurückgebliebenen Männer ein. Sie müssen sich aber mit der Rolle der zweiten oder dritten Frau begnügen. Die Polygamie, in der Sowjetzeit offiziell verboten und nur selten anzutreffen, hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen; dies nicht zuletzt durch die Ablösung der alten Elite durch die Leute um Präsident Emomali Rachmonow, die aus einer bäuerlichen Schicht stammen. Mehrere Frauen zu haben, sei ein Symbol der Macht und des Wohlstands. «Neureiche Russen tragen Golduhren und fahren einen Mercedes. Neureiche Tadschiken haben mehrere Frauen», sagt Olimowa. Das grosse Problem bei der Polygamie sei, dass die Nebenfrauen und ihre Kinder weniger Rechte hätten als die Erstfrau. Von eigenem Besitz oder Alimenten kann nicht die Rede sein. Über ihren Ruf müssen die Nebenfrauen ängstlich wachen, sonst erwartet sie die Scheidung. Kinder können ihre Rechte nur einfordern, wenn sie registriert sind; und die Registrierung kostet Geld. Ausserdem gelte das sowjetische Eherecht nicht mehr, und nur noch wenige Paare liessen sich auf dem Standesamt trauen, sagt Olimowa. Viele bevorzugten den Mullah, den islamischen Geistlichen. Doch das islamische Recht sei noch nicht in voller Funktion. «Wir haben ein Rechtsvakuum. Und das geht vor allem auf Kosten der Frau.»

... Das grösste Problem der Frauen aus dem Dorf Frunse, das ist schnell klar, ist die Armut. Und das wird sich nicht so schnell ändern. Letztes Jahr startete die Regierung ein Stipendienprogramm, das einigen jungen Frauen aus dem Distrikt Kolchosabad ein Studium ermöglicht hätte. Aber kein einziges Mädchen aus dem Dorf Frunse konnte davon profitieren: Die Eltern lehnten von vornherein ab, da sie sich ausserstande sahen, für die Kleidung und die Ernährung ihrer Töchter in der fernen Stadt aufzukommen.

Aus: WoZ, 7. März 2002


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