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Eingestürzte Dächer, verbrannte Wände

Um die syrische Hauptstadt Damaskus haben Armee und Bewaffnete Waffenstillstände ausgehandelt. Die Lage hat sich beruhigt, Kriegszerstörungen sind aber überall spürbar

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Freitag vergangener Woche in Damaskus. Der Muezzin, der die Gläubigen zum Gebet gerufen hatte, ist verstummt. Auf der Bagdadstraße nahe des palästinensischen Friedhofes stauen sich die Autos in Dreierreihen vor einem Kontrollpunkt, den nur je zwei Fahrzeuge passieren können. Ein alter Mann sitzt erschöpft auf der Mauer des Friedhofs, dessen großes Eisentor geschlossen ist. Die Hemdsärmel unter seinem Jackett hat er aufgekrempelt, die Unterarme sind auf die Knie gestützt, über denen schlaff seine Hände herunterhängen. Der Kopf des Mannes ist vornüber auf die Brust gekippt, der Schlaf scheint ihn übermannt zu haben.

Vor dem Kontrollpunkt geht es langsam voran, nach Reißverschlußprinzip. Die Fahrer und männliche Insassen zeigen ihre Ausweise vor, dann gehen die Soldaten zum Kofferraum, den sie auf verdächtige Gegenstände durchsuchen. Wenn die Klappe wieder herunterfällt, klopfen sie zweimal kurz auf das Fahrzeug als Zeichen, daß der Wagen weiter fahren kann. Alle warten geduldig. Aus den Autoradios klingen Musik, Gebete oder Nachrichten. Letztere handeln vom Geschehen an der Front in Jabrud, wo die Armee gegen bewaffnete Gruppen kämpft. Tausende Kämpfer sollen sich in den Tälern und Höhlen der Qalamunberge im Grenzgebiet zum Libanon versteckt halten, heißt es. Unterstützt von Angriffen der Luftwaffe zieht die Armee langsam, aber stetig den Belagerungsring um die Bewaffneten zu, die hier ihren letzten Nachschubweg aus dem Libanon verteidigen. Soldaten und Kämpfer werden getötet, immer wieder sind zivile Opfer zu beklagen.

Der Krieg in Syrien geht in diesen Märztagen ins dritte Jahr. Millionen Menschen haben alles verloren, sind ins Ausland geflohen oder haben all ihr Erspartes an Schlepper bezahlt, um nach Europa zu kommen. Die Vereinten Nationen haben aufgehört, die Toten zu zählen, niemand kann verläßliche Zahlen liefern. Große Teile Syriens sind verwüstet, die industrielle Infrastruktur zerstört. Von vielen Feldern wird die Ernte nicht mehr eingebracht, weil sie sich in Kampfzonen befinden. Mensch und Natur fehlt der Frieden, und es fehlt das Wasser zum Leben: Den ganzen Winter über hat es kaum geregnet und nur wenig geschneit.

Als wisse er von alledem nichts, raucht der Taxifahrer gelassen seine Zigarette, antwortet einem Anrufer auf seinem Handy. Ab und zu nippt er an seinem Teeglas, das er in einer dafür vorgesehenen Halterung neben dem Autoradio abgestellt hat. Zwischen den Fahrspuren der wartenden Autos steht ein Mann. Anfang oder Mitte 30 mag er sein, kräftig und schwitzend steht er in der Frühlingssonne in seiner Galabija, einem langen, hellen Überkleid muslimischer Männer, das viele an Feiertagen auch in der Stadt tragen. Seine Augen sind auf die Straße gerichtet, nur ab und zu blickt er verlegen durch die Fenster in das Innere der Fahrzeuge, die langsam an ihm vorbeiziehen. Unter seine Arme hat er zwei altertümliche Krücken aus Holz geklemmt. So sind seine Hände frei, um einen kleinen Karton mit Schokoladenkeksen zu halten. Eine ältere Frau beugt sich aus dem Fenster eines Minibusses und wirft ein paar Münzen in den Karton. Aus einem Fahrzeug, das schon an ihm vorübergefahren war, springt ein Junge, läuft zurück und legt einen Schein dazu. Im Rückspiegel sieht der Taxifahrer meine Handbewegung, mit der ich die Geldbörse aus der Tasche nehme. Unmerklich nickt er mit dem Kopf und fährt per Knopfdruck die Fensterscheibe herunter, so daß auch ich einen Schein in den Karton mit den Schokoladenkeksen legen kann. Ein verschämtes Lächeln zieht über das Gesicht des Mannes, kurz blickt er auf und wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Unzählige Menschen sind in diesem Krieg innerlich und äußerlich verletzt worden. Was mag ihn in diese Lage gebracht haben?

Schritte zur Versöhnung

Seit einigen Tagen herrscht weitgehend Ruhe um Damaskus. Lokale Waffenstillstände konnten zwischen Armee und bewaffneten Gruppen ausgehandelt werden – allerdings ausschließlich mit Syrern. Voraussetzung war, daß die bewaffneten Einwohner der Vororte die ausländischen Kampfverbände aus dem Ort wiesen. Gelungen ist das nach fast zweijährigen Kämpfen auch in Moadamija. Der Ort liegt etwa acht Kilometer westlich des Zentrums von Damaskus, unmittelbar neben dem Militärflughafen von Mezzeh. Viele Leute aus allen Teilen des Landes hatten dort in den letzten 15 Jahren günstigen Wohnraum nahe von Damaskus gefunden, bis zu 30000 Menschen könnten hier zuletzt gewohnt haben. 2011 habe es in Moadamiya nächtliche Demonstrationen »von einer Moschee zur anderen« gegeben, wie ein Ehepaar berichtete, das zwölf Jahre in Moadamija gelebt hatte. Inzwischen hat es Syrien aber verlassen. Die Parolen der nächtlichen Proteste seien religiös geprägt gewesen, die Teilnehmerzahl überschaubar. Ein anderer Streitpunkt in Moadamija sei vom Staat vor 30 Jahren enteignetes Land, für das man sich ungerecht entschädigt fühlte. Auch dagegen protestierten die Einwohner. Vermittlungsversuche syrischer Offizieller und Geschäftsleute blieben ohne Erfolg. Es begann die Zeit der nächtlichen Sabotage an Straßenlaternen und Stromkästen, schließlich wurden junge Männer mit Waffen gesehen. Die Armee führte Durchsuchungen durch, stürmte Häuser und nahm viele Männer fest. Die Mehrzahl der Einwohner floh, andere griffen zu den Waffen.

Nachdem die Kämpfer im Bezirk Baba Amr der Stadt Homs im März 2012 eine Niederlage erlitten hatten, zogen sie ihre Kräfte im östlichen und südlichen Umland von Damaskus, der Ghuta, zusammen. Am 17. Juli 2012 starteten sie den »Vulkan in Damaskus«, eine Offensive auf die syrische Hauptstadt. Erstes Ziel waren Polizisten und Polizeistationen, auch in Moadamija wurde die einzige Polizeistation gestürmt. Er sei damals von den Bewaffneten festgenommen worden, erzählt ein Polizeibeamter, der seinen Namen nicht nennen möchte. Er steht am mittleren von drei Kontrollpunkten, die auf dem Weg nach Moadamija überwunden werden müssen. Er und seine Kollegen seien entwaffnet und mißhandelt worden. »Niemand von uns hat mit so einem Angriff gerechnet«, räumt er ein. Nach wenigen Tagen habe man sie freigelassen, aber dann hätten die Probleme erst angefangen.

Nach langwierigen Verhandlungen, die mehr als einmal unterbrochen werden mußten, scheinen die lokalen Kämpfer ihren Kampf nun eingestellt zu haben. Ein halbes Jahr lang waren sie von der syrischen Armee belagert worden, die weder Personen noch Lebensmittel- oder Medikamententransporte in den Ort ließ. Die Kämpfer sollten zur Aufgabe gezwungen werden, die zynische Rechnung ging auf.

Amnesty International hat die Methode der »Hungerblockade« in dem am Montag veröffentlichten Bericht »Squeezing the life out of Yarmouk« (»Das Leben aus Jarmuk pressen«) als Kriegsverbrechen angeprangert und fordert, daß Verantwortliche dafür vor dem Internationalen Gerichtshof angeklagt werden müssen. In dem Bericht heißt es: »Regierungstruppen legten im Dezember 2012 einen Belagerungsring um Jarmuk. Seit Juli 2013 wurde jeder Zugang nach Jarmuk unterbunden.« Was Amnesty nicht erwähnt, ist, daß in Jarmuk – wie auch in Moadamija und anderen Orten – dem Belagerungsring der syrischen Armee ein überfallartiger Einmarsch bewaffneter Gruppen vorausgegangen war. Mehr als 150000 Palästinenser und eine weit größere Zahl Syrer waren im Dezember 2012 aus Jarmuk geflohen. Mehrfache Versuche palästinensischer Gruppen, die Bewaffneten zum Abzug zu bewegen, waren erst im Januar 2014 von Erfolg gekrönt. Daraufhin wurden täglich Hilfsgüter und Nahrungsmittel nach Jarmuk gebracht. Die bei der Verteilung entstandenen Fotos des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNWRA) von den hilfesuchenden Menschen sind erschütternd.

Auch in Moadamija ist es den lokalen Kämpfern gelungen, die ausländischen Brigaden aus dem Ort zu verjagen und mit der syrischen Armee einen Waffenstillstand auszuhandeln. Ihre leichten Waffen dürfen sie behalten, wenn sie selber für den Schutz und die Sicherheit von Moadamija sorgen. Dafür werden sie mit den Nationalen Verteidigungskräften kooperieren, die wiederum der Armee angegliedert sind. Sie erhalten für ihren Dienst einen Sold. Die Einwohner von Moadamija werden ihren lokalen Verwaltungsrat selbst wählen; alle Einwohner dürfen zurückkehren, und Zivilisten aus dem Ort dürfen kommen und gehen, wie sie wollen, bis auf weiteres jedoch nur bei Tageslicht. Die Regierung hat sich im Gegenzug zur Aufhebung der Belagerung verpflichtet. Nahrungsmittel, Medizin, Gas, Haushaltsgegenstände und Baumaterialien erreichen den Ort. Nach Berichten von Einwohnern haben erste Geschäfte wieder aufgemacht. Die Regierung wird die zivile Infrastruktur wiederherstellen, Schulen sollen wieder geöffnet werden.

Hilfsgüter abgelehnt

Auf sich warten läßt die Freilassung von etwa 600 Gefangenen aus Moadamija, die die Regierung zugesagt hatte. »Solange die Gefangenen nicht frei sind, dürfen weder syrische Offizielle noch Journalisten nach Moadamija fahren«, erklärt Hassan Khandou, der dem Versöhnungskomitee Moadamija angehört. Daher können Journalisten die Rückkehr von Einwohnern nur am mittleren der drei Kontrollpunkte beobachten. Man weise die Hilfslieferungen der UNO und anderer Organisationen zurück, sagt ­Khandou stolz. Der Hunger habe die Kämpfer zur Aufgabe gezwungen, doch nun werde alles getan, um die Menschen in Moadamija zu versorgen. Als kurze Zeit später ein Konvoi des Syrischen Arabischen Roten Halbmondes (SARC) den Kontrollpunkt erreicht, werden die Fahrzeuge von Angehörigen des Versöhnungskomitees zum Erstaunen der anwesenden Journalisten zurückgeschickt. »Die UNO schickt die Hilfsgüter nur für die Medien«, sagt Khandou mit scharfer Stimme. »Das akzeptieren wir nicht, wir können uns selber versorgen.« Das sei das Ergebnis, wenn humanitäre Hilfe politisiert werde, kommentiert ein Kollege.

Den ganzen Vormittag lang kommen Frauen, Kinder, Familien aus Moadamija und erzählen über die Lage im Ort. Eine Familie hat nach ihrem Haus gesehen, das sie vor fast zwei Jahren verlassen hatte. Einiges sei zu reparieren, sagt der Vater von drei Kindern. Seit ihrer Flucht aus Moadamija haben sie im benachbarten Jdeideh Artus gelebt. Nun gäbe es keine Waffen mehr auf den Straßen in Moadamija, keine Kämpfe, lächelt seine Frau. Der Waffenstillstand und die Versöhnung seien »gut für alle Seiten«. Sie wollten zurückkehren, sobald die Schulen wieder geöffnet seien.

Daß die Schulen wieder öffnen, will auch ein Mann, der sich als »Kommandant der Freien Syrischen Armee« vorstellt. Der 42jährige hat drei Kinder und war Angestellter der Regierung, »bevor alles anfing«. Nun gehört er dem Versöhnungskomitee an, das die Bedingungen für den Waffenstillstand ausgehandelt hat. Er habe seine Waffe abgegeben, weil seine Frau und seine Kinder »einfach nicht mehr konnten«, sagt er. Die Kinder müßten wieder zur Schule gehen, seine Familie wieder ruhig schlafen können, begründet der Mann seine Entscheidung. Seinen Namen will er nicht nennen, er wolle nur noch »zurück in die Heimat«. Den »Islamischen Staat im Irak und in der Levante« (ISIL) und die Al-Nusra-Front hätten sie vertrieben, sagt er stolz. »Sie haben aus unserer Revolution eine religiöse Angelegenheit gemacht, was wir nicht wollten«.

Er und seine Freunde hätten zu den Waffen gegriffen, um sich gegen die staatliche Gewalt zu verteidigen. Die ausländischen Kämpfer hätten entführt, gestohlen und jeden bedroht, der sich ihnen nicht unterordnete. Er hoffe, daß Moadamija »wieder wie früher« werden könne, sagt der Mann mit ruhiger, bedächtiger Stimme. Viele Menschen seien geflohen, die hoffentlich zurückkehrten. Viele hätten Angehörige verloren, die »getötet, zerhackt, verschwunden« seien. Die Kinder seien ohne Schule. »Wir alle sind sehr traurig und wollen einen Wiederaufbau.« Ob er wieder in seinem alten Job arbeiten könne, wie von der Regierung versprochen? Er lächelt und zuckt mit den Schultern: »Vielleicht, wenn sie mich wieder nehmen.«

Der Alltag der Syrer ist schwer geworden. Nur drei Jahre ist es her, daß niemand Hunger leiden mußte, die Menschen ein Dach über dem Kopf hatten, mag es auch noch so einfach gewesen sein. Kinder gingen zur Schule, Handel und Arbeit boomten um die großen Städte. Entlang der Autobahn, die von Damaskus nach Homs führt, stellten die Arbeiter ihre Waren aus. In langen Reihen waren Schränke und Truhen, Tische und Stühle, Sessel und Couchgarnituren ausgestellt. Werkstätten reparierten Fahrräder und Autos, bei Harasta und Duma waren dicht an dicht moderne Glaspaläste entstanden, in denen die großen Automarken aus aller Welt ihre Fahrzeuge ausstellten. Kleine Garküchen und Teestände waren aufgebaut, Gemüse aus der östlichen Ghuta wurde verkauft. Um den Busbahnhof in Qabun, von wo die großen Überlandbusse nach Norden, Osten und zu den Küstenstädten aufbrachen, pulsierte das Leben Tag und Nacht.

»Wofür das alles?«

Zum ersten Mal seit zwei Jahren fahre ich wieder nach Homs. Die Straße des 6. Oktober, die aus Damaskus zur Autobahn nach Homs führt, ist wieder sicher zu befahren. Doch die Sicherheit wurde teuer bezahlt. Der Busbahnhof in Qabun ist zerstört, die Überlandbusse parken entlang der Schnellstraße und warten auf Passagiere. Männer mit großen Plakaten stehen am Straßenrand, auf denen das Ziel der jeweiligen Busse zu lesen ist: Aleppo, Homs, Deir Ezzor steht darauf in großen Buchstaben. Menschentrauben stehen herum, die Reisenden verstauen ihr Gepäck.

Es ist früher Morgen, Nebel liegt über den Damaszener Vororten, an denen wir langsam vorbeifahren. Stille erfüllt den Wagen, gebannt starren die Reisenden durch die Fenster. Wo früher das Leben pulsierte, ragen Ruinen in den Himmel. Kein Stein scheint mehr auf dem anderen zu liegen. Büsche, Bäume, Strommasten sind gefällt. Schwarze Löcher klaffen in Häusergerippen – eingestürzte Dächer, verbrannte Wände. Keine Menschenseele ist zu sehen. »Wofür das alles?« fragt einer der Mitreisenden leise. »Und wo sind die Menschen geblieben, die hier gewohnt haben?«

* Aus: junge Welt, Samstag, 15. März 2014


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