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Frisierter Body Count

Hintergrund. Zynisches Spiel: Die Bestimmung der Opferzahlen im syrischen Bürgerkrieg dient als Interventionspropaganda des Westens

Von Joachim Guilliard *

In Syrien tobt ein blutiger Krieg, dem bereits viele Menschen zum Opfer fielen. Immer wieder geistern darüber exakt wirkende Zahlen durch die Medien – meist basierend auf wenig zuverlässigen, oppositionellen Quellen. Verläßliche Untersuchungen über die Zahl der infolge des Aufstands getöteten Menschen gibt es im syrischen Falle so wenig wie in den meisten anderen blutigen Konflikten. Zu Jahresbeginn veröffentlichte das UN-Kommissariat für Menschenrechte eine neue Schätzung. Doch auch diese basiert bei näherem Hinsehen größtenteils nur auf Propaganda. Ziel der meisten Veröffentlichungen von Opferzahlen ist auch nicht die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Leid der Syrer und die Notwendigkeit, die von außen geschürte Eskalation zu stoppen. Indem stets der Eindruck erweckt wird, es handele sich bei den gemeldeten Toten um unbewaffnete Zivilisten, die vorwiegend der Regierungsgewalt zum Opfer fielen, dienen die Opferzahlen vor allem dem Zweck, die Forderung nach einem Umsturz zu unterfüttern und der Forderung nach einer massiveren Intervention Nachdruck zu verleihen. Schaut man hinter die neue UN-Schätzung, stößt man auf die gängigen Propagandamechanismen gegen die syrische Regierung.

Opferzahlen nach Interessenlage

Über 60000 Menschenleben habe der Krieg in Syrien bisher gefordert, meldeten UN-Vertreter. Dies war das Ergebnis einer im Auftrag des UN-Kommissariats für Menschenrechte durchgeführten Untersuchung. Studien über die Opfer eines Konfliktes sind im Grunde ein sehr löbliches Unterfangen, das man sich auch an anderen Orten wünschen würde. In Afghanistan beispielsweise, wo NATO-Truppen seit zwölf Jahren mit UN-Mandat kämpfen, gab es bislang keine systematische Untersuchung, ebensowenig in Somalia, wo der Westen im Bündnis mit afrikanischen Truppen schon seit den 1990er Jahren interveniert, und auch nicht in Pakistan und Jemen, auf die die USA ihren »Krieg gegen den Terror« ausgeweitet haben. Wie viele Menschen in Libyen dem vom UN-Sicherheitsrat legitimierten Krieg »zum Schutz der Zivilbevölkerung« zum Opfer fielen, wollte die UNO bisher ebenfalls nicht genau wissen.

Im Irak wurden UN-Organisationen erst aktiv, als unabhängige Wissenschaftler die Ergebnisse zweier Studien über die Anzahl, der durch Krieg und Besatzung getöteten Iraker in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht hatten. Deren Ergebnisse, die auf einer repräsentativen Befragung von Familien vor Ort beruhen, waren für die Besatzer absolut unverdaulich. Seither tobt ein erbitterter Streit über das wahre Ausmaß des Blutzolls, den die verbrecherische Zerschlagung des Staates forderte.

Auf der anderen Seite wurden Schätzungen über die Zahl der Opfer in Darfur ohne weiteres akzeptiert, obwohl sie nach der gleichen Methode wie die Lancet-Studien im Irak durchgeführt wurden. Es gab nur einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied: Für die Situation im Irak waren die USA und ihre Verbündeten verantwortlich, während die Darfur-Studie als Grundlage für UN-Resolutionen gegen den auf der Schurkenliste des Westens stehenden Sudan diente.

Der Verdacht, daß es auch bei der Schätzung für Syrien vorrangig um Munition gegen die syrische Regierung geht, wird durch Bemerkungen der UN-Kommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, erhärtet. Die Schuldzuweisung der Chefin des OHCHR (Office of the High Commissioner for Human Rights) für die hohe Zahl von Toten ist eindeutig: »Dieser massive Verlust von Menschenleben hätte vermieden werden können, wenn die syrische Regierung einen anderen Weg als die skrupellose Unterdrückung der ursprünglich friedlichen und legitimen Proteste unbewaffneter Zivilisten gewählt hätte.«

Sie blendet dabei einmal mehr die frühe Gewalt bewaffneter Regierungsgegner aus, die von Beginn der Proteste an dafür sorgte, daß die Auseinandersetzungen rasch eskalierten und in einen bewaffneten Aufstand übergingen, und ignoriert geflissentlich die Bewaffnung und sonstige Unterstützung der Aufständischen durch NATO-Mächte und Golfmonarchen, ohne die es den mörderischen Krieg nicht gäbe (siehe jW vom 1.6.2012)

Pillay sagt auch, was sie seit langem wünscht: »konkrete Maßnahmen des UN Sicherheitsrates, um das Blutvergießen zu stoppen«. Da es Bemühungen der UNO um einen Waffenstillstand und Verhandlungen gab und gibt, strebt sie offenbar ein Mandat an, das auch eine direkte militärische Intervention zuließe.

Blutiger als der Krieg im Irak?

Entsprechend großzügig ist, zumindest im Vergleich zu Afghanistan und Irak, der Umgang mit den Zahlen. Das mit der Schätzung beauftragte Non-Profit-Unternehmen Benetech kam am Ende auf zirka 60000 infolge des Krieges Getötete. Mitte Oktober hatten UN-Vertreter noch von 30000 gesprochen.

Zum Vergleich: Alle offiziellen Angaben über zivile Opfer des Afghanistan-Krieges seit 2001 liegen deutlich unter 20000. Das kriegskritische »Costs of War«-Projekt an der Brown University in Rhode-Island kam durch Zusammenführung diverser Schätzungen für die Zeit bis Juni 2011 – d.h. für fast zehn Jahre Krieg – auf knapp 15000 Ziviltote und 30000 bis 45000 Tote insgesamt.

Auch die offiziellen Zahlen zum Irak-Krieg liegen im vergleichbaren Zeitraum deutlich unter der Schätzung für Syrien. Ende 2004 wurde die Zahl der zivilen Opfer im Irak mit etwa 12000 angegeben. Das »Iraq Body Count«-Projekt (IBC), das sorgfältigste derjenigen Projekte, die Opferzahlen durch Sammlung bekannt gewordener Todesfälle zu schätzen suchen, hatte bis dahin auch »nur« rund 23000 erfaßt.

Das spricht nicht unbedingt gegen die hohe Zahl für Syrien, da die genannten Projekte die tatsächliche Opferzahlen mit Sicherheit weit unterschätzten. Ungeachtet aller Sorgfalt kann durch Registrierung gemeldeter Todesfälle allein nur ein Teil der Opfer erfaßt werden, in Kriegsgebieten oft weniger als ein Zehntel. Realistischere Schätzungen liefern repräsentative Untersuchungen. Die erste Lancet-Studie ermittelte bereits für die ersten 18 Monate des Irak-Krieges zirka 100000 Kriegstote, und die zweite schätzte die Zahl bis Juni 2006 auf 640000. IBC hatte bis zu diesem Zeitpunkt erst 43000 Ziviltote registriert.

Allerdings hat Benetech keine repräsentative Studie durchgeführt, sondern nur die Daten verschiedener Organisationen zusammengeführt, die, ähnlich wie das IBC, Todesfälle in Listen sammeln. Falls diese ähnlich akkurat wie durch IBC erfaßt worden wären, hätte der Aufstand in Syrien in den ersten 21 Monaten mehr als doppelt so viele Opfer gefordert wie der Krieg im Irak.

Nur oppositionelle Quellen

Während IBC jedoch die Meldungen renommierter Zeitungen und die Daten von Kranken- und Leichenschauhäusern auswertet, basieren die Zahlen der von Benetech herangezogenen Quellen fast ausschließlich auf den Angaben oppositioneller Aktivisten.

Ausgewertet wurden jeweils die Daten zwischen März 2011 und November 2012. Einbezogen wurden die Opferlisten von sieben Quellen: des Violations Documentation Centre (VDC) der Lokalen Koordination-Komitees, des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte, des Syrian Revolution General Council, der Syrischen Shuhada-Website, der March 15 Group, der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) und der syrischen Regierung. Von letzterer lagen allerdings nur bis März 2012 Daten vor, insgesamt 2539 Fälle. Da dies der offiziellen Zahl, der bis dahin getöteten Sicherheitskräfte entspricht, wurden offenbar keine Regierungsangaben über zivile Tote herangezogen. Die Regierung gab die Gesamtzahl der Opfer im März 2012 mit etwas mehr als 6000 Toten an. Alle anderen Quellen gehören zur Opposition. Die Webseite der Syrischen Shuhada (Märtyrer) weist dabei die höchsten Zahlen aus, am konservativsten sind die Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle, SOHR. SOHR listete Ende November 29750 Tote auf, Shuhada über 43400, jedoch nur 33600 mit Namen.

SOHR erfaßt im Unterschied zu Shuhada auch Tote auf Regierungsseite. Ihre Zahlen stimmen in dieser Hinsicht mit denen der Regierung weitgehend überein. Da die Namen getöteter Regierungskräfte stets in den Medien veröffentlicht werden, gelten diese Angaben als zuverlässig. Neben SOHR werden sie nur noch – zumindest teilweise – vom VDC und dem Syrischen Netzwerk für Menschenrechte miterfaßt. Diese drei unterscheiden auch noch ansatzweise zwischen »Zivilisten« und »Kämpfern«. Die anderen Gruppen listen nur »Zivilisten« bzw. »Märtyrer« auf, d.h. Tote, die sie als Oppositionelle oder Unbeteiligte gewertet wissen wollen.

»Syrischer Exil-Pinocchio«

Benetech macht viel Aufhebens über den Aufwand der Zusammenführung der Daten. Letztlich wurden aber nur Fälle aussortiert, bei denen der Name des Opfers sowie Zeit und Ort des Todes fehlten und viel Sorgfalt auf die Eliminierung von mehrfach erfaßten Personen gelegt. Die gelisteten Todesfälle selbst wurden aber offenbar nicht überprüft. Dabei gab es sehr früh schon Hinweise auf phantasievoll erweiterte Opferlisten und allgemeine Zweifel an deren Angaben. Erstaunlich ist schon die Geschwindigkeit, mit der die oppositionellen Internetportale ihre Zahlen veröffentlichen. Während professionelle, mehrköpfige Teams mehrere Tage, wenn nicht Wochen benötigen, um genaue Angaben über die Zahl der Opfer von gewaltsamen Zusammenstößen machen zu können, meldet SOHR bereits am Abend eine Tagesbilanz, allein gestützt auf oppositionelle Gewährsleute vor Ort.

Der private US-amerikanische Nachrichtendienst Stratfor warnte aber von Beginn an, daß »die meisten schwerwiegenden Vorwürfe der [syrischen] Opposition sich letztlich als stark übertrieben oder schlicht unwahr erwiesen haben«. Die Beobachtermission der Arabischen Liga kam zum selben Schluß, und auch der NATO-nahe Think Tank International Crisis Group berichtet über die Erfahrung, daß zahlreiche Berichte über Gewaltmaßnahmen der Regierung frei erfunden waren.

Von allen oppositionellen Quellen erscheint die SOHR noch am seriösesten. Mit ihren täglichen Opferzahlen avancierte sie rasch zu einer der wichtigsten Quellen für Medien und Menschenrechtsgruppen. Doch auch ihre Glaubwürdigkeit wird seit langem angezweifelt.

Wie Reuters im Dezember vergangenen Jahres berichtete, ist die Beobachtungsstelle im Grunde ein Ein-Mann-Betrieb, der von einigen Freizeithelfern unterstützt wird. Sie wird betrieben von Rami Abdul-Rahman, einem syrischen Aktivisten, der mit bürgerlichem Namen Osama Suleiman heißt und mit seiner Frau im britischen Coventry ein Bekleidungsgeschäft führt. Er erhält seine Informationen überwiegend telefonisch und gibt sie meist auch telefonisch an Agenturen, Fernsehsender usw. weiter.

Zeitweilig trat eine zweite Gruppe dieses Namens in Erscheinung, geführt von Mousab Azzawi, einem Londoner Arzt. Dieser hatte sich mit Abdul-Rahman zerstritten, vorwiegend wohl über die Haltung zu einer ausländischen Militär­intervention. Abdul-Rahman, der gute Beziehungen zum innersyrischen Oppositionsbündnis Nationalen Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel (NCC) hat, ist strikt dagegen. Er steht daher nach eigenen Angaben unter massivem Druck syrischer Hardliner. Er solle auf seiner Website ein Eingreifen der NATO fordern und damit aufhören, die getöteten Regierungskräfte mit aufzulisten. Azzawi hingegen, dem enge Verbindungen zum Syrischen Nationalrat nachgesagt werden, wirbt offen für einen NATO-Krieg nach »Libyen-Art« und bringt dabei auch schon einmal das ultimative »G«-Wort aller Befürworter »humanitärer« Interventionen – den »drohenden Genozid« – ins Spiel.

Azzawi betreibt nun seine Propaganda unter dem Label »Syrisches Netzwerk für Menschenrechte«. Die Angaben seiner Gruppen wurden von Benetech ebenfalls berücksichtigt. Auch Abdul-Rahman alias Suleiman stand mehrfach hinter spektakulären Falschmeldungen internationaler Medien. Jürgen Todenhöfer bezeichnete ihn daher in einem FAZ-Artikel als »syrischen Exil-Pinocchio«. Am prominentesten war die Meldung vom 7. August 2011, syrische Sicherheitskräfte hätten in einem Krankenhaus in Hama den Strom der Brutkästen abgestellt, die u.a. auch von CNN verbreitet wurde. Arabische Medien zeigten zudem noch ein Bild der angeblich getöteten Babys. An der Horrorgeschichte war so wenig dran wie an der Kuwaiter Brutkastenlüge von 1990. Das Bild wurde in Ägypten aufgenommen und die Frühgeborenen waren die ganze Zeit wohlauf. Abdul-Rahman verteidigte sich, ein Arzt aus dem betroffenen Krankenhaus habe ihm nun einmal glaubwürdig von den toten Frühchen berichtet, und das Foto sei nicht von ihnen verbreitet worden.

Selbst der Süddeutschen Zeitung, die wie alle Mainstreammedien ihre Meldungen oft auf Informationen von SOHR stützten, kamen kürzlich Zweifel über ihren Gewährsmann, und sie sprach von einem »ominösen Protokollanten des Todes«. Wenige Menschenrechtsaktivisten würden so großen Wert auf Genauigkeit legen wie er, verteidigt ihn anderseits NCC-Sprecher Haitham Manna, eine in Syrien sehr angesehene Persönlichkeit, ebenso wie Vertreter von Amnesty International, die bereits seit 2006 mit Abdul-Rahman zusammenarbeiten: »Die Informationen, die die Beobachtungsstelle über die Jahre lieferte, waren generell glaubwürdig, gut recherchiert und fundiert.« Vielleicht entsprachen sie aber auch nur exakt ihrer Erwartungshaltung.

Klatsch und Tratsch

Im Grunde ist es jedoch zweitrangig, wie ehrlich ein Abdul-Rahman oder ein Azzawi ist: Mit ihrer Arbeitsweise kann niemand vertrauenswürdige Informationen von Ereignissen in einem Krisengebiet erhalten, sondern im wesentlichen nur Propaganda, Selbstdarstellung, Klatsch und Tratsch. Bis Ende 2011 hatte Pillays OHCHR selbst Angaben über die Zahl der getöteter Zivilisten auf Basis der Daten von fünf der oben genannten Organisationen (darunter SOHR, VDC und SSW) zusammengestellt und veröffentlicht. Da sich das Kommissariat außerstande sah, deren Daten vor Ort zu verifizieren, stellte es Anfang 2012 die Veröffentlichung von Opferzahlen ein.

So oder so: Eine seriöse, unabhängige Untersuchung hätte mit der Prüfung der Glaubwürdigkeit des Datenmaterials beginnen müssen. Schon die stichprobenartige Überprüfung von 100 zufällig ausgewählten Todesfällen pro Organisation hätte genügt, um die Genauigkeit ihrer Listen einigermaßen abschätzen zu können. Listen, bei denen sich z.B. mehr als 90 von 100 verifizieren lassen, könnte man als glaubhaft einstufen, während man alle mit weniger als 70 von vorne herein von der Auswertung ausschließen müßte.

Eine Untersuchung der britischen Next Century Foundation (NCF) legt nahe, daß keine der von OHCHR und Benetech verwendeten Quellen eine solche Überprüfung bestanden hätte.

Die regierungsnahe Konfliktbearbeitungsorganisation hat im Juli 2012 die Listen der wichtigsten syrischen Gruppen auf ihre Glaubwürdigkeit untersucht. Sie kam zum Ergebnis, daß keine der Gruppen ihre Angaben auf verläßliche Informationen stützt.

Als dann Mitarbeiter der NCF vor Ort eine Reihe der gelisteten Todesfälle nachrecherchierten, ließen sich viele nicht bestätigen. Sie stießen dabei jedoch auch auf zahlreiche andere, von glaubwürdigen Zeugen benannte Fälle, die in keiner Liste auftauchten. Hierbei handelte es sich meist um Morde, die von Aufständischen begangen wurden. Die Leute von der NCF bezweifeln daher nicht, daß viele Zivilisten getötet wurden, »aber genaue Zahlen, die auf mehr als auf Klatsch beruhen, sind (unserer Ansicht nach) nicht verfügbar.«

Während die meisten Medien das vom ­OHCHR veröffentlichte Ergebnis von Benetechs Bemühungen breitwillig als die genauesten neuen Daten wiedergeben, kam aus unerwarteter Richtung scharfe Kritik an der Benetech-Auswertung: Abdul-Rahman äußerte gegenüber Medien, die Zahlen seien stark übertrieben und dienten nur der Propaganda für eine stärkere Einmischung ausländischer Mächte in Syrien. »Die UNO ist keine Menschenrechtsorganisation, sondern eine politische«, urteilte er völlig zu Recht.

Falsche Schuldzuweisung

Aus den großen Zweifeln an der Datenbasis der neuen Zahl, die das OHCHR nun als »UNO- Schätzung« herausgibt, folgt allerdings nicht zwangsläufig, daß sie überhöht ist. Im Unterschied zum »Iraq Body Count«-Projekt, dessen Angaben ein verläßliches Minimum darstellen, ist aber selbst sie nur wenig mehr als Spekulation. Auch in Syrien kann nur eine repräsentative Untersuchung, wie die Lancet-Studien im Irak, eine verläßliche Schätzung liefern – nicht nur über die Zahl der Todesfälle, sondern auch darüber, wer in welchem Maß dafür verantwortlich ist.

Mit einer hohen Zahl allein läßt sich noch keine Politik machen. Der Kern der Propaganda ist daher die ebenfalls kritiklos von den oppositionellen Quellen übernommene einseitige Schuldzuweisung. Das OHCHR verleiht ihnen vermöge des »UNO-Siegels« noch mehr Glaubwürdigkeit und unterstützt somit deren »Regime Change«-Propaganda.

Wer die Pressemitteilung Pillays oder die Auswertung von Benetech liest, muß den Eindruck erhalten, daß es sich bei den Getöteten um oppositionelle Aktivisten und Zivilisten handelt und für ihren Tod überwiegend die syrische Regierung verantwortlich ist. An keiner Stelle wird darauf hingewiesen, daß ihre Zahl auch getötete Sicherheitskräfte beinhaltet, und die Gewalt der Gegenseite wird nur nebenbei erwähnt und auch nur als Reaktion auf die Regierungsgewalt.

Dabei spricht der Anteil von über 10000 Soldaten und Polizisten an den Toten für sich. Nimmt man die Gesamtzahl der Opfer von SOHR als Basis, so waren durchgängig knapp ein Drittel der Getöteten Regierungskräfte. Die Zahl aufständischer Kämpfer unter den Toten dürfte noch wesentlich höher liegen, meist ist sie in solchen Fällen mehr als doppelt so hoch. Da gefallene Kämpfer von ihren Einheiten aber meist mitgenommen und insgeheim begraben werden, um dem Gegner keine Hinweise auf die eigenen Verluste zu geben, wird sicherlich nur ein Teil von ihnen erfaßt.

Doch selbst wenn die Dunkelziffer sowohl bei Zivilisten wie bei Aufständischen vermutlich hoch ist: Da ein großer Teil der Ziviltoten auf das Konto von Aufständischen und auf das der ethnisch-konfessionellen Gewalt geht, relativiert sich die Zahl möglicher Opfer von Sicherheitskräften sehr. Betrachtet man zudem die relativ hohen Verluste der Regierungskräfte und vergleicht sie mit denen der britischen und US-amerikanischen Truppen im Irak oder die der NATO in Afghanistan, so scheinen die Versicherungen der syrischen Armee, sie würde mit großer Rücksicht gegenüber der Zivilbevölkerung vorgehen, keineswegs substanzlos. Zumindest scheint sie wesentlich mehr Rücksicht zu nehmen als die Besatzer im Zweistromland und am Hindukusch. Nach der Lancet-Studie von 2006 waren im Irak mindestens 189000 der 604000 bis dahin ums Leben gekommen Iraker – darunter ein großer Teil Frauen und Kinder – direkt von den Besatzungstruppen getötet worden, Diese hatten zum selben Zeitpunkt weniger als 3200 eigene Tote zu beklagen. Auch nach der sehr konservativen Schätzung von »Iraq Body Count«, der die Einteilung der Toten in Zivilisten und »Aufständische« meist von westlichen Medien und damit von der Pressestelle der US-Armee übernahm, wurden im Irak viermal so viele Zivilisten getötet wie Kombattanten.

Das Vorgehen des OHCHR zeigt einmal mehr, daß im Westen mit zweierlei Maß gemessen wird. Im Falle Libyens endeten die Meldungen über die Zahl der Opfer schlagartig mit den ersten NATO-Bomben, die auf das Land niedergingen. In Syrien beobachten wir nun seit fast zwei Jahren dasselbe zynische, interessengeleitete Spiel mit Opferzahlen, wie es mit wechselndem Vorzeichen überall dort gespielt wird, wo der Westen direkt oder indirekt involviert ist. Während die UNO in den Fällen, wo westliche Staaten verantwortlich gemacht werden könnten, keine Anstrengungen unternimmt, dem Herunterspielen der Opferzahlen etwas entgegensetzen, war man in Syrien an hohen Zahlen interessiert – vermutlich der Hauptgrund für die Schludrigkeit der Untersuchung.

* Joachim Guilliard arbeitet im Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg. Er betreibt den Blog »Nachgetragen«: jghd.twoday.net

Aus: junge welt, Mittwoch, 6. Februar 2013



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