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Neue Tagesstatistik

Mit einer militärischen und medialen Offensive haben bewaffnete Gruppen in Syrien das neue Jahr begonnen

Von Karin Leukefeld *

Das der in Syrien verbotenen Muslimbruderschaft nahestehende »Zentrum für Strategische Forschung und Kommunikation« (SRCC) hat zum Jahresende seine tägliche »Nachrichtenzusammenfassung der syrischen Revolution«, Tag 658, mit einem Foto von »Opfern eines Massakers« illustriert, das »Streitkräfte des Regimes in Daraya vergangene Woche« begangen haben sollen. Die sommerliche Bekleidung der um die aufgereihten männlichen Leichen stehenden Männer deutete indes nicht auf ein winterliches Datum des Fotos hin. In seinen »Top-Geschichten des Tages« berichtet das Bulletin vermeintlich präzise weiter: »Mehr als 144 Menschen starben am letzten Tag des Jahres 2012«, »Streitkräfte des Regimes verübten Massaker in Damaskus und Aleppo« und »Rebellenkämpfer schossen drei Kampfjets ab und lieferten sich heftige Gefechte in den Vororten von Aleppo und Damaskus«. Mit einer Tagesstatistik und Videofilmen wirkt das Bulletin seriös und glaubwürdig, eine im Stil von Nachrichtenagenturen praktisch und knapp formulierte »Zusammenfassung der Ereignisse« lädt gestreßte Journalisten zur Übernahme ein.

Am 1. Januar 2013 machte das Bulletin mit einer »Massenexekution in Hama« auf, weiter hieß es, die »Rebellen machten Fortschritte in der nördlichen Provinz von Raqqa«. Die Gesamtzahl der Toten gibt SRCC an diesem Tag in seiner Statistik mit »52512« an. Am 2. Januar war der Aufmacher ein gestochen scharfes, grausames Foto verkohlter Leichen ohne Quellenangabe. »Folgen des Luftangriffs auf eine Tankstelle im Damaszener Vorort Mleiha«, stand darunter. »Mehr als 223 heute getötet, die UN spricht von mehr als 60000 und mehr Toten bisher« in Syrien, so die Überschrift. Zudem hätten »die Rebellen die Kontrolle einer Luftwaffenbasis in Idlib übernommen« und »fünf weitere Luftwaffenbasen wurden landesweit angegriffen«. An diesem Tag liegt die Zahl der Toten laut Statistik bereits bei »60224«.

Keine der »Nachrichten« die das SRCC-Bulletin verbreitet, werden seriös belegt. Dennoch finden sie sich so oder ähnlich in Agenturberichten wieder, die viele Medien verbreiten. Als Quellen dienen »syrische Aktivisten«, die sich per Skype oder Telefon an die »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte« in London wenden. Zu den Ereignissen um den Militärflughaften Taftanas in der Provinz Idlib wußte die »Beobachtungsstelle« zu berichten, die Aufständischen hätten am Morgen versucht, »das Gelände zu stürmen, zogen sich dann aber wieder zurück«.

Die offizielle syrische Darstellung wird durch die Nachrichtenagentur SANA verbreitet. Nach Militärangaben sei der Angriff auf den Militärflughafen Taftanaz zurückgeschlagen worden, »den Terroristen wurden große Verluste zugefügt«. Die falschen Berichte von Medien, die den Aufständischen nahestünden, sollten »die Moral der Kämpfer« heben. Zu den angeblichen »Fortschritten im Norden des Landes« hieß es in einer offiziellen Stellungnahme, »bewaffnete terroristische Gruppen plünderten die Niederlassung der Syrischen Investitionskommission in Al-Hasake«. Computer, Fernseher und Kameras seien gestohlen worden, auch das Auto des Direktors der Landwirtschaftsfakultät in dem Ort sei gestohlen worden. Eine weitere Gruppe habe Kühlschränke, Wasserfilter, Gaszylinder und Werkzeug vom Ölfeld Tischreen bei Al-Hasake gestohlen. In den Satellitenstädten Douma und Haraste im Osten von Damaskus sei es zu Kämpfen zwischen Armee und »terroristischen Gruppen« gekommen, heißt es weiter. Dabei seien ein Luftabwehrgeschütz zerstört und mehrere Aufständische getötet worden. Ein Stützpunkt der islamistischen Gruppe »Liwaa Deraa Al-Asima« sei ebenfalls zerstört worden, die dabei getöteten Aufständischen werden namentlich genannt.

Das UN-Büro für Menschenrechte in Genf schloß mittlerweile zu den Zahlenangaben des SRCC auf. Mehr als 60000 Tote seien in Syrien seit April 2011 zu beklagen, erklärte UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay am Mittwoch in New York. Nicht näher bezeichnete »Datenspezialisten« hätten im Auftrag ihres Büros Zahlen ausgewertet, die zur »Aufstellung einer Liste von 59648 getöteten Personen in Syrien zwischen dem 15. März 2011 und dem 30. November 2012« geführt habe, hieß es in einer UN-Erklärung. Den Vereinten Nationen zufolge haben die »Experten« mit der Analyse der Informationen vor fünf Monaten begonnen. Grundlage sei eine Liste von 147349 angeblichen Toten gewesen, aus der heraus alle die gefiltert wurden, von denen der Vor- und Familienname, Datum und Ort des Todes identifiziert werden konnten. Trotz der umfassenden Genauigkeit habe man nicht für jeden Fall »die Umstände des Todes« herausfinden können.

* Aus: junge Welt, Freitag, 4. Januar 2013

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