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"Ich bin am Leben"

Syrien: Russischer General dementiert seinen Tod. Berichte über türkische Intervention. Regierungstruppen rücken in Aleppo vor

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Das türkische Militär soll am Mittwoch mit Hubschraubern und Soldaten in die nordsyrische Stadt Jarablos vorgedrungen sein. Das berichtete der englischsprachige iranische Fernsehsender Press TV am Mittwoch. Aus anderen Quellen wurde diese Meldung zunächst nicht bestätigt. Zuvor hatte Ankara nach schweren Gefechten mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Provinz Hakkari gedroht, die Kämpfer bis nach Syrien zu verfolgen, sollten sie sich dorthin zurückziehen. Die türkische Regierung fürchtet eine Signalwirkung des quasi autonomen Status, den die syrischen Kurden in einigen Städten im Norden des Landes errungen haben.

Rußland dementierte derweil Angaben der »Freien Syrischen Armee« (FSA), sie hätten den russischen General Wladimir Kuschejew getötet. Dieser trat am Mittwoch selbst vor Journalisten in Moskau auf und erklärte: »Ich kann bestätigen, daß ich am Leben bin und es mir gut geht.«

In der Wirtschaftsmetropole Aleppo haben die Regierungstruppen unterdessen offenbar die Aufständischen zurückdrängen können. Die Nachrichtenagentur Reuters meldete, die FSA-Rebellen hätten sich aus dem umkämpften Stadtteil Salaheddin zurückgezogen. Nach Angaben der Aufständischen soll die Armee das Viertel zuvor angegriffen und viele Kämpfer getötet haben. Loyal zur Regierung in Damaskus stehende Truppenverbände zogen den Ring um Aleppo enger, um den bewaffneten Gruppen, die sich weiter in einigen Stadtvierteln aufhalten, die Nachschubwege abzuschneiden.

In der Hauptstadt durchkämmten starke Einheiten in den letzten Tagen den Ortsteil Rukn Eddin, berichteten Einwohner des Ortes gegenüber jW. Am Sonntag hätten maskierte und mit Granatwerfern und Gewehren ausgerüstete Aufständische dort die Polizeiwache und Kontrollpunkte der Armee attackiert. Viele Einwohner wären daraufhin aus ihren Wohnungen geflüchtet. Am Montag morgen seien die Soldaten dann von allen Seiten in den Ortsteil vorgerückt und hätten Haus für Haus durchsucht. Die Bewohner seien angewiesen worden, die Häuser nicht zu verlassen, weil eine Militäroperation geplant sei. Die Aufständischen hätten sich mit den Soldaten eine siebenstündige Schlacht geliefert, es habe Tote auf beiden Seiten gegeben, berichtete ein Mann. Schließlich seien die Aufständischen geflohen, viele hätten ihre Waffen einfach weggeworfen. Er und seine Familie seien froh, daß die Armee die Bewaffneten davongejagt hätte, mit solchen Leuten wolle man nichts zu tun haben.

Am Mittwoch nachmittag kam es im Zentrum von Damaskus zu einer Demonstration von rund 100 Jugendlichen gegen die Regierung. Die Mädchen, die mehrheitlich weiße Kopftücher trugen, hielten Schilder in die Höhe und riefen Parolen, daß Syrien »außer Gott niemanden« brauche. Bevor sie nach wenigen Minuten auseinanderstoben, warfen sie Flugzettel in die Luft, auf denen stand: »Die Jugend bezahlt Präsident Assad 2000 Syrische Pfund, wenn er das Land verläßt.«

In einem Café um die Ecke haben die Menschen andere Sorgen. »Können Sie mir erklären, was sich die Europäische Union eigentlich denkt mit ihrer Politik? Diese Sanktionen schaden doch nur der Bevölkerung, den einfachen Leuten! Warum verhält sich Europa so?« Der Mann ist etwa Mitte Fünfzig, er greift mit beiden Händen an den Kopf, seine Augen sind aufgerissen, während er nach Worten sucht. Der Gesprächspartner, ein Ministeriumsangestellter, möchte seinen Namen nicht nennen. Jahrelang hat er mit deutschen Kollegen zusammengearbeitet, erzählt er. Er war sogar drei Wochen bei einer Fortbildung in Deutschland. »Wir dachten, die deutsche Regierung würde uns helfen, unser Land zu erneuern. Nun aber unterstützen sie diese Kämpfer, die von Katar und Saudi Arabien finanziert werden! Wenn sie meinen, mit den Golfmonarchien Geschäfte machen zu müssen, ist das ihre Entscheidung. Aber wollen sie uns etwa mit der Hilfe von Saudi-Arabien beibringen, was Demokratie ist?«

Ein anderer Mann kommt hinzu und berichtet, daß vor wenigen Tagen in seinem Heimatort Jdeideh Artuz der bekannte Dokumentarfilmer und Regisseur Bassam Hussein vor seinem Haus getötet worden sei. Die Runde schweigt einen Moment betreten, dann sagt der Hinzugekommene: »Was hat das mit Revolution zu tun, wenn die Menschen vor ihren Häusern ermordet werden! Dieser Mann trug keine Waffe. Er hatte nur eine Kamera und seinen Schreibblock. Ihn zu ermorden ist nichts anderes als ein Verbrechen.«

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 9. August 2012


Wie Hunde an des Krieges Leine

Syrien: Alltag zunehmend schwerer zu bewältigen / Enttäuschung über Deutschland

Von Karin Leukefeld, Damaskus **


Während in Aleppo wieder die »Entscheidungsschlacht« beschworen wird und der Sicherheitsrat sich auf eine weitere Sondersitzung zu Syrien am 30. August einigte, werden die Probleme der Bevölkerung des Landes im Alltag immer größer.

Der frühe Nachmittag beschert Damaskus täglich ein Verkehrschaos. Eine Blechlawine wälzt sich durchs Zentrum der Stadt, vor öffentlichen Gebäuden und Ministerien warten die Angestellten auf Busse, die sie nach Hause bringen. Der Service des Staates sorgt immer noch dafür, dass die Menschen aus den Vororten nicht auf einen eigenen Wagen oder den Minibus angewiesen sind.

Plötzlich löst sich eine Gruppe junger Männer und Frauen aus den wartenden Angestellten am Straßenrand. Die Frauen tragen fast alle weiße Kopftücher und halten Schilder in die Höhe. Gemeinsam rufen die rund 100 Jugendlichen, dass Syrien niemanden brauche außer Gott, einige Fahnen der Opposition sind zu sehen, dann biegt die Gruppe in eine kleine Seitenstraße ab und verschwindet. Vorher werfen sie paketweise kleine Zettel vor die Füße der Straßenkehrer, die gerade den Rinnstein ordentlich sauber gefegt haben. Auf den Zetteln steht: »Die Jugend bezahlt Präsident Assad 2000 Syrische Pfund, damit er das Land verlässt.« Betreten blicken Passanten dem Spektakel hinterher, niemand schließt sich der Gruppe an, niemand klatscht Beifall. Kein Polizist ist zu sehen.

Nicht weit vom Ort des Geschehens entfernt, im Italienischen Krankenhaus, hat man andere Sorgen. Die Lieferzeit für viele Medikamente sei länger geworden, erzählt eine der Schwestern, die dem Orden der Salesianer angehört, der das Krankenhaus betreibt. Die Zentren der syrischen Pharmaindustrie bei Homs und Aleppo seien offenbar von den Kämpfen betroffen. Hinzu kämen die Sanktionen, mit denen USA und EU Syrien seit Monaten bestrafen. Das habe zu Rohstoffmangel für die Medikamentenproduktion geführt, Treibstoffmangel behindere den Betrieb der Firmen und den Transport. Noch habe man alle notwendigen Arzneien für Dialysepatienten, sagt die Schwester, doch ein Arzt habe ihr erzählt, dass Material für Zahnarztpraxen teuer in Libanon beschafft werden müsse. Bisher hat Syrien 90 Prozent seiner benötigten Medikamente selbst produziert. Die Weltgesundheitsbehörde (WHO) erklärte nun am Dienstag in Genf, durch die Kämpfe sei »erheblicher Schaden an den Pharmafabriken um Aleppo, Homs und im Umland von Damaskus entstanden«, wo 90 Prozent der syrischen Pharmaindustrie angesiedelt sei. Viele der Fabriken seien geschlossen«, so die WHO. Das syrische Gesundheitsministerium äußerte sich dazu nicht. Allerdings ist bekannt, dass viele Mitarbeiter im Gesundheitsdienst, in Krankenhäusern und Freiwillige des Syrischen Arabischen Roten Halbmonds (SARC) von Bewaffneten bedroht werden. SARC verlor fünf Mitarbeiter, Fahrzeuge wurden mit Waffengewalt entwendet. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums seien allein in den vergangenen Wochen 200 Rettungsfahrzeuge »verloren gegangen«. Gestohlen, angezündet, zerstört.

»Das ist hier kein Krieg gegen Präsident Assad oder gegen die Opposition«, sagt ein Mann, der in der Damaszener Altstadt einen Laden für klassische Damaszener Möbel besitzt. »Das hier ist ein Krieg gegen die Menschen.« Besonders von Deutschland zeigt der Mann sich enttäuscht, der früher mit Deutschen aus Politik, Wirtschaft und mit Touristen gute Geschäfte machen konnte. »Mercedes, BMW, AEG, früher haben wir mit Deutschland eine Identität, einen Charakter verbunden.« Heute sei die deutsche Politik nur noch »ein Schatten ihrer selbst«, Er fügt hinzu: »Wie Hunde lassen sie sich von anderen an der Leine führen.«

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 9. August 2012


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