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Warnung vor einem Bürgerkrieg

Konflikte in Syrien können nur friedlich gelöst werden. Lawrow: Ausland forciert Verschlechterung der Lage

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat vor einem Bürgerkrieg in Syrien gewarnt. Die Arabische Liga müsse auf alle Seiten einwirken, das gewaltsame Vorgehen einzustellen, sagte Lawrow in Moskau. Weder die Liga noch die westlichen Staaten dürften ausschließlich den syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad für die Gewalt verantwortlich machen. Vielmehr sollten diese Staaten ihren Einfluß auf die Opposition geltend machen, auch von deren Seite das gewaltsame Vorgehen einzustellen. Lawrow ging auf Fernsehberichte ein, wonach die »Freie Syrische Armee« in der Nacht zum Mittwoch ein Gebäude des militärischen Geheimdienstes in Damaskus mit schweren Waffen angegriffen haben soll. Ihn habe das an einen »richtigen Bürgerkrieg« erinnert, sagte der Minister.

Offiziell gibt es von syrischer Seite keine Bestätigung des Angriffs. Der Vertreter der oppositionellen Gruppe »Für den Aufbau des syrischen Staates«, Louay Hussein, äußerte sich skeptisch über eine »Freie Syrische Armee«. »Wir wissen nicht, wer sie sind, woher sie kommen und was ihre Ziele sind«, sagte Hussein gegenüber jW in Damaskus. Die Oppositionsbewegung in Syrien lehne bewaffnete Aktionen ab und strebe einen friedlichen Übergang zu einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft an, »ohne militärische Einmischung«. Man werde mit dem Regime sprechen, wenn es den Plan der Arabischen Liga von Anfang November erfülle. Die Aussetzung der Mitgliedschaft Syriens und weitere Sanktionen lehnte Hussein ab. Die Entsendung einer Beobachterdelegation habe man lange gefordert und der Arabischen Liga angeboten, vor Ort in Sy­rien behilflich zu sein. Hussein kritisierte erneut die restriktive Politik Syriens gegenüber ausländischen Medien.

Arabische Staaten und die Türkei hatten am Mittwoch ein Treffen in Rabat (Marokko) genutzt, um den Druck auf das Land weiter zu erhöhen. Syrien nahm nicht teil. Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan kritisierte in Rabat den UN-Sicherheitsrat, Menschenrechtsverletzungen in Libyen und Syrien »mit zweierlei Maß« zu messen. »Das Schweigen und die Unentschlossenheit gegenüber den Massakern in Syrien« führe zu »unheilbaren Verletzungen des menschlichen Gewissens«, wird Erdogan in Agenturberichten zitiert. Die UN-Botschafter Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens wollen am kommenden Dienstag erneut einen entsprechenden Resolutionsentwurf im UN-Sicherheitsrat einbringen. Nach Angaben Deutschlands wird der Text von Saudi-Arabien, Katar, Jordanien und Marokko unterstützt. Rußland und China werden bei einer Abstimmung voraussichtlich erneut ihr Veto einlegen.

Das Ausland forciere die Verschlechterung der Lage in Syrien, um eine Einmischung in die syrische Politik zu rechtfertigen, erklärte Lawrow am Donnerstag nach Gesprächen mit der Chefin der EU-Außenpolitik, Catherine Ashton, in Moskau. Rußland unterstütze den Plan der Arabischen Liga und auch die Entsendung einer arabischen Beobachterdelegation nach Syrien. »Wenn einige Oppositionelle mit der Unterstützung anderer Staaten erklären, man könne erst dann einen Dialog aufnehmen, wenn das Regime gestürzt ist, hat der Plan der Arabischen Liga keine Bedeutung mehr«, so Lawrow.

In Syrien fürchtet man, das türkische Militär könnte eine »Schutzzone« im Norden des Landes besetzen, ähnlich der »Flugverbotszone« im kurdischen Nordirak 1990. Offiziell hat sich die Türkei zu einem solchen Vorhaben nicht geäußert, britische und arabische Medien allerdings berichten seit Tagen über entsprechende Pläne. Mohammad Riad Shakfa, Führer der Syrischen Muslimbruderschaft, erklärte in Istanbul, seine Landsleute würden eine türkische Intervention in Syrien gegenüber einer Intervention des Westens vorziehen. Ein Aktivist der oppositionellen Protestbewegung sagte gegenüber jW, seiner Einschätzung nach würden 70 Prozent der Aktivisten seiner Bewegung jede ausländische Intervention ablehnen.

* Aus: junge Welt, 19. November 2011


"Nachts will jeder zu Hause sein"

Journalisten besuchten die syrische Stadt Hama

Von Karin Leukefeld, Damaskus **


Eine Gruppe ausländischer Journalisten hat in Begleitung von Vertretern des syrischen Informationsministeriums die Stadt Hama besucht.

Heftiger Regen geht nieder, als die Gruppe Hama erreicht. Vertreten sind neben dem ND chinesische und russische Medien, ein kubanischer Korrespondent von Prensa Latina, die renommierte »Irish Times« und »The National«, die in Dubai erscheint.

Begleitet von einem Polizeiwagen und einer Eskorte der staatlichen Sicherheit, zeigt ein Vertreter des Gouverneurs von Hama den Reportern die Spuren von Angriffen, mit denen bewaffnete Gruppen, wie es heißt, die Stadt zwischen dem 31. Juli und dem 8. August erschütterten: ein ausgebrannter Offiziersklub, ein ausgebranntes Gericht, eine zerstörte Polizeistation, in der 17 Sondereinsatzkräfte getötet wurden. Dann geht es zu einer Brücke, von der die Toten in das Flussbett des Orontes geworfen wurden.

Der Generalstaatsanwalt im Gericht hat nur wenig Zeit für Fragen. Er sei seit vier Jahren in Hama und habe sich nie so unsicher gefühlt. Erst am Vorabend seien wieder Schüsse und Explosionen am Stadtrand zu hören gewesen, so gehe das seit Monaten. Auf den Fluren des Gerichts stehen die Menschen im Halbdunkel. Der Strom ist ausgefallen, die ausgebrannten Büroräume im Untergeschoss wurden provisorisch auf andere Räume in den oberen Stockwerken verteilt. Eine Frau wartet auf die Genehmigung, das Auto ihres Sohnes abholen zu können, das nach einem Unfall beschlagnahmt worden war. Ein Mann will Auskunft über seinen verhafteten Bruder, eine weitere Frau wartet auf Papiere, weil ihr Sohn heiraten will.

Die Menschen in Hama versuchen, den Alltag zu bewältigen. Manche verdrängen die gewaltsamen Auseinandersetzungen, andere sagen, sie seien froh, dass die Armee dem Spuk Anfang August ein Ende bereitet habe und die Stadt schütze. Bei der Rundfahrt sind weder Panzer noch große Gruppen von Soldaten zu sehen. Vor Eingängen zu öffentlichen Gebäuden und an den zahlreichen Kreisverkehren werden Stellungen mit Sandsäcken von ein oder zwei Soldaten gehalten, der Zugang zum Sitz des Gouverneurs ist frei.

Gouverneur Anas Na'em hat seinen Posten erst im August angetreten, sein Vorgänger musste wegen Korruption und schlechter Amtsführung gehen. In den vergangenen zwei Monaten seien wöchentlich bis zu fünf Entführungen bekannt geworden, sagt Na'em. »Darunter zwei Bürgermeister aus umliegenden Orten, alle wurden getötet vor den Häusern der Familien abgelegt.« Selbst gebaute Bomben würden in Papierkörben deponiert, vor wenigen Tagen sei ein Arbeiter der Müllabfuhr dadurch verletzt worden.

Wie im ganzen Land gebe es auch in Hama Probleme bei der Energieversorgung, sagt der Gouverneur. Der Handel sei um mindestens 20 Prozent zurückgegangen, der für Syrien so wichtige Tourismus sei komplett zum Erliegen gekommen. »Wie Sie wissen, brauchen Touristen Sicherheit und Ruhe, was wir seit Monaten leider nicht mehr haben«, so Gouverneur Na'em. »Wenn es hier dunkel wird, will jeder zu Hause sein. Die Stadt wird zu einer Geisterstadt.«

Die schweren Regenwolken lassen den kalten Novembertag früh zu Ende gehen. Als unser Bus in den frühen Abendstunden Hama Richtung Damaskus verlässt, stauen sich vor den Tankstellen lange Schlangen von Fahrzeugen und Menschen. Seit den EU-Sanktionen sind Diesel und Heizöl knapp.

* Aus: neues deutschland, 19. November 2011


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