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Die Äbtissin fragt: Wer sind die Angreifer?

Auch die Städte Deraa und Sednaya hat der syrische Bürgerkrieg gezeichnet

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Unsere Korrespondentin in Syrien, Karin Leukefeld, hat alles versucht, um nach all den alarmierenden Nachrichten der jüngste Tage aus Homs diese Großstadt erneut zu besuchen, aus der sie erst kürzlich für »nd« berichtete. Das wurde ihr vorerst nicht gestattet. Dafür kann sie uns Eindrücke von einer Visite in Deraa und Sednaya schildern, zwei ebenfalls von den Unruhen gezeichneten Städten.

Seit Tagen versuchen Journalisten, die offiziell aus Damaskus berichten, nach Homs zu fahren. Angesichts der Nachrichten, die internationale Medien unter Berufung auf Aufständische von dort verbreiten, wäre es dringend erforderlich, sich selber vor Ort ein Bild von der Lage zu machen. Doch das Informationsministerium gibt kein grünes Licht. Die Sicherheitslage ist offenbar so prekär, dass weder die Armee noch die geheimdienstlichen Sicherheitskräfte der journalistischen Recherche vor Ort zustimmen. Sich auf eigene Faust auf den Weg nach Homs zu machen, birgt unwägbare Risiken, und so nahm die Autorin an Fahrten nach Deraa und Sednaya teil, die das Informationsministerium organisierte. Auch dort sind die Folgen der Krieges in Syrien zu sehen.

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Niemand weiß, woher die Mörsergranate kam. Am 31. Januar um die Mittagszeit habe sie plötzlich einen lauten Knall gehört, berichtet die Äbtissin des kleinen Ordens, der seit Jahrhunderten in dem Kloster der Jungfrau Maria in Sednaya zu Hause ist. Eine Erschütterung habe die dicken Mauern erzittern lassen, dann sei es still geworden. Die Nonnen liefen hinauf auf die Plattform, die die gesamte Klosteranlage überspannt, und sahen, dass in einem der Gästezimmer das feste Mauerwerk weit aufgerissen war. Am Boden lag der gespaltene Kopf einer Mörsergranate, die offenbar von einem dort stehenden Sessel gestoppt worden war. »Die Jungfrau Maria hat uns beschützt«, ist die Ordensleiterin überzeugt, die seit 62 Jahren in dem griechisch-orthodoxen Orden lebt.

Einige der Journalisten äußern Zweifel. »Warum wird das Kloster angegriffen, wenn es doch unter dem Schutz der Jungfrau Maria steht?«, fragt die Kollegin einer spanischen Zeitung. Das müsse sie diejenigen fragen, die die Granate abgefeuert hätten, antwortet die Äbtissin knapp. »Und wer sind die Angreifer?«, will die Kollegin weiter wissen. Sie wisse es nicht, aber vielleicht könnten die Journalisten ja herausfinden, warum das alles in Syrien geschehe? Schließlich weist die Äbtissin eine der jüngeren Nonnen an, der Journalistengruppe das Zimmer zu zeigen.

Schwester Stefanie eilt vor der Gruppe die Treppe zur Dachterrasse empor, die einen herrlichen Blick in alle vier Himmelsrichtungen bietet. Vor 40 Jahren sei sie als Waisenkind in das Kloster gekommen, erzählt die energische Nonne. Über einen breiten Sims, der zum tief liegenden Hof mit einem Geländer abgesichert ist, geht es an den Schlafräumen der Waisenkinder vorbei zu dem zerstörten Gästezimmer. Die Mauer zwischen den kleinen, schmalen Fenstern ist behelfsmäßig repariert, das Mobiliar - zwei Betten, Tisch, Stühle und Sessel - sind im Nachbarraum gestapelt. Glücklicherweise sei niemand im Zimmer gewesen, sagt Schwester Stefanie.

An der Fahrt nach Deraa am folgenden Tag nehmen 25 Journalisten ausländischer Medien teil. Der Bus wird von einem grün-weißen, ausrangierten Polizeifahrzeug aus Deutschland am Ortseingang erwartet, »Protokoll« steht auf den Seitentüren.

Am Sitz des Gouverneurs Mohammed Khaled Hannous erhält die Gruppe eine Chronologie der Ereignisse seit dem schicksalhaften Märztag vergangenen Jahres. Damals hatte eine Gruppe von Schuljungen regimefeindliche Parolen an eine Schulwand geschrieben. Ihre Inhaftierung und Misshandlung, die der Vorgänger von Hannous mit zu verantworten hatte, lösten die Unruhen aus. Hannous nimmt sich Zeit, die Fragen der vielen Journalisten zu beantworten, nicht alle finden einen Sitzplatz, das Gedränge ist groß.

Man könne die »sichersten Plätze« in Deraa besuchen, sagt der Gouverneur, der Zorn vieler Einwohner der Provinz und die anhaltenden Angriffe bewaffneter Gruppen auf Armee und Sicherheitskräfte, können offenbar nur bedingt eingedämmt werden. 300 000 Menschen leben in Deraa, weitere 1,16 Millionen in der umliegenden Provinz. Bei der Fahrt durch den Ort wird der Bus wie eine offizielle Delegation von der Polizei begleitet, die Bevölkerung verfolgt das Geschehen mit wenig Interesse. Vor dem ehemaligen Gerichtsgebäude können die Journalisten Interviews mit Passanten führen. »Kommen Sie in mein Dorf«, sagt ein Mann, der in die Stadt gekommen ist, um Brot und Lebensmittel zu kaufen. »Dort kann ich mit ihnen sprechen.«

Bei gewaltsamen Protesten im April vergangenen Jahres war das Gerichtsgebäude gestürmt und in Brand gesteckt worden. Von den 15 Schreibern und Notaren, die vor dem Gebäude tätig waren, sei er als Einziger geblieben, sagt Jihad Jamous (47). Die anderen Schreiber hätten aufgegeben, nur die es sich leisten konnten, hätten einen Laden neben den neuen Räumen gemietet, in die das Gericht umgezogen sei. »Die Miete dort kostet 15 000 Syrische Pfund (etwa 180 Euro), sagt Jamous, dessen täglicher Verdienst demnach zwischen fünf und zehn Euro schwankt. »Das kann ich mir nicht leisten«.

* Aus: neues deutschland, 8. Februar 2012


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