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"Was ist mit dem Freiheitsversprechen?"

20 Jahre nach dem Ende der Apartheid kämpft Südafrika noch immer mit seinem schweren Erbe, Korruption und gebrochenen Versprechen. Die Ungeduld der Armen wächst. Die Elite macht Nelson Mandela zum Heiligen und bringt selbst keine Opfer. Ein Gespräch mit Denis Goldberg *


Denis Goldberg wurde 1933 in Kapstadt geboren. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Südafrikas (SACP) schloß er sich dem Anti-Apartheid-Kampf an und war maßgeblich am Aufbau des bewaffneten Arms des African National Congress (ANC), Umkhonto we Sizwe, beteiligt. 1964 wurde er in Pretoria gemeinsam mit Nelson Mandela und sechs weiteren Angeklagten zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach seiner Freilassung 1985 ging Goldberg ins Exil nach London, kehrte 2002 nach Südafrika zurück und arbeitete bis 2004 als Berater des Ministers für Wasser und Forstwirtschaft, Ronnie Kasrils in der Regierung von Präsident Thabo Mbeki.
Wir dokumentieren im Folgenden ein längeres Interview, das die "junge Welt" mit Denis Goldberg geführt und in zwei Teilen abgedruckt hat.



Nelson Mandela, an dessen Seite Sie gegen die Apartheid gekämpft haben, wurde in den vergangenen Jahren oft als moralische Institution dargestellt, die Südafrika zusammenhält. Wie haben die Menschen in Südafrika auf seinen Tod reagiert?

Ich glaube, daß die Art und Weise, wie mit seinem Tod umgegangen wurde – nicht nur in Südafrika, sondern weltweit – die Großartigkeit Nelson Mandelas beschädigt hat. Er wurde als simpler Heiliger dargestellt, der große Versöhner. Aber der Fakt, daß er ein Führer unter Führern einer sehr mächtigen Befreiungsbewegung war, die ihn geprägt und die er im Gegenzug geprägt hat, wurde weggelassen. Die Größe Nelson Mandelas und seiner Mitanführer bestand nicht nur darin, daß wir das Ende der Apartheid erreicht haben, einer formalpolitischen, rassistischen Herrschaft, sondern in der Art und Weise, wie das geschafft wurde: durch das Mobilisieren von Hunderttausenden Menschen in Südafrika und Hunderttausenden Menschen weltweit, um deren Regierungen dazu zu bringen, unseren Kampf für Gerechtigkeit zu unterstützen.

Unser Kampf ist nicht vorbei. Mandelas Tod wurde so behandelt, als ob alles erreicht sei. Aber alles, was wir erreicht haben, ist der erste Schritt zum formellen Ende der Apartheid. Wir müssen unsere Freiheit aufbauen. Als Mandela nach 27 Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden war, hat jemand zu ihm gesagt, »Gut, jetzt sind Sie frei«, und er hat geantwortet: »Nein, wir haben jetzt die Freiheit, frei zu werden.« Wir reden von den richtigen Worten, aber ich will die Taten sehen – von unserer Regierung, von den Führern der Zivilgesellschaft, von Leuten, die Mandela lobpreisen, aber selbst nichts opfern. Die großen Konzerne sagen, man kann die Arbeitsverhältnisse nicht ändern, und deshalb müssen wir weiter Armut und unterbezahlte Arbeiter haben. Ich finde das abscheulich. Das ist, als wenn man sagt, Nelson Mandela hat uns dieses Geschenk gegeben, und wir müssen nichts mehr machen. Das ist das Falsche an der Art, wie sein Tod zelebriert wurde, weltweit.

Mir schien es, als ob Nelson Mandela in den vergangenen Jahren beinahe zu Tode umarmt wurde von den Konzernen ...

Ja, natürlich!

Ich war verwundert, daß die South African Communist Party (SACP) seine Mitgliedschaft im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei erst nach seinem Tod öffentlich gemacht hat.

Am Tag nach seinem Tod hat die Kommunistische Partei gesagt, daß Nelson Mandela nicht nur Mitglied der Partei, sondern des Zentralkomitees war. Ich persönlich bin mir da nicht sicher. Ich bin sicher, daß es keine Dokumente gibt, um es zu belegen. Ich weiß, daß er an Treffen mit Mitgliedern des Zentralkomitees teilgenommen hat, weil mir Genossen das gesagt haben, die dabeiwaren. Die Frage ist: Hat er als Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei teilgenommen oder als Repräsentant des African National Congress (ANC)? Die Zeit, über die wir reden, ist die der Vorbereitung zur Proklamation unseres bewaffneten Kampfes, als Kooperation unabdingbar war. Denn ich weiß, daß es in der Kommunistischen Partei bereits eine Entscheidung gab, mit dem Aufbau bewaffneter Einheiten zu beginnen. Als Kommunisten isoliert zu bleiben, wäre absurd gewesen. Deshalb gab es Diskussionen mit Mandela, der zu der Zeit der große Untergrundführer war – Oliver Tambo war außer Landes geschickt worden, als Vorsichtsmaßnahme für den Fall der Verhaftung aller anderen. Daß die kommen würde, das war klar. Also war Mandela da. War er als Kommunist da, als ANC-Vertreter oder als Führer des Umkhonto we Sizwe (bewaffneter Arm des ANC, gegründet 1961, jW)? Diese Dinge sind unklar.

Hätte er es Ihnen nicht irgendwann erzählt?

Im Gefängnis gab es so einen Moment. Die Beweislast gegen ihn – und uns alle – war erdrückend. In unserem Versteck auf der Liliesleaf-Farm, wo wir verhaftet wurden – Mandela war schon im Gefängnis – wurden seine Tagebücher gefunden. Er war ein gewissenhafter Student der Politik und der Militärwissenschaft. Er hat gelesen, analysiert, geschrieben. Er hat große Teile von Büchern abgeschrieben, die er unbedingt verstehen wollte. Liu Shaoqis »Wie man ein guter Kommunist wird« war ein Beispiel. Während seiner Rede im Rahmen des Verfahrens (Rivonia-Prozeß von Oktober 1963 bis Juni 1964, jW) hat Mandela gesagt, daß er politische Theorien sehr ernsthaft studiert hat und Marxismus und Kommunismus sehr attraktiv fand. Aber er wußte, daß er in einer geteilten Welt helfen mußte, die maximale Einheit aufzubauen, um die Apartheid zu überwinden. Und er hat entschieden, daß er keine spezifische Ideologie wählen werde. Er werde ein afrikanischer Nationalist sein, der Einigkeit schafft, um hauptsächlich afrikanische Menschen zu befreien, aber auch alle Menschen, die nicht weiß sind. Er hatte damals aber bereits vollständig die Sichtweise übernommen, daß Südafrika all denen gehört, die dort leben: Schwarzen und Weißen gemeinsam. Das hat er auch in der Rede wieder so gesagt, und das hat seinen Ursprung in unserer Freiheitscharta von 1955 und in der Politik davor.

War er also ein Mitglied der Partei? Warum das zu diesem Zeitpunkt bekanntgegeben wurde, verstehe ich nicht. Wäre es öffentlich gemacht worden, als er noch lebte und an der Diskussion teilnehmen konnte, hätte es mehr Bedeutung gehabt. Ich denke, das war ein Fehler. Aber vor dem Hintergrund der Feindseligkeit gegen den Kommunismus und der Notwendigkeit, die Einheit aufrecht zu erhalten, kann ich auch verstehen, warum es geheimgehalten wurde. Denn wir hätten eine Menge Unterstützung verloren – so wie damals, als der ANC im Exil mit Oliver Tambo als Repräsentanten einer sogenannten friedlichen Bewegung in der Lage war, Unterstützung aus Afrika, Europa und so weiter zu gewinnen. In dem Moment, als wir zu den Waffen gegriffen haben, haben sie gesagt »Nein, nein!«. Und wir haben um Hilfe gebeten: die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich. »Oh nein, oh nein, ihr seid nur ein Haufen Terroristen.« Die Sowjetunion und der Ostblock haben dann geholfen, also mußten wir ja Kommunisten sein. Mandela hat in dieser Rede während des Prozesses gesagt: »Wissen Sie, das ist, als würde man sagen, Winston Churchill muß Kommunist gewesen sein, weil Großbritannien und die Sowjetunion zusammengearbeitet haben, um Nazi-Deutschland zu besiegen«. Es ist diese Art absurdes politisches Argument – und damit waren wir konfrontiert und sind es bis heute. In Deutschland wird heute jemand Vorsitzende im Haushaltsausschuß des neuen Bundestags (gemeint ist Gesine Lötzsch, jW) und die CDU sagt, sie darf das nicht sein, weil sie sich nicht vom Kommunismus distanziert hat. Wie lange geht der Kalte Krieg noch weiter?

Sie haben gesagt, daß es Mandela und den Hunderttausenden, die für die Befreiung gekämpft haben, nicht gerecht würde, ihn zum Heiligen zu machen. Dennoch hat er Südafrika geprägt, insbesondere als Präsident. Wird Südafrika anders sein ohne Mandela?

Meine Hoffnung ist, daß wir dadurch, weiterhin über die Werte zu reden, die er und seine Generation aufrechterhalten haben, unser Volk zusammenbringen und unseren Kampf stärken werden. Aber wir dürfen das nicht nur mit Worten tun, denn ohne Handeln demobilisiert das die Leute. Wir leben in einer Form von Demokratie. Wir werden dem auf lokaler Verwaltungsebene nicht immer gerecht, weil unser Management schrecklich ist, aber das hat meiner Meinung nach historische Gründe. Wir haben einfach keine adäquat ausgebildeten und erfahrenen Behörden – deshalb ist die Bereitstellung öffentlicher Dienste schwierig. Sie wird sogar noch erschwert durch Leute, die jetzt sagen, daß früher weiße Siedler gekommen sind und mit Lügen, einseitigen Geschäften und Raub reich geworden sind – und jetzt werden »wir« das gleiche machen. Ich bin 80 Jahre alt, ich habe drei Perioden durchlebt: In der ersten hatte das britische Kapital die Kontrolle. Dann waren es die burischen Nationalisten. Innerhalb von 20 Jahren sind damals die Leute, die zuvor von ökonomischer Macht ausgeschlossen waren, sehr schnell extrem reich geworden. Und jetzt durchlebe ich die dritte Phase. Es liegt in der Natur des Kapitalismus weltweit: Unsere Leute werden wütend, sie sehen Menschen, die den Weg zu größerer Gleichheit weisen sollten, aber sich auf Kosten des Volkes selbst bereichern. Die Enttäuschten nutzen unsere Demokratie, um zu protestieren, und ich unterstütze sie vollkommen.

Worum geht es bei diesen »Service-Delivery-Protests« gegen den Zustand öffentlicher Dienste?

Die Menschen protestieren, weil Regierungen Versprechen gemacht haben, die sie nicht einhalten können. 1994 bei den ersten freien Wahlen gab es eine Schätzung, wonach wir 750000 Häuser brauchten. Wir haben drei Millionen gebaut, und jetzt sagen wir, daß wir noch eine halbe Million brauchen. Die Leute verlassen die ländlichen Gegenden, und Menschen, die schon in einem kleinen Haus mit vielen Hütten drumherum in der Stadt leben, realisieren, daß sie auf eine Warteliste für ein Haus kommen, wenn sie sich ihre eigene Hütte bauen. Das ist logisches Handeln. Statt als große Familie von zehn, zwölf oder 14 Mitgliedern in einem kleinen Haus zu wohnen, wollen sie jetzt vier Häuser. Korrekterweise! Aber das realisiert sich nicht. Und wenn Offizielle Geld zur Verfügung haben – von der Regierung, der Provinz oder der Lokalbehörde – aber jedes Jahr Mittel zurückgeben, weil sie nicht wissen, wie sie es richtig auszugeben und zu kontrollieren haben, dann werden die Leute wütend. Warum gibt es keine Straßen? Warum gibt es keine Laternen? Warum ist die Schule so schlecht ausgestattet? Jedes Ministerium gibt jedes Jahr Geld zurück, obwohl wir solch einen dringenden Bedarf haben. Es liegt nicht daran, daß unsere Leute das absichtlich machen. Uns wurde ein Erbe ohne adäquaten öffentlichen Dienst hinterlassen. Warum wir es nicht geändert haben? Gute Frage, wenn die halbe Bevölkerung nicht lesen kann und nie in einem Büro gearbeitet hat. Wir haben auf einen Schlag 284 Kreisverwaltungen geschaffen, die das ganze Land abdecken. Oft gingen die von einer kleinen »weißen« Stadt von 30000 Einwohnern aus und hatten einen Umkreis von 200 Kilometern Durchmesser. Da gibt es aber keine Steuerbasis, keine Ingenieure, keine Buchhalter, keine Stadtplaner, kein Gesundheitspersonal – und nun muß sich der neue Stadtrat um dieses ganze Gebiet kümmern.

Die alten Beamten, die Weißen, haben ihre Abfindung kassiert und sind jetzt Berater. Die erstellen einen Plan, das ist ein dickes Buch mit allem, was gebraucht wird. Aber ein wirklicher Plan beschreibt, was man zuerst baut und wie man das finanziert. Sie wollen Wasser – wo kommt das Wasser her? Wie stimmt man die Regularien mit der Provinz- und Nationalregierung ab? Die Leute, die das können, gibt es nicht. Ganz langsam kommt das. Aber es gibt keine Stadt in Südafrika, die keinen großen Zuzug aus ländlichen Gebieten hatte. Während der Apartheid waren die dort eingesperrt. Jetzt dürfen sie sich frei bewegen. Ihnen wurde auf dem Lande ein Haus gegeben, aber jetzt ziehen sie in die Stadt, weil es dort Arbeit gibt, und wollen ein neues Haus.

Warum protestieren die Leute? Die Regierung baut Häuser für die Leute. Die sind leider sehr klein, wir nennen sie »Streichholzschachtelhäuser«, aber sie sind aus Stein gemauert und haben ein richtiges Dach. Die Unternehmer, die sie bauen, nennen wir »aufstrebende Geschäftspartner«. Das ist die nette Bezeichnung für schwarze Bauarbeiter, die Geschäftsmänner sein wollen. Das ist ökonomische Ermächtigung. Viele von denen klauen Zement. Einige der Häuser fallen auseinander. In einigen Fällen werden sie für Häuser bezahlt, die gar nicht gebaut wurden, weil sie Offizielle bestechen. Das ist in vielen Teilen des Landes passiert und jetzt werden die Leute zu Recht wütend darüber. Aber was mich wirklich wundert: Unseren Leuten wird nachgesagt, sehr religiös zu sein. Bis Montag morgen, dann vergessen sie die Moral, dann ist es »Business as usual«, das übliche Stehlen: ›Es ist meine Regierung, ich kann nehmen, was ich will, vergiß die Leute, denen ich dienen sollte.‹ Das ist ein weltweites Phänomen, wir sind nicht anders als andere Völker, aber wir können es uns nicht leisten – weder politisch noch sozial noch ökonomisch. Im reichen Deutschland gibt es Korruption, aber irgendwie schafft ihr es. Das reiche – ehemals reiche – Großbritannien: Korruption unter Parlamentariern, von 600 haben nur zwei kein Geld gestohlen mittels der Privilegien, die sie genießen. Wege zum Betrügen finden, so ist unsere Gesellschaft – und wir leiden darunter.

Im vergangenen Jahr schien es nun, daß der ANC sich damit auseinandersetzen wollte, indem er sich das Ansehen von Genossen zunutze machte, die wie Sie lange im Freiheitskampf aktiv waren. Im März 2013 wurde daher eine »Integritätskommission« aufgebaut, in die Sie berufen wurden – gemeinsam mit Persönlichkeiten wie Andrew Mlangeni oder Ahmed Kathrada.

Ahmed Kathrada hat das abgelehnt, weil er nicht gefragt wurde. Er wurde informiert. Ich wurde auch nicht gefragt, mir hat jemand Bescheid gegeben, der es in der Zeitung gelesen hatte. Ich bin Mitglied, aber ich habe eine Auszeit genommen, weil ich viel unterwegs bin. Es ist eine großartige Idee, aber die Kommission braucht starke Rückendeckung und administrative Unterstützung, um effektiv zu sein.

Was ist Ihre Aufgabe?

Der Auftrag, den uns die Nationalkonferenz (des ANC, jW) im Dezember 2012 in Bloemfontein, Mangaung, gegeben hat, war der, uns mit Mitgliedern zu befassen, die den ANC in Mißkredit bringen. Es geht um Leute, die sich weigern, sich an Regularien zu halten, ihre wirtschaftlichen Interessen offenzulegen, während sie beispielsweise Parlamentsmitglieder oder im Stadtrat sind, wo es anhaltende Berichte von Korruption gibt. Wir sind kein Gericht. Unsere Aufgabe ist es, Leute aufzufordern, Erklärungen vorzulegen. Wenn wir es für ausreichend halten, informieren wir das Sekretariat des ANC, das dann über den Bericht an das Nationale Exekutivkomitee und die weiteren Schritte entscheidet. Aber es gibt jeden Tag Berichte in den Zeitungen über Korruption. Hängen wir nur davon ab? Oder müssen wir weitere Informationen bekommen? Wir brauchen Unterstützung, wir brauchen administrative Stärke – und die haben wir nicht. Langsam wird das geschaffen.

Es gibt in Südafrika sogar einen eigenen Begriff für diese aufkommende Klasse von Geschäftsleuten, die »Tenderpreneurs« (von »to tender« – »sich an einer Ausschreibung beteiligen« und »entrepreneur« – »Unternehmer«, jW). Warum hat Ihr Land mit diesem Problem so stark zu kämpfen?

Wir haben dieses Problem immer gehabt, auch während der Apartheid. Die Ausschreibungsprozesse waren damals immer korrupt, aber die Weißen waren eine Minderheit, also betraf es eine Minderheit. Jetzt, da wir das Programm der wirtschaftlichen Ermächtigung Schwarzer haben, gibt es Hunderttausende beteiligte Menschen – und deshalb ist es eine viel größere Geschichte. Und die wird es auch, weil die Me­dien – wie anderswo auf der Welt – von Skandalen leben. Sie lieben Skandale. Ab und zu gibt es ein kleines Stück in der Tageszeitung, das uns sagt, wie viele Korruptionsfälle untersucht wurden, wie viele abgeschlossen wurden, wie viele Leute schuldig gesprochen wurden und wieviel Geld sie zurückgezahlt haben. Aber das sind ein paar Zentimeter, und es hält für eine Ausgabe an. Und am nächsten Tag: Zurück zu den großen Überschriften über irgendeinen großen Skandal, manchmal egal, ob es stimmt oder nicht. Wenn es nicht wahr ist, wird die Berichtigung irgendwo im Blatt vergraben.

Es gibt Korruption in großem Ausmaß, und unglücklicherweise wird dem Präsidenten für alles die Schuld gegeben. Aber der Höhepunkt des alten Waffengeschäfts, das der tatsächliche Anfang massiver Korruption war, lag in der Zeit der ersten Regierung nach dem Ende der Apartheid. Warum geben wir also dem aktuellen Präsidenten die Schuld? Ich habe ihn auf deutsch als »Pechvogel« beschrieben. Ist er sich bewußt, was alles in seinem Namen getan wird? Ich habe meine Zweifel. Aber als Präsident muß er Verantwortung übernehmen und seine Stimme deutlicher erheben, als er das tut.

In unserer Gewerkschaftsbewegung und in einigen Veteranenorganisationen des ANC, bei den alten Umkhonto-Leuten, sagen schon einige: »Vielleicht sollte sich die gesamte Führungsspitze zurückziehen. Wir brauchen einen Neustart«. Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde, denn das hätte einen ganz neuen Lernprozeß zur Folge, für eine ganze Menge von Leuten gleichzeitig. Was ich weiß, ist, daß eine Revolution nicht das Erringen der Macht ist, sondern die Konsolidierung der Macht, politischer Macht, ökonomischer Macht. Und wir haben die ökonomische Macht nicht. In einem weltweiten System großer Konzerne, mächtiger als viele Regierungen, ist es nicht leicht, Arbeitsplätze zu schaffen. Die Hälfte unserer Bevölkerung hat keine reguläre Arbeit, in jedem Fall sind über 40 Prozent ohne Job. Und schlimmer noch: Unser Bildungssystem wird langsam besser und mehr als 40 Prozent der jungen Leute – nicht unbedingt gut ausgebildet, aber die besten, die wir je hatten – sind arbeitslos. Das ist sehr frustrierend. Was ist mit dem Freiheitsversprechen? Die Leute sind zu Recht ungeduldig, denn wir scheinen diesen revolutionären Geist verloren zu haben, der uns getragen hat. Aber nicht nur in der Regierung.

Ich habe mit Gewerkschaftern aus den Bereichen Bildung und Gesundheit gestritten: Ja, ihr müßt besser bezahlt werden. Ihr braucht bessere Arbeitsbedingungen. Aber ihr seid Teil der gebildeten Elite unseres Landes, habt das größte Politikverständnis und seid am besten organisiert. Ihr seid diejenigen, die unser Land transformieren müssen, ob ihr gut bezahlt seid oder nicht. Denn ihr seid Bürger genauso wie Gewerkschaftsmitglieder.

Das führt uns zurück zu Mandela. »Mandela hat für uns Opfer gebracht.« Diese Haltung ist fast religiös. Jesus hat Opfer für uns alle gebracht, so reden sie über Madiba. Aber was opfern sie selbst? Was tun sie täglich, um unser Land zu transformieren? Verlangen Lehrer von ihren Genossen in der Verwaltung, die in einer anderen Gewerkschaft sind, daß die ihren Job machen, damit die Lehrer ihren machen können? Nehmen die ANC-Ortsvorsteher, Sekretäre und Schatzmeister Beschwerden von Eltern entgegen? Oder sind sie gleichzeitig die Lehrer und das Gesundheitspersonal, weil sie jetzt schon die am meisten gebildeten sind und den Ortsverband kontrollieren? Wenn es also eine Beschwerde gegen sie selbst gibt, geben sie die weiter? Die Probleme müssen Schritt für Schritt gelöst werden.

Wir zahlen allen älteren Menschen unterhalb eines gewissen Einkommensniveaus eine Rente. Das gab es früher nur für Weiße. Also fährt ein LKW hinaus aufs Land, um das Geld an die Leute dort auszuzahlen. Da warten dann Diebe. Wo ist die Idee von Ubuntu, des afrikanischen Humanismus, den es geben soll? Gut, wir sind sehr modern, wir kennen digitale Technik, also schicken wir einen LKW raus, der wie eine mobile Bank ist und bewachen ihn. Die Identitäten der Empfänger werden alle per Internet übermittelt, damit das Geld nicht falsch abgehoben werden kann. Aber das reicht nicht, das Geld muß auf Konten ausgezahlt werden. Doch es gibt keine Banken in den kleinen Dörfern, keine Konten. Also zwingt man die großen Banken, eine Bank für die Leute zu schaffen, die Mzansi Bank, fast völlig gebührenfrei, kostenloser Service. Die Leute bekommen ihr Geld jetzt auf ihr Konto und haben ihre kleinen Karten. Und dann gibt es Korruption, um diese Karten zu fälschen! Schritt für Schritt löst man die Probleme in einer korrupten Gesellschaft. Wir werden nicht korrupt geboren. Wir werden korrupt gemacht, durch das System – und durch unseren Mangel an Moral. Das ist wahr, auf der ganzen Welt.

Wir zahlen Kindergeld bis zum Alter von 18 Jahren. Das ist nicht viel Geld, aber es macht den Unterschied zwischen Verhungern und Überleben aus. Man löst ein Problem, man schafft ein neues. Und wenn man das löst, entstehen wieder neue – das geht immer so weiter, während man immer mehr erreicht.

"Unser Land war naiv"

Südafrikas größte Einzelgewerkschaft, die Metallarbeitergewerkschaft NUMSA, hat nach ihrem Sondergewerkschaftstag im Dezember bekanntgegeben, daß sie den ANC nicht mehr unterstützt. Dies, obwohl sie Mitglied im größten Gewerkschaftsdachverband, COSATU, dem Allianzpartner der Regierung aus ANC und SACP, ist. Was meinen Sie, warum eine große Organisa­tion wie die NUMSA, die immer Teil des Anti-Apartheid-Kampfes war, keine ­Chance mehr sieht, die Regierungsallianz von innen beeinflussen zu können?

Schwarze Südafrikaner haben, wie andere Menschen auch, unterschiedliche ideologische Positionen. Die Metallarbeitergewerkschaft war immer links, manchmal ultralinks. Die glauben, wir sollten direkt zum Sozialismus übergehen. Die Aussichten auf eine sozialistische Revolution in der derzeitigen Welt halte ich für ziemlich gering. Voranzukommen zu einer größeren Sozialdemokratie ist eine Möglichkeit. Die Annahme einiger NUMSA-Ideologen ist die, daß wir gegenwärtig nicht in einer kapitalistischen Gesellschaft leben müssen, daß wir anders sein können. Ich bin mir nicht sicher, ob das mit den Großkonzernen und auch mit den Unterdrückten selbst politisch realisierbar ist. Die Leute wollen kein Chaos auf der Welt, nicht mehr Tote. Sie wollen überleben, sie wollen, daß ihre Kinder zur Schule gehen, sie wollen eine bessere Verwaltung. In meinen Augen stellt sich die Frage, was die Bedeutung unserer Nationalen Demokratischen Revolution ist. Ist sie nur die Ausweitung der Rechte, die Weiße während der Apartheid hatten, auf alle unsere Leute, oder ist sie mehr? Unsere Verfassung garantiert das Recht auf Bildung, das Recht auf Arbeit, das Recht auf ausreichende Nahrung, saubere Luft, sauberes Wasser. Ich glaube, wir haben große Fortschritte gemacht, aber wir haben die Wirtschaft nicht transformiert. Und die, die annehmen, daß der ANC eine sozialistische Organisation sei, liegen falsch. Er ist Mitglied der Sozialistischen Internationale, das ist eine sozialdemokratische Internationale, keine marxistische, sozialistische Bewegung. Die NUMSA fordert etwas, was eine Befreiungsbewegung, die mehrere Klassen in sich vereint, nicht leisten kann. Sie will, daß sich der Kampf auf die Arbeiterklasse allein konzentriert. Aber man kann keine Bourgeoisie haben ohne Proletariat, und man kann kein Proletariat haben ohne Bourgeoisie.

Ich habe gesehen, wie meine Genossen, die sogenannten, die Kontrolle über Staatsunternehmen übernommen haben: Strom, Öl aus Kohle, Luftfahrt, Schienen. Die Regierung ist der Eigner, aber Besitz und Management sind getrennt, und die Manager haben sich häufig aus den Mitteln des öffentlichen Dienstes bereichert. Das sind Unternehmen, die unserem Volk dienen sollen. Jetzt haben wir eine neue Generation junger Führer, die sagen, wir müssen mehr verstaatlichen, damit sie auch Teil des großen Geschäfts werden können. Will ich mehr Korruption? Nein. Meiner Meinung nach ist der Zweck nicht, dem Volk zu dienen, sondern denen selbst. Das sind Leute, die sehr schnell sehr reich geworden sind – und ja, sie wurden angeklagt, aber die Fälle sind schwer zu beweisen. Und plötzlich sind sie jetzt Sozialisten und wollen dem Volk dienen. Ich glaube denen nicht.

Es geht darum, wie man ein Volk führt. Ich persönlich denke, daß die NUMSA und andere wichtige Themen ansprechen: Armut, Armutsbekämpfung, die Lücke zwischen schlecht bezahlten Arbeitern, Fachkräften und Hochqualifizierten. Diese Lücken müssen geschlossen werden. Sonst werden wir bald soziales Chaos haben, und ich befürchte, daß auf den Straßen Blut fließt, wenn wir mit der Wut der Menschen nicht vorsichtig sind. Aber unsere Führung scheint nicht in der Lage zu sein, die Besitzenden zu überzeugen – die alten Firmenbosse, die weißen Angestellten, aber auch die Schicht der schwarzen Manager, Anteilseigner, reicher Leute, die kooptiert wurden und das System auch erhalten wollen, weil sie so schnell reich werden. Die haben keine reale Kontrolle über die Wirtschaft. 30 Prozent eines Unternehmens durch deine Beteiligungsgesellschaft zu besitzen, bedeutet keine Kontrolle, insbesondere, wenn du auf deine Anteile Geld schuldest und auf die Dividende wartest, damit du sie abzahlen kannst. Da hältst du still. Also bestimmst du nicht die Strategie. Das ist Realität. Aber fragen Sie mal die Gewerkschaften und COSATU nach ihren Investitionen – über Banken und Investmentkonzerne – in der Wirtschaft! Gewerkschaften können die Position der arbeitenden Menschen stärken, aber sie sind Teil des kapitalistischen Systems. Und wenn sie das kapitalistische System umstürzen, verlieren sie all das Geld.

Aber es scheint, als wären sie dazu bereit.

Das wollen wir mal sehen. Ich lebe schon länger. Ich habe die deutschen Gewerkschaften gesehen, ich habe die britischen Gewerkschaften gesehen: An dem Punkt, an dem sie wirklich in der Lage sind, die Wirtschaft zu beeinflussen, ziehen sie zurück. In England bekommt der Sekretär den Ritterschlag, wird Lord und mit Sitz im House of Lords Teil der herrschenden Klasse. In Südafrika haben wir Gewerkschaftsgeneralsekretäre, die jetzt Shareholder der Großkonzerne sind.

Sie haben Leute erwähnt, die mit Verstaatlichungen persönliche Interessen verfolgen. Ich würde die Economic Freedom Fighters (EFF, die neue Partei des ehemaligen Präsidenten der ANC-Jugendliga, Julius Malema) in diese Schublade tun.

Ja.

Aber dem NUMSA-Kongreß sind regionale Gewerkschaftsversammlungen vorausgegangen, er traf eine demokratische Entscheidung. Meinen Sie, die NUMSA-Führung hätte überhaupt eine andere Option, als diesen radikalen Weg zu gehen? Würde ihr nicht das gleiche widerfahren wie der NUM, die sich 2012 gegen den Bergarbeiterstreik gestellt und massenhaft Mitglieder verloren hat?

Ja, natürlich. Im September 1993 hat Nelson Mandela auf einer ­COSATU-Konferenz vor rund 3000 Delegierten über die kommenden ersten Wahlen gesprochen. Er hat das Regierungsprogramm des ANC diskutiert und sich dann an die Arbeiter gewandt. Er wisse, hat er gesagt, daß es unter den Gewerkschaftern ein Gefühl gebe, der ANC würde die Arbeiterklasse verraten: »Aber ihr seid der ANC, ihr seid Mitglieder eurer Gewerkschaft und des ANC und wenn wir nicht tun, was ihr wollt, wählt eine neue Führung.«

Mandela wußte, daß viele der Gewerkschafter Mitglieder der Kommunistischen Partei waren. Zwei Drittel der dreiköpfigen Führungen in allen Orts- und Regionalverbänden des ANC waren auch SACP-Mitglieder. Chris Hani (1993 ermordeter SACP-Generalsekretär, jW) hat mir persönlich erzählt, daß Mandela ihn beauftragt hatte, das herauszufinden, und daß er völlig verblüfft war, wie stark sie waren. Aber die wurden nicht im geheimen gewählt, sondern weil sie Kommunisten waren, weil ihnen vertraut wurde. »Wenn ihr kritisch sein wollt, müßt ihr organisiert sein, ihr braucht eine starke Partei und eine klare Strategie. Dann könnt ihr unser Volk beeinflussen. Aber kritisiert nicht nur des Kritisierens wegen«, hat Mandela gesagt. Und, daß für seine Gruppe von Führern zu viel Blut vergossen worden ist, als daß sie kämpfen würden.

Mandela war Marxist, er hat den Marxismus verstanden. Er hat gesagt, daß es nicht um Freundschaft, sondern um organisierte soziale Kräfte geht. Wenn die Arbeiterklasse eine gewisse Politik will, muß sie sich selbst und andere von deren Richtigkeit überzeugen. Die Annahme der NUMSA-Leute ist, daß wir im Sozialismus leben und daß es Leuten an Integrität mangelt, weshalb sie kapitalistischen Linien folgen.

Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft. Wir kämpfen für eine Sozialdemokratie und hoffentlich, auf lange Sicht, für den Sozialismus. Trotz des Zusammenbruchs der Sowjetunion und des Ostblocks und sogar Chinas – die größte kommunistische Partei der Welt leitet einen Staat nach dem Muster des Staatskapitalismus – glauben meine Genossen, daß wir im kleinen Südafrika eine »reine« sozialistische Gesellschaft sein können. Das ist eine Absurdität. Es ist unrealistisch und muß zu Desillusionierung und Versagen führen. In meinen Augen ist das ein Mangel an politischer Reife.

Aber wie überzeugen sie Menschen? Im Februar 2013 habe ich in Rustenburg mit Bergarbeitern von Amplats (Anglo American Platinum, weltgrößter Platinförderer) gesprochen. Zu der Zeit befanden die sich in einem schweren Kampf. Der Konzern wollte Schächte schließen und Tausende entlassen. Wir haben über die anstehenden Wahlen geredet und alle diese Arbeiter haben mir gesagt, daß sie einst überzeugte ANC-Anhänger waren, aber daß sie die Partei nie wieder wählen würden, nachdem sie so im Stich gelassen worden seien. Die können Sie doch sicher verstehen?

Ich verstehe sie! Natürlich! Darum sage ich immer wieder, auch in meiner Autobiographie, daß es eine Frage der Zeit ist, bis der ANC zusammenbricht, weil er nicht weiter alle sozialen Klassen in einer Organisation repräsentieren kann. Leute wie ANC- und Staatspräsident Jacob Zuma – und ich weiß nicht, ob das eine direkte Antwort auf mich war – sagen, daß die Leute, die dem ANC prophezeien, an Klassenkonflikten zu zerbrechen, den ANC nicht verstehen. Aber ich denke, ich verstehe ihn besser, weil ich analytischer bin und meine politischen Ansichten weniger auf Ethnien basieren. Die Annahme, daß Schwarze für immer für Schwarze wählen, stellt sich als falsch heraus. Und das ist eine wichtige Entwicklung in unserem Land. Die Leute denken über Themen nach und nicht über Persönlichkeiten oder Hautfarben. Obwohl es gleichzeitig ein Gefühl von »wir sind schwarz, die Regierung sollte sich exklusiv um Schwarze kümmern« gibt. Die nicht-rassische Politik ist bedroht.

Ich habe eine Studie zu Weißen, die Teil der Befreiungsbewegung waren, erstellt. Ich habe mich einfach hingesetzt und darüber nachgedacht, wen ich kannte. Dann habe ich Freunde gefragt, zum Beispiel aus der Liberalen Partei, Leute, die unter Hausarrest waren, Leute, die im Gefängnis saßen, die wegen ihrer politischen Einstellung leiden mußten, Leute wie Neil Aggett, die unter Folter ermordet wurden. Weiße. Herausgekommen ist eine Liste von rund 600 Leuten, die allein ich kenne. Meine Genossen im Parlament wissen das nicht. Die wissen einfach nicht, daß Weiße Teil des Kampfes waren, und sie haben daran auch kein Interesse. Sie haben auch kein Interesse daran, daß Coloureds (Nachfahren aus Beziehungen zwischen weißen Siedlern, aus Asien entführten Sklaven und Einheimischen, jW) und Indischstämmige Teil des Kampfes waren. Das ist erstaunlich in einem Land, in dem die Verfassung gleiche Rechte für alle garantiert. Ein Kampf ist im Gange. Ich verstehe den Kampf. Ich verstehe das Streben nach Verbesserung von Lebensbedingungen, aber ich weiß auch, daß es dafür keinen Zauberstab gibt.

In einer Talkrunde neulich sagte der Moderator: »Meine Mutter hat einen Stromanschluß bekommen, sie hat fließend Wasser, sie hatte das nie zuvor.« Das ist ein Mann, der Redakteur einer großen Zeitung war und jetzt ein angesehener Korrespondent und Moderator ist. »Was sagen Sie dazu«, fragte er seine Gäste. Und ein Kommentator, ein Akademiker, sagte: »Ja, aber das sind alte Geschichten, die Leute wollen neue Nachrichten.« Wenn Sie nach Sandton (Nobelstadtteil von Johannesburg, jW) fahren, beschweren sich die Leute über die ANC-Stadtregierung, weil es Schlaglöcher in ihren Straßen gibt. Aber wenn sie nach Soweto fahren, sagen die Leute: »Schau dir die Straßen an, die gebaut werden. Die hatten wir nie zuvor. Wir haben jetzt sogar Bürgersteige und Straßenlaternen.« Wen fragt man also, ob es Fortschritt gibt, oder nicht? Die Medien fragen die reichen Leute Sandtons.

Aber schafft die Regierung nicht auch selbst Illusionen? Ich erinnere mich an die Bergbauministerin Susan Shabangu, die immer strikt gegen Verstaatlichungen war, aber völlig schockiert reagierte, daß ein Privatunternehmen wie Amplats Menschen entlassen und die Abmachung, die sie vorgeblich mit der Konzernführung hatte, brechen kann. Kann man das politische Naivität nennen?

Ich weiß nicht, ob sie so naiv ist, oder ob sie nur so tut. Unser Land war naiv. Als wir die Apartheid besiegt hatten, die sich lange am Leben hielt, weil sie ihre Grenzen geschlossen hatte – Importkontrolle, Exportkontrolle, Devisenkontrolle, duale Wechselkurse und so weiter –, um die Apartheidwirtschaft zu schützen, haben die Banken, die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Großmächte gesagt: »Öffnet eure Grenzen, und wir werden euch helfen, euch zu entwickeln.« Ja? Heißes Geld fließt rein und raus. Direkt­investitionen? Nur wenn es Superprofite gibt. Wie macht man Superprofite? Man behält die Arbeitsbeziehungen der Apartheid bei: Massen von schlechtbezahlten Arbeitern und hochbezahlte Anteilseigner und Spitzenmanager. Das ist die Realität dieser Welt. Ich kann das nicht über Nacht ändern.

Wenn unsere Leute dazu bereit sind, dann können wir vielleicht von Sozialismus reden. In der Zwischenzeit bin ich wesentlich realistischer, ich habe eine Langzeitvision von dem, was mein Land sein könnte, und die teile ich mit vielen Leuten. Bis dahin will ich Fortschritt hin zu größerer Gleichheit sehen. Das bedeutet, daß die Gehälter schlechtbezahlter Arbeiter angehoben werden müssen und daß Regierungsminister, Generaldirektoren oder Staatssekretäre akzeptieren müssen, daß sie in den nächsten fünf Jahren keine Gehaltserhöhung bekommen werden. Und in der Zukunft wird sie winzig sein, damit wir diese Lücke schließen können und damit die Lebensbedingungen der ärmsten der Armen sich verbessern. Die Konsequenz wäre eine wirklich reiche Wirtschaft, denn arme Leute müssen alles ausgeben, was sie haben – für Kleidung, Essen, Schulbücher, Schuhe, Möbel oder den Ausbau ihrer Häuser. Ich habe viele Projekte kapitalistischer Natur auf dem Land gesehen wie beispielsweise bäuerliche Baumschulen. An einer Kreuzung entsteht plötzlich ein Dorf, mit Post, Banken, Geschäften – ein Zentrum, in dem das Leben viel besser läuft, weil die Leute ein wenig verdienen. Die Frage ist eine tief theoretische: An welchem Punkt in der Entwicklung einer Gesellschaft, die ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Traditionen hat, kann Kapitalismus mit staatlicher Intervention und Lenkung – es ist keine Freihandelsökonomie – progressiv sein? Ich denke, das gibt es. Und für mich ist das im Moment die einzig realistische Option.

Wenn Sie denken, daß die Forderung nach Verstaatlichungen unreif ist: Indonesien hat vor kurzem Exporte von Erzen verboten, Bauxit, Zinn und Kupfer sollen im Land weiterverarbeitet werden.

Sehr gut!

Könnte das ein Modell für Südafrika sein?

Wir haben schon so lange über Aufbereitung gesprochen, die Weiterverarbeitung, daß unsere Arbeitskräfte die Qualität und den Wert unserer Rohmaterialien steigern müssen, bevor sie exportiert werden. Man würde von einem Land wie China erwarten, daß es zustimmt, veredeltes Eisenerz zu kaufen, vielleicht Gußeisen statt Eisenerz, weil das unserer Wirtschaft helfen würde und seiner. Ich würde das gerne sehen. Mauretanien – um über Südafrika hinauszuschauen –, hat die Sklaverei abgeschafft, aber ein Drittel der Bevölkerung sind immer noch Sklaven. Die großen internationalen Fangflotten fischen ihre Fische, China, Korea und andere eingeschlossen. Sie haben landwirtschaftliche Flächen mit großen Agrarunternehmen übernommen und die Bauern vom Land vertrieben. Wie können Genossen sich so benehmen? Von Internationalismus reden und gleichzeitig das Volk eines anderen Landes zerstören. Wir müssen noch viel mehr erreichen, wenn BRICS (ein loses Wirtschaftsbündnis, jW) – Brasilien, Rußland, Indien, China und Südafrika – ein effektives Entwicklungswerkzeug werden soll. Wir brauchen echte Zusammenarbeit, um sicherzustellen, daß die Schwächsten im Interesse der gesamten Gruppe mit den Stärksten gleichziehen. Was mich fasziniert ist die Möglichkeit, daß das passieren kann.

Ist Südafrika mit seinen Mineralien nicht in einer starken Position? Das Land hat 80 Prozent der Platinreserven, ohne das kann man kein Auto bauen.

Nur wenn sie es von uns kaufen. Nigerias Wirtschaft ist jetzt ungefähr so groß wie die Südafrikas. In den nächsten 20 Jahren wird sie ziemlich schnell wachsen, das gleiche in Ostafrika. Momentan führt die Hauptimportroute ins südliche Afrika durch Südafrika. Aber die mosambikanischen Häfen werden wachsen und die weiter nördlich ebenfalls. Letztlich wird Südafrika über den Preis konkurrieren müssen. Wir müssen unsere Kapazität zur Aufarbeitung aufbauen, um nicht Rohmaterial zu exportieren. Darüber haben wir geredet und geredet, und dann prallen wir gegen die Gesetze der Welthandelsorganisation. Wir mögen es nicht, gegen Gesetze zu handeln, wirklich nicht. Wir dachten, die Agrarsubventionen der USA, Großbritanniens und der EU würden große Themen werden, aber dann haben sie entschieden, daß es andere Probleme in der Dritten Welt gibt, darum kümmert sich keiner mehr. Weil es keine Konkurrenz von außen gibt, wie von der Sowjetunion, keine Kontrolle.

Thabo Mbeki (Präsident Südafrikas von 1999 bis 2008, jW) hat gesagt, wir können nicht erwarten, daß die Industrieländer weiter für unsere Entwicklung bezahlen. Die afrikanischen Völker müssen selbst den Reichtum akkumulieren, die Infrastruktur schaffen, um das Leben der Menschen zu verbessern. Die Reichen werden uns nicht helfen. Sie investieren, aber sie ziehen Profite und Zinsen auf Kredite heraus und machen uns ärmer, nicht reicher. Wenn Sie zum Beispiel die Afrikanische Union (AU) nehmen: Die Hälfte ihres Budgets wird von den USA, Britannien, Frankreich und ich glaube auch Deutschland gestellt. Das bedeutet, daß die AU nicht unabhängig ist. Wenn sie Geld für ein Projekt ausgeben will, müssen die Geldgeber zustimmen. Das ist keine Unabhängigkeit, nicht im geringsten! Frankreich geht nach Mali, organisiert eine Konferenz und sagt der AU, daß sie teilnehmen muß. Die fragen nicht.

Es wird hart werden, und unsere Leute werden Opfer bringen müssen, um die Bedingungen für zukünftige Generationen zu schaffen. Arbeiter und Bauern zahlen den Preis der Entwicklung. Die Frage ist: Was passiert mit dem generierten Reichtum? Ich kann mich nicht damit anfreunden, arbeitende Menschen in Südafrika von der Idee zu überzeugen, Opfer zu bringen, Löhne nicht zu schnell anzuheben, wenn Unternehmen daraus einfach immer größere Profite ziehen und nicht der gesamten Gesellschaft nutzen.

Teil der Abmachung nach den Verhandlungen von 1990 bis 1994 war auch, daß die Großkonzerne sich an der Transformation beteiligen. Das haben sie nicht getan! Und um noch einmal auf Ihre Frage über Mandelas Tod zurückzukommen: Die Geisteshaltung ist: »Danke Madiba, du hast alles für uns getan, wir müssen nichts mehr machen.« Das ist die Tragödie.

Aber ist es überhaupt möglich, daß die Überschüsse der Gesellschaft nutzen, wenn man sich an die Regeln und Gesetze der globalen Finanzinstitutionen hält?

Meine Antwort ist nein. Und wir müssen dort, wo wir es können, mutig genug sein zu widersprechen. Das Problem ist: Wenn uns die Bestellungen von Rohmaterialien ausgehen, werden die, die investiert haben, ihr Geld abziehen. Diejenigen, die mit dem jetzigen System reich werden, werden gegen das System opponieren. Es geht nicht nur um Anweisungen der Regierung. Es bedarf der Unterstützung großer Bevölkerungsteile. Wie man die bekommt: argumentieren, überzeugen, Langzeitziele gegen kurzfristige Interessen stellen, durch die Macht des Volkes, durch populäre Proteste. Die Bedeutung von Nelson Mandelas Generation von Anführern lag darin, Leute mobilisieren zu können, ihre Unterstützung zu gewinnen. Das hat uns unsere Freiheit gebracht, und das ist es auch, was uns wirtschaftlichen Fortschritt bringen wird.

Es ist schwer, das in ein paar Worten zu sagen, Sie müssen mir vergeben. Aber ich will noch mal unterstreichen: Ich sehe keine sozialistische Revolution um die Ecke kommen. Die massiven Kräfte dagegen, innerhalb Südafrikas und weltweit, würden sie momentan sehr, sehr schwer machen. Das heißt nicht, daß es nie passieren kann. Aber ich wußte vom ersten Anfang an, daß es Generationen dauern würde, die Trennungen zwischen den Völkern unseres Landes zu überwinden. Generationen. Und das ist optimistisch. Danke für das Interview.

Interview: Christian Selz

* Aus: junge welt, Samstag, 1. und 3. März 2014


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