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Die verratene Revolution

Südafrika sind die Ideale der schwarzen Selbstbefreiung abhanden gekommen. 18 Jahre nach dem Ende der Apartheid warten die Menschen in den Townships noch immer auf den gesellschaftlichen Wandel. Doch die Hoffnung schwindet

Von Christian Selz, Ginsberg/Kapstadt *

»Schau doch«, sagt Rasta Zebulon auf die Frage nach den Problemen in seinem Stadtteil. Er richtet den Blick hinaus in die verregnete Leere vor seinem aus Wellblech und Spanholzplatten zusammengezimmerten Laden. »Die Leute sind jeden Tag betrunken, die Jugend ist auf Drogen, sie haben das Bewußtsein eines Biko verloren.«

Steve Biko war Studentenführer, Bürgerrechtler, Philosoph, Freiheitskämpfer und Kopf der südafrikanischen Schwarzen-Bewegung der 70er Jahre. Sein Name fällt oft, wenn schwarze Südafrikaner über die stockende Entwicklung ihres Landes und die lang ersehnte Befreiung ihrer Gesellschaft reden. »Wenn Steve Biko noch am Leben wäre«, fangen die Sätze dann an.

Auch Zebulons kleines Büdchen, trägt den Namen des Mannes, der nicht älter als 30 Jahre wurde. Im »Biko All-in-One Store« verkauft der Rastafari Gemüse, repariert Fernseher, flickt Schuhe und wäscht auf dem schlammigen Vorplatz die wenigen Autos, die es in Kapstadts Township Ginsberg gibt. Er schlägt sich so durch, wie eigentlich alle hier.

An einen der ewig wiederkehrenden Hügel in der bitterarmen Provinz Eastern Cape gelehnt, wirkt der kleine Ort wie das tausendste Duplikat jener ländlichen Schwarzen-Siedlungen nach Apartheid-Planmuster. Winzige, immer gleiche Wohnparzellen verteilen sich wie ausgesät über den Hang. Immerhin sind sie solide gemauert und nicht so dicht gedrängt wie die stetig wachsenden Wellblechhütten-Siedlungen der Metropolen Kapstadt oder Johannesburg, aber die Armut hat die Menschen darin mindestens genauso fest im Griff. Unten am Fuß des sanften Hangs verlaufen die Bahnschienen, dahinter liegt das kleine Industriegebiet und schließlich, fein säuberlich abgetrennt, das ehemals Weißen vorbehaltene Zentrum der Provinzstadt King Williams Town.

So weit, so zynisch, so normal. Doch in Ginsberg ist die Macht zementierende Architektur der Rassentrennung zumindest an einer Stelle durchbrochen. Wie ein gigantischer Fremdkörper erhebt sich der riesige Neubau des Steve-Biko-Zentrums am Ortseingang über die kleinen Häuschen. »Wir sind stolz, Biko als einen der Helden unserer Vergangenheit zu haben, dessen Andenken immer mit uns bleiben sollte«, sagte Südafrikas Präsident Jacob Zuma in seiner Eröffnungsrede am vergangenen Freitag. Aus Zuma spricht die Vereinnahmung der Person Biko, dessen Ideale sein African National Congress (ANC) nie verfolgt hat.

»Schwarzer Mann, du bist auf dich allein gestellt«, war eine seiner Parolen, die noch heute nachhallen. Befreien – so die Logik unter dem Druck der weißen Minderheitsherrschaft – könnten sich die entrechteten Südafrikaner nur selbst. Und so gründeten sie Kliniken, Stipen¬dienprogramme und Schulgärten in chronisch unterversorgten Gemeinschaften. »Die stärkste Waffe in den Händen des Unterdrückers ist der Geist des Unterdrückten«, schrieb Biko in einer seiner Kolumnen, die ihn schließlich das Leben kosteten. Das Black Consciousness Movement, das er begründete, ähnelte der Black Power Bewegung in den USA. Es konzentrierte sich auf die Stärkung des Selbstbewußtseins der Schwarzen und die eigenen kulturellen Werte zur Selbstbefreiung.

Biko starb vor 35 Jahren, gefoltert von der Sicherheitspolizei des weißen Apartheidstaats, auf der über 1000 Kilometer langen Überführung von Port Elizabeth nach Pretoria. Seine Peiniger hatten ihn trotz schwerer Kopfverletzungen einfach wie einen Tierkadaver auf die Ladefläche eines Pick-ups geworfen. Das Hauptstadtgefängnis erreichte er nur noch tot. Heute ist der Revolutionär so etwas wie ein südafrikanischer Che Guevara. In Kapstadts Township Gugulethu ist vor Kurzem eine Hauptstraße nach ihm benannt worden. Sein Konterfei schmückt T-Shirts, Anstecker und Poster. Seine Ideen, das ist alljährlich bei Ausstellungseröffnungen und auf Gedenkveranstaltungen zu hören, leben weiter. Doch sie sind zu einer ewig unerfüllten Vision verkommen, von der viele Südafrikaner zwar noch immer träumen, an die aber nur noch die wenigsten glauben. Auch hier in Ginsberg nicht, Bikos Heimatort.

Das Volk sabotiert sich

Südafrika, größter Sozialstaat des Kontinents, ist 18 Jahre nach Ende der Apartheid eines der Länder mit der weltweit größten Schere zwischen Arm und Reich. Das Bildungssystem kollabiert, mehr als jeder zweite Jugendliche ist unqualifiziert, arbeits- und perspektivlos. Die einst Unterdrückten sind seit 18 Jahren frei, doch ihr Bewußtsein scheint noch immer gefangen. »Wir sind ein verwundetes Volk, das sich selbst sabotiert«, sagt Mamphela Ramphele heute über ihre Landsleute. Die Ökonomin war neben Biko einst eine der prominentesten Aktivistinnen der Schwarzen-Bewegung. Später wurde sie Weltbankdirektorin. Die Ursache sieht sie im »unterdrückerischen, diskriminierenden System der Vergangenheit« und ihrer vernachlässigten Bewältigung. »Das Erbe dieses Systems ist viel tiefer verwurzelt als wir erkennen wollen. Es hat das Selbstbild der Menschen und ihren Selbstrespekt beschädigt. Dazu leben sie in einer Realität sozio-ökonomischer Hindernisse, verursacht durch mangelnde Bildung, nicht akkumuliertes Kapital und die fehlende Selbstsicherheit, da ohne Unterstützung und Hilfe der Regierung rauszukommen.« Doch davon, die Grausamkeiten der Apartheid noch immer als Alleinschuldigen vorzuschieben, ist Ramphele weit entfernt. »Wir haben eine Regierungspartei, die dominant ist und sich noch immer wie ein Opfer fühlt«, sagt sie in Richtung ANC.

Das Wort der zierlichen Frau hat Gewicht in Südafrika. Auf ihrer cremefarbenen Couch im großen Wohnzimmer der eleganten Villa in Kapstadts nobelstem Strandvorort Camps Bay wirkt sie fast verloren. Doch ihre Stimme ist so gewaltig, durchdringend und unermüdlich wie der Atlantik, der tief unten hinter der großen Glasfassade gegen die Granitfelsen der Kap-Halbinsel rollt. »Wenn Sie sich das postkoloniale Afrika anschauen«, holt Ramphele aus, »die Länder, die von Befreiungsbewegungen geführt wurden und in der Flaute endeten: Das Hauptthema dieser Regierungen, wann immer sie angegriffen wurden, war, das Opfer zu spielen. Das ist ein sehr bequemes Mittel. Sie geben den Imperialisten die Schuld. Sie geben den Rassisten Schuld.« Keine Frage, die einstige Freiheitskämpferin, die inzwischen in etlichen Aufsichtsräten großer Konzerne sitzt, aber mit zivilgesellschaftlichen Organisationen noch immer für die lange verschobene Selbstbefreiung der ehemals Unterdrückten kämpft, hätte sich mehr erwartet vom neuen Südafrika. »Das ganze Befreiungsprojekt ging nicht nur darum, weiße Gesichter durch schwarze Gesichter in den Union Buildings zu ersetzen«, sagt sie mit einem zynischen Wink an Südafrikas Regierungssitz. »Es sollte eine radikale Transformation sein.«

Die Leute verlieren den Fokus

Wer sich in Ginsberg umschaut, kann nur feststellen, daß der Wandel ausgeblieben ist. Den Friedhof, auf dem Steve Biko beerdigt ist, überwuchert hohes Gras. Am 12. September 1997, seinem 20. Todestag, drei Jahre nach den ersten freien Wahlen in Südafrika, hatte ihn der örtliche Bürgermeister zum »Steve-Biko-Garten der Erinnerung« umbe¬nannt. Die schwarze Steinplakette, die das für die Nachwelt festhält, schließt mit einem Biko-Zitat: »Es ist besser, für eine Idee zu sterben, die leben wird, als für eine Idee zu leben, die sterben wird.« Vor dem Hintergrund schiefer Grabsteine und bis zur Unkenntlichkeit zugewachsenen Wegen klingt das sarkastisch. Doch Ginsberg hat andere Probleme. »Die Leute lungern rum, sie trödeln umher, viele haben ihren Schulabschluß außerordentlich gut absolviert, aber es gibt keine Stipendien«, klagt Boyce Mayade. Im Jogging-Anzug schlurft er an Bikos Elternhaus mit der kleinen Gedenkbüste vorbei. Auf Biko angesprochen weicht die Tristesse des 47jährigen, der in der gleichen Straße wohnt, aufgeweckter Begeisterung. »Ich erinnere mich an ein Ereignis«, erzählt er hastig mit kindlicher Aufregung, »wir waren aus der Grundschule verjagt worden, weil unsere Eltern das Schulgeld nicht bezahlen konnten.« Biko habe die Rasselbande dann angehalten. »Er hat gefragt, warum wir nicht in der Schule sind. Er hat einen schokoladenbraunen Passat gefahren, das war sein Auto«. schwelgt Mayade in der Vergangenheit. »Er hat gesagt, wir sollen unserem Direktor sagen, daß er kommt – er kam und hat für uns alle bezahlt« Bikos Politik sei praktisch gewesen, »die Dinge, die er gesagt hat, waren nicht nur Rhetorik«. Biko habe eine große Lücke hinterlassen, »die die Regierung nicht füllt«, sagt Mayade. Dann schimpft er auf Präsident Zuma, der seine Beziehungen nur für sich selber nutze.

»Unsere Regierung heute ist noch immer kontrolliert, die Leute in der Regierung schauen auf zu denen, die uns kolonialisiert haben.« Auch der Kleinhändler Zebulon fühlt sich nicht heimisch im ANC, der in Ginsberg von jeher einen schweren Stand hatte. »Die Leute verlieren den Fokus auf sich selbst, die Leute leben noch immer so, daß sie benutzt werden, sie entscheiden nicht für sich selbst«, bricht es aus ihm heraus. Zebulon tänzelt zwar immer noch scheinbar unbewußt zu den Reggae-Klängen aus einem alten Kofferradio rhythmisch von einem Bein aufs andere. Doch er ist aufgebracht. »Die Leute sind noch immer gefangen – es ist das System, das alte System ist noch immer da«, schimpft er schließlich. Die Wortwahl ist nicht zufällig. Das »System« war für das Black Consciousness Movement immer der Apartheidstaat, die Unterdrückung, der Feind.

Doch ist dann auch von den Errungenschaften der Bewegung etwas übriggeblieben? Von den Idealen der Selbsthilfe, von den Schulgärten, die für die Versorgung der Kleinsten sorgten, den selbst-initiierten Gemeinschaftskliniken, oder von den Stipendienprogrammen, die, innerhalb der Gemeinschaft organisiert, den Zöglingen der Armen zu Bildung verhalfen? »Nein, absolut nicht«, sagt Mayade. »Wir mögen ja diese guten ¬Ideen haben, aber ohne Geld, was können wir da machen?« Es ist das alte Lied von der ökonomischen Befreiung, von der ungeklärten Landfrage und den nie durchbrochenen Wirtschaftsstrukturen im Südafrika. Nicht einmal das Gemüse, das Zebulon verkauft, wird in Ginsberg angebaut. Er muß es im Großhandel kaufen, der von den kommerziellen Farmern beliefert wird. In Südafrika sind das noch immer nahezu ausschließlich Weiße. Zwar hat die ANC-Regierung weitreichende Gesetze zur Ermächtigung von Schwarzen erlassen; es wurde ein Quotenreglement geschaffen, das Unternehmen die Einstellung von »vormals benachteiligten« Menschen vorschreibt. Der ANC hat Häuser gebaut, den Ausbau des Stromnetzes vorangetrieben und Wasseranschlüsse gelegt – doch er hat das Land weder versöhnt noch ausgeglichen. 18 Jahre nach Ende der Apartheid werden Neugeborene nach wie vor nach Rassen klassifiziert. Und statistisch gesehen hat ein weißes Kind noch immer fünfmal bessere Chancen, eine Hochschule zu besuchen, als ein schwarzes. Das ist die Realität auf der die Krise des schwarzen Selbstbewußtseins in der angeblichen Regenbogennation fußt.

Korrupt bis in den Kern

»Wir können von den Leuten in Walmer, in Zwide, in Khayelitsha nicht erwarten, daß sie sich an ihren Schnürsenkeln aus der Armut ziehen«, bringt Ramphele die Situation in den Townships auf den Punkt. Sie spricht von der nötigen »Umverteilung von Möglichkeiten« und daß »ein Weg gefunden werden muß, um massiv Ressourcen in die Gegenden zu pumpen, in denen die Menschen in elender Armut leben«. Südafrika müsse sich wieder zum Aufbau einer gerechteren Gesellschaft bekennen. »Wir brauchen eine Regierung, die sich öffentlich, privat und praktisch für diese gerechtere Gesellschaft engagiert – diese Regierung ist das nicht«, beschreibt die ausgebildete Ärztin das Dilemma. »Korrupt bis zum Kern« sei der ANC unter Zuma. Und Ramphele erzählt auch gleich, warum trotz allem in den einflußreichen, gebildeten Kreisen dagegen nicht wie zu Apartheidzeiten eine neue, starke Bürgerrechtsbewegung wächst: »Damals hatten die Leute Angst vor der Brutalität der National-Party-Regierung«, blickt sie zurück. »Und das war ja keine unbegründete Angst – die haben Leute verschwinden lassen, die haben Menschen umgebracht. Heute haben die Leute Angst, daß sie von Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Wenn du nicht Teil des inneren Kerns des ANC bist, bekommst du keine Geschäftsmöglichkeiten, du bekommst keine Staatsaufträge, du wirst nicht zu Auslandsreisen mit dem Präsidenten eingeladen. Die Angst ist heute die vor dem Entzug von Vorzügen. Die Wirkung ist die gleiche.«

Es ist grau geworden in Ginsberg, und das liegt nicht nur am schlechten Wetter. Ein paar Frauen ziehen auf der löchrigen Straße vor Zebulons Geschäft mit Supermarktplastiktüten bepackt gesenkten Hauptes durch den monotonen Regen. Neben ihren Einkäufen tragen sie die gleichen Probleme, wie überall Land auf, Land ab am Kap der Guten Hoffnung: Die hohe Arbeitslosigkeit, die fehlenden Perspektiven für die Kinder, die mangelnden Freizeit- und Kulturangebote und die enttäuschten Erwartungen vom besseren Leben nach der Apartheid. Zebulon hofft nun immerhin, daß das neue Steve-Biko-Zentrum den Menschen im Ort etwas helfen wird. Neben einem Archiv und einem Black Consciousness Museum bietet es der Gemeinde Aufführungsräume und erstmals auch ein öffentliches Medienzentrum. »Es wird nützliche Dinge bringen, die Kinder werden Zugang zu Computern haben und gebildet werden«, glaubt der 43jährige. Für Südafrika als Ganzes sieht die Zukunft dagegen längst nicht so rosig aus. »Unsere Regierung nach 1994 hat die Ideale der Revolution verraten.« Ramphele zieht mit abgeklärt ruhiger Stimme ein bitteres Fazit. Biko ist tot. Das System lebt.

* Aus: junge Welt, Samstag, 08. Dezember 2012


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